Im Spiegel
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Über dieses E-Book
Eine Parabel über Identität und Sinnsuche.
Katharina Gerwens
Geboren in Epe (jetzt Gronau in Westfalen). Nach ihrer Ausbildung zur Journalistin arbeitete sie in verschiedenen Verlagen und ist heute als Autorin, Texterin und freie Lektorin tätig. Katharina Gerwens lebt und arbeitet in Niederbayern. Mit ihren schrägen Kleinöd-Krimis (zusammen mit Herbert Schröger) startete sie als Autorin und hat seitdem zahlreiche Kriminalromane, die unter anderem in Westfalen und dem Bayerischen Wald spielen sowie Kurzgeschichten und Liedertexte für Udo Jürgens und Monika Martin veröffentlicht.
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Buchvorschau
Im Spiegel - Katharina Gerwens
Im Spiegel
Im Spiegel
Impressum
Im Spiegel
Obwohl Luise schon seit mehr als zehn Jahren in Lüneburg lebte, kannte sie die Ostsee nur aus dem Fernsehen und von Fotos. In ihrer Vorstellung gehörte die Ostsee zu Marie – schließlich war die damals nach Bad Doberan gezogen, quasi abgewandert in ihr eigenes kleines Reich, um ihrer Schwester den Rest der Welt zu überlassen, als seien sie Königinnen, die sich ihre Ländereien aufgeteilt und unsichtbare Grenzen gezogen hatten. Aber vielleicht bildete Luise sich das alles auch nur ein; denn sie hatten nie darüber gesprochen. Sie hatten überhaupt nie wieder miteinander gesprochen. Seit dieser Geschichte. Damals. Erst ganz nah beisammen – dann unendlich weit voneinander entfernt. Irgendjemand hatte mal behauptet, das sei das Gesetz des Lebens. Wenn man einen Ball weit wegwerfen wolle, müsse man ihn auch erst nah an sich heranziehen. Je stärker die Annäherung, umso mehr Kraft für den Wurf.
Der einen, also Marie, gehörte nun das Ostseeufer, der anderen standen alle übrigen Gestade sowie die restlichen Kontinente zu. Fair war die Aufteilung nicht, aber es war Marie, die diese Entscheidung getroffen hatte. Das dachte Luise oft, wenn sie an Hartmuts Seite am Nordseestrand wanderte oder barfüßig durch das Wattenmeer von einer Insel zur anderen marschierte; sobald sie einen Strand vor sich sah, dachte sie an ihre Schwester. Mit dem Gefühl des Mangels und einem Anflug von Schuld. Und immer hatte sie dabei das Bild von Scherben vor Augen. Zwei auseinandergebrochene Leben, die neu gekittet werden mussten. Natürlich wären die Bruchstellen weiterhin sichtbar und spürbar. Narben nannte man das wohl.
Bis vorhin hatten sie gerade mal zweihundert Kilometer voneinander entfernt gewohnt ‒ jedoch in unterschiedlichen Welten, wie auf Planeten, die sich fremd, wenn nicht gar feindlich gesinnt waren. Kompromisslos hatte Marie vor mehr als zehn Jahren die einst unzertrennliche Einheit durch ein höchstmögliches Maß an Distanz ersetzt, als sei das der Weg, um eine Art Gleichgewicht herzustellen, und nun, ebenso gründlich, die von ihr geforderte Distanz wieder aufgehoben.
Ausgerechnet jetzt, da Luise endlich bei sich angekommen war und sich ein eigenes Leben erobert hatte, war Marie gnadenlos in das Reich ihrer Schwester einmarschiert und hatte Luise daraus vertrieben.
„Nimm mein Leben, hatte sie ihr als Alternative angeboten. „Und mach verdammt noch mal das Beste daraus. Mach es besser als ich.
Jetzt stand Luise mit dem Gefühl, etwas streng Verbotenes zu tun, auf der gepflasterten Strandpromenade von Kühlungsborn, der längsten Strandpromenade Deutschlands. Allein zwischen Händchen haltenden Liebespaaren und älteren Damen und Herren, die wohlgenährte Hunde Gassi führten. Die Hunde sahen zwar so aus, als würden sie lieber zehn Meter weiter über den Ostseestrand tollen, aber das hochpreisige Schuhwerk ihrer Besitzer ließ derart verwegenen Eskapaden nicht zu und die Liebespaare hatten wie immer nur einander im Blick. Luise dagegen sah auf den Horizont und fragte sich, ob es hinterm Horizont tatsächlich weiterging, wie Udo Lindenberg mal gesungen hatte.
Zitternd, als würde ihr das Unbegreifliche erst jetzt bewusst, ließ sie sich auf eine der weiß lackierten Holzbänke am Rand der Uferpromenade fallen, holte ganz tief Luft und blickte dabei ängstlich um sich.
Alles, was schiefgehen konnte, war in den vergangenen sechs Stunden schiefgegangen. Sie hatte nicht eine Sekunde lang die Chance oder gar die Idee eines Auswegs gehabt, und das erfüllte sie mit einer unerträglichen Bitternis. Warum musste ausgerechnet ihr so etwas passieren?
Die Ostsee leuchtete silbrig-grau und schob geruhsam und rhythmisch ihre Wellen an den Strand. Luise zählte: sechs kleine und dann die größere siebte Welle, die intensiver und vorwitziger als ihre Vorgängerinnen den spätnachmittäglichen Strand eroberte und ihn mit Muschelfragmenten bestückte.
Luise merkte, wie das Meeresrauschen sie beruhigte. Zum ersten Mal seit Lüneburg gelang es ihr, einen klaren Gedanken zu fassen und erst jetzt fragte sie sich, vor was Marie geflohen sein mochte.
Das Meer gab sich gelassen, aber sie, Luise, steckte weiterhin in diesem Alptraum fest, der vor wenigen Stunden begonnen hatte, und der sie seitdem voll im Griff hatte.
Nirgends, dachte sie, waren Sonnenuntergänge so dramatisch, wie am Strand eines Meeres, und sie war froh, dass sie den heutigen nicht bewusst wahrgenommen hatte.
Luise lehnte sich an einen mit einem Vorhängeschloss verriegelten Strandkorb, beobachtete, wie die mit weißen Schaumkrönchen verzierten Wellen das Ufer leckten, schlang sich ihren langen Zopf um den Hals und hielt sich daran fest. Sonst war da ja nun auch nichts mehr, das ihr