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EU-Gipfel: 28 Höhepunkte Europas, auf die man stehen muss
EU-Gipfel: 28 Höhepunkte Europas, auf die man stehen muss
EU-Gipfel: 28 Höhepunkte Europas, auf die man stehen muss
eBook277 Seiten3 Stunden

EU-Gipfel: 28 Höhepunkte Europas, auf die man stehen muss

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Über dieses E-Book

Das Gipfel-Tourenbuch der Europäischen Union

Dieses Buch ist eine gewanderte, gekletterte Liebeserklärung an Europa und seine Erhebungen und Berge. Es nimmt „EU-Gipfel“ wörtlich, rettet sie vor der Vereinnahmung durch die Politik, holt sie raus aus Brüsseler Konferenzen und beschreibt sie wie sie sind: von sanft und niedrig bis hoch und wild.

Egal, ob er mit seiner Angst vor Bären im slowenischen Karst fertig werden muss, der Olymp sich seiner Besteigung mit einem Hagelschauer erwehren will oder er auf päpstlichen Spuren über die Südflanke des Mont Blanc klettert – Wolfgang Machreich erklimmt in jedem Mitgliedsstaat der Europäischen Union dessen höchsten Punkt. Dabei ist in manchen Ländern die Herausforderung diesen zu finden größer als hinauf zu steigen. Die einem Österreicher angeborenen alpinen Vorkenntnisse sorgen aber von den Azoren bis nach Zypern für den nötigen (Über-)Mut.
Machreich ist in den Bergen aufgewachsen, hat sich als Journalist seine Sporen verdient und ist seit 2010 Pressesprecher der Vizepräsidentin des Europaparlaments Ulrike Lunacek. Mit EU-Gipfeln beschäftigt er sich somit regelmäßig, hat aber auch jene 28 EU-Gipfel bestiegen, auf denen Bergfexe und nicht Politiker das Sagen haben.
Konsequent folgt Wolfgang Machreich seiner selbst gesteckten Aufgabe und berichtet humorvoll und hintergründig von der Vielfalt Europas und den traumhaften Aus- und Einsichten auf den Höhepunkten dieses Kontinents, die erst ein Blick von ganz oben zu zeigen vermag.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. Juni 2016
ISBN9783944365947
EU-Gipfel: 28 Höhepunkte Europas, auf die man stehen muss
Autor

Wolfgang Machreich

500 Jahre nach dem berühmten Weltumsegler Ferdinand Magellan macht sich der Journalist Wolfgang Machreich auf Erzähl-Reise um die ganze Welt. Die Kondition für diesen Globus-Marathon holte er sich bei den Touren für sein Buch „EU-Gipfel – 28 Höhepunkte Europas, auf die man stehen muss“. Die Expertise über die Welt im Großen wie im Kleinen erarbeitete er sich in 20 Jahren als Außenpolitik-Ressortleiter der österreichischen Wochenzeitung „Die Furche“ sowie als Pressesprecher im Europaparlament. Von Ost nach West folgt Machreich der Route und dem Motto Magellans: „Wer an der Küste bleibt, kann keine neuen Ozeane entdecken.“ Und beide zeigen auf ihre Weise, dass die Welt eine runde Sache ist.

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    Buchvorschau

    EU-Gipfel - Wolfgang Machreich

    1. Höhepunkt

    Møllehøj, 170,86 Meter

    Dänemark

    Abends Gourmet-Tempel, mittags Mozzarella-Kühe

    „Wer hat, dem wird gegeben werden; wer aber nicht hat, dem wird auch noch weggenommen, was er hat." Ungerecht. Stimmt. Doch so steht‘s in der Bibel und an diesen Satz musste ich denken, als ich mich auf meine Tour zum höchsten Dänen machte.

    Denn der höchsten Erhebung in Dänemark, die sowieso schon nicht sehr hoch ist, hat eine staatliche Kommission auch noch 1,58 Meter aberkannt und sie damit zur zweithöchsten abgestuft – mehr zu dieser Degradierung später, wenn wir vor Ort sind. Aber ich wollte von Anfang an keine Zweifel darüber aufkommen lassen, dass man es im flachen Dänemark mit den Höhen sehr ernst nimmt. In Anlehnung an eine folgenschwere Märchenfrage rätselt Dänemark gerne und schon lange und immer wieder aufs Neue: Wer ist der Höchste im ganzen Land?

    Dem Himmelbergjet, dem am schönsten gelegenen Gipfel wurde 1847 der Titel des Höchsten genommen, mittlerweile ist er mit seinen 147 Metern gar auf den 11. Platz in der Rangliste nach hinten gerutscht.

    Christine, eine Dänin, die im Europaparlament in Brüssel arbeitet, hatte mir bei einem Treffen in Kopenhagen geraten, ich solle doch die absolute Höhe absolut ignorieren und diesen Himmelberg bei Silkeborg ansteuern: Im Sommer könne man auf dem angeblich ältesten originellen Raddampfer der Welt den Fluss Gudenå entlang bis zum Berg schippern. Und die Aussicht von seinem Gipfel auf einen See mit Namen Juli (Julsø) sei wunderbar, viel schöner als von jedem anderen dänischen Hügel, sollten diese auch um einige Meter höher sein. Verlockend, doch auch wenn strahlender Sonnenschein für den nächsten Tag vorausgesagt wurde, ich durfte dieser Versuchung nicht nachgeben. Die EU-Gipfel mit der schönsten Aussicht besteige ich eventuell in einem zweiten Durchgang, jetzt will ich auf die höchsten, egal welche Ausblicke sie mir ermöglichen.

    Zu einer anderen Einladung ließ ich mich aber von Christine und ihren Freundinnen überreden. Eine in der Damenrunde war ausgefallen und ich hätte damit die „einmalige Gelegenheit", lockten sie mich, mit ihnen in Kopenhagen, bekannt für die feinsten Restaurants Europas, wahrscheinlich sogar der Welt, einmal exquisit Essen zu gehen.

    „Wie exquisit?", fragte ich vorsichtshalber.

    „Geranium, antwortete Christine und erwartete damit alles gesagt zu haben. Mein Stirnrunzeln bewies ihr das Gegenteil. Doch auch mit dem Hinweis: „Das zweitbeste nach dem Noma, konnte ich nichts anfangen. „Gehobene Küche halt", meinte Christine schließlich von derartigem kulinarischen Analphabetentum genervt und nannte mir eine Summe, mit der ich in Wien meine fünfköpfige Familie in eine Pizzeria einladen kann.

    Okay, dachte ich, wann bekomm ich schon wieder einmal eine einmalige Gelegenheit, und es ging mir so wie Udo Jürgens, wenn er im Lied „Griechischer Wein durch Vorstadtstraßen geht: „Ich hatte Zeit und mir war kalt, so trat ich ein ...

    Zuerst fuhren wir mit dem Bus an den Stadtrand, dann folgten noch zehn Minuten zu Fuß, am Fußballstadion des FC Kopenhagen vorbei und zum Geranium hinauf.

    So nobel wird das nicht werden – ein Lokal im achten Stock eines Stadionanbaus.

    So kann man sich täuschen.

    So schlittern andere in eine Sekte, ich war in einem Gourmet-Tempel gelandet.

    Dreieinhalb Stunden und ein 19-gängiges „Universe Tasting-Menü später verließen wir das Restaurant. Bei zwei Gängen hatte ich, und auch das eher pro forma, das Messer benutzt. Von Bekehrung konnte bei mir nach diesem lukullischen Hochamt keine Rede sein (by the way: allein die zum Menü gehörenden zehn Sorten biodynamischer Fruchtsäfte und Tees kosteten soviel wie meine Pizza-Familienrunde). Auch aus diesen pragmatisch-pekuniären Gründen bleibe ich ein für derartige Küchenliturgie byzantinischer Ausmaße völlig unempfänglicher Geschmacksheide oder wie es Udo auf den Punkt bringt: „In dieser Stadt werd‘ ich immer nur ein Fremder sein, und allein.

    Letzteres stimmt nicht ganz. Auch Christines Freundinnen waren von der Molekularküche nicht besonders eingenommen. Eine drückte mir später einmal, von einem abfälligen Gesichtsausdruck begleitet, eine euphorische Restaurant-Kritik in die Hand, die das Geranium bejubelte: „Die Geschmäcker, die so aufeinander treffen, sind mindestens originell, jedoch oft schlicht großartig und mit Sicherheit in ihrer spezifischen Kombination einmalig ... Unsere dänische Kollegin Christine, alle Feinschmecker und vor allem die am „Bocuse d‘Or mit Bronze, Silber, Gold ausgezeichneten dänischen und anderen Spitzenköche mögen verzeihen. Gerade in Kopenhagen kommt mir bei diesen Elogen das Hans Christian Andersen-Märchen von „Des Kaisers neue Kleider" in den Sinn. Und am meisten amüsiert mich, dass ich selbst 19 Gänge lang mitgespielt habe – und wünsche und gönne allen anderen von Herzen: Guten Appetit!

    „Frosty Flowers, Rhubarb & Thyme nannte der Küchenchef im „Geranium seinen vorletzten Gang. Den Geschmack der gefrorenen Rapsblüten in diesem Blumen-Potpourri hatte ich am nächsten Tag noch im Mund. Draußen flog das gelbe Meer der Rapsfelder an meinem Zugfenster vorbei, drinnen waren meine Geschmacksknospen noch immer vom kulinarischen Attentat der vergangenen Nacht benommen. Ich bestellte Bekanntes von der vorbeirollenden Minibar: schwarzen Kaffee und ein „wienerbrød". Zweiteres wurde mir zwar als typisch dänische Mehlspeise verkauft, aber null Risiko: Schaut so aus wie eine Golatsche mit Pudding und noch wichtiger, schmeckt auch so wie eine Golatsche mit Pudding.

    Der Tag hatte schon vorher perfekt begonnen. Die goldene Kugel an der Spitze des Riesenkarussells im Kopenhagener Tivoli glänzte von den ersten Sonnenstrahlen, als ich den vis-à-vis gelegenen Hauptbahnhof ansteuerte. Dann gleich die erste Überraschung: Ich hatte erwartet, den Sechs-Uhr-Frühzug an einem Sonntag für mich allein zu haben. Total daneben: Erst kurz vor der Abfahrt einsteigend, musste ich froh sein, überhaupt noch einen Sitzplatz zu bekommen. Kopenhagen ist nicht nur Feinschmecker-, sondern auch Party-Stadt, und die Nachtschwärmer nutzten meinen Frühzug als ihre Spätverbindung. Egal, wir fanden alle Platz, und abgesehen von ein paar Schmatz- und Schnarchlauten war es sehr schnell sehr ruhig im Waggon – und die Aussicht gehörte mir allein.

    Was mir bis zu dieser Zugfahrt von Kopenhagen nach Horsens nicht bewusst war: Dänemark ist ein Inselstaat. Neben der großen Halbinsel Jütland, der dänischen Fortsetzung Deutschlands Richtung Norden, zählt das Land noch weitere 406 Inseln. Von keinem dänischen Ort aus ist es weiter als 50 Kilometer bis zum Meer – da mussten ja zwangsläufig einmal so was wie Wikinger rauskommen. Mein Inselhüpfen mit dem Zug von der Insel Sjælland unter und über den Storebælt hinweg auf die Insel Fyn und weiter über die Brücke nach Jütland ist unvergleichlich eindrucksvoller als zum Beispiel die Fahrt mit dem Zug unter dem Ärmelkanal hindurch. Bei der Fahrt von der britischen Insel auf den Kontinent fährt man einmal in einen Tunnel hinein und auf der anderen Seite wieder raus. In Dänemark fährt der Zug jedoch (von Kopenhagen kommend) zuerst im Tunnel unter dem Meer, dann geht es mitten im Belt auf die kleine Insel Sprogø rauf und schließlich über die gut sechseinhalb Kilometer lange Storebælt-Westbrücke hinüber nach Fünen. Vor allem bei schönem Wetter eine Tunnel-Meer-Insel-Brücken-Hochschaubahn der Sonderklasse!

    Außerdem: Mit einer Höhe von 254 Metern gehören die Pylonen der Storebælt-Ostbrücke zu den höchsten Punkten Dänemarks – aber Bauwerke von Menschenhand gelten ja nicht in dieser Aufzählung. Darum fahre ich weiter nach Horsens – und je näher ich dem höchsten Berg Dänemarks komme, umso dringlicher wird diese Frage werden: Gilt für Gräber aus der Bronzezeit die gleiche Einschränkung wie für neuzeitliche Betonpylone? Die Antwort erfahren wir am Gipfel.

    In Horsens warte ich eine Stunde auf den Bus. Geographisch bin ich ungefähr auf der Höhe der Stadt Billund, besser bekannt unter dem Namen Legoland, aber Horsens liegt rund 50 Kilometer weiter im Osten an der Küste. Es ist Muttertag, neun Uhr vorbei, das Blumengeschäft hat schon offen, im Kaffeehaus wird noch geputzt. Umgekehrt wäre es mir lieber. In der Fußgängerzone begegne ich nur Frauen und Mädchen mit kleinen und großen Blumensträußen in der Hand. Dänische Männer schenken wahrscheinlich lieber Süßes.

    Horsens entstand während der Wikingerzeit und ist die Geburtsstadt von Vitus (Beringstraße) Bering. Das Pub am Vitus Berings Plads hat die Tür offen und ist trotzdem geschlossen, auch hier wird geputzt. Ich streune weiter Richtung Hafen, aus der Pfarrkirche tönt Orgelmusik und Kirchengesang. Schön. Meine Großmutter hätte heute ihren hundertsten Geburtstag. 1942, mit dreißig Jahren, hat sie zuerst ihren Bruder im Krieg und im Jahr darauf ihren Mann bei einem Arbeitsunfall verloren. Daraufhin ist sie nur wenig später gar nicht mehr in die Kirche gegangen, bloß noch auf den Friedhof und zum Grab. „Es gibt nicht nur eine Enge des Kummers, sondern auch eine Enge der Freude, hat der dänische Philosoph Sören Kierkegaard einmal gesagt. Ich spür an diesem Sonntag vor einer dänischen Kirchentür nur Weite. Die Sängerinnen und Sänger in der Kirche legen viel Herz auf ihre Stimmen, die mich durch die schwere Holztür und die roten Backsteinmauern hindurch berühren. „Beten heißt nicht sich selbst reden hören, sagte Kierkegaard dazu. In die Kirche hineingehen, mag ich nicht. Selten genug, dass ich einen offenen Himmel spüre, den soll mir kein Kirchendachstuhl zumachen. Nur gut, dass im Café und im Pub geputzt wird. Ich sollte öfter vor Kirchentüren stehen, nehme ich mir vor. Da kommt der Bus.

    Østbirk. Der Busfahrer lässt mich an einer Müllsammelstelle aussteigen. Altpapiercontainer, Altglasbehälter, die klassisch gelbe Tonne für Plastik – auch eine Art Zentrum in jenen Orten, wo es sonst kein Zentrum mehr gibt. Wohin soll ich mich wenden? Die größte Schwierigkeit bei den niedrigen unter den höchsten EU-Gipfeln ist, dass sie in der Landschaft sehr schwer auszumachen sind. Das mag auch der eigentliche Grund dafür sein, dass gerade auf den niedrigsten Gipfeln die höchsten Türme stehen. Diesem Phänomen werden wir, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in den kommenden Niedrig-Gipfel-Kapiteln immer wieder begegnen. In Østbirk, nach meinem ersten Ziel Ausschau haltend, hilft mir das aber gar nichts. Auf Yding Skovhøj steht kein Turm. Und die drei Grabhügel auf seinem Gipfel sind zu niedrig, um sie aus der Ferne zu sehen.

    Ich orientiere mich an einem Handymast in nördlicher Richtung, der über die Baumwipfel am Horizont hinausragt. Die Telefonnetzbetreiber werden sich bei diesem Standort ja was gedacht haben. Am Ortsende von Østbirk warten Bauparzellen für Einfamilienhäuser auf ihre Käufer. Ich steuere querfeldein über Äcker und Wiesen; so früh im Jahr brauche ich mich nicht zu fürchten, mir damit den Ärger der Bauern zuzuziehen, die Scholle liegt noch offen und ungeordnet da. Eine Bäuerin, die gerade ihr Pferd auf die Wiese schickt, bestätigt mir, dass ich mit dem Handymast als Peilpunkt richtig liege.

    Møllehøj-Wächterin vor dem Monument des dritthöchsten Dänenbergs

    Ich schlüpfe unter elektrischen Weidezäunen durch, stapfe durch das abwechselnd von Schafen, Kühen oder Pferden gestutzte Gras. Zu dieser Heideland-Idylle mag so gar nicht die Geschichte der Kimber und Teutonen passen, die hier von Jütland kommend, einst den Römern Angst und Schrecken einflößten und als „Furor teutonicus" verschrien waren.

    Auf den Äckern sind Traktorreifen-, Eggen- und Pflug-Spuren zu sehen; an diesem Sonnentag, bei diesem Vormittagslicht wirken sie wie mit einem breiten Pinsel gemalte Schwünge, die die Landschaft konturieren und nicht wie die Narben einer industrialisierten und mechanisierten Landwirtschaft. Dass mir der Himmel an diesem Morgen auch anders, blauer, saftiger, würziger, frischer und viel näher als für gewöhnlich vorkommt, ist wahrscheinlich ein physikalisches Phänomen und hängt mit der Nähe zum Meer zusammen. Von meinem spirituellen Ausflug an der Kirchentür beseelt, ist mir aber der deutsche Wanderer Jürgen von der Wense mit seiner Erklärung für solche Erlebnisse lieber: „Die Erde ist ein Stern, wir leben im Himmel!"

    Und ich komme dem Himmel über Dänemark immer näher. Einen Karrenweg entlang, an einer Christbaumzüchtung hinter Maschendrahtzaun vorbei gelange ich wieder auf eine Straße und an ein Straßenschild, das mir den Weg zum Yding Skovhøj zeigt. Nach einem Aufschwung führt ein Fußpfad links von der asphaltierten Straße weg 50 Meter in den Wald hinein. Drei Erhebungen, eine neben der anderen, lassen sich ausmachen. Der mittlere Hügel ist der höchste, habe ich mich Gottseidank vorher schlau gemacht, denn aus der Nähe wirken alle drei gleich niedrig. Jetzt bin ich oben. Christine hatte Recht. Die Aussicht wäre auf dem Himmelberg am Julsee schöner gewesen. Hier beschränkt sie sich auf Bäume und Sträucher sowie einen Hügel links und einen rechts. Ich stehe auf einem mit Laub und Gras bedeckten Erdwall und wundere mich nicht: Es sind oft die kleinen, die unscheinbaren Dinge, die die größten Streitigkeiten auslösen und die Sachlage verkomplizieren – so auch hier.

    Die Archäologie hat den Gipfelaufbau des Yding Skovhøj irgendwann einmal als bronzezeitliche Grabstätte identifiziert. Kann aber ein von Menschenhand errichteter Hügel als natürliche höchste Höhe eines Landes gewertet werden? Diese Frage beschäftigte die Dänen über Jahrzehnte und spitzte sich Mitte des vorigen Jahrhunderts auf das in Dänemark schon vorher bekannte „to be or not to be" zu. Am 12. Februar 1953 verkündete schließlich Niels Erik Nørlund, wissenschaftliche Autorität des Landes, Mathematiker, Astronom und Direktor des Geodätischen Instituts Kopenhagen, die Entscheidung: Der Grabhügel wurde als Regelverletzung im Höhenwettstreit gewertet. Ohne diesen schrumpfte der Yding Skovhøj aber auf 170,89 Meter zusammen.

    Die Yding-Gegner jubelten, denn damit wechselte der Titel des höchsten Bergs wieder zurück zu ihrem Favoriten, den gut drei Kilometer entfernten Ejer Bavnehøj. Nach damaliger Messung erreichte dieser 170,95 Meter, hatte also um 6 Zentimeter die Gipfelnase vorne. Ejer Bavnehøj war 1847 als Landeshöchster proklamiert worden. Diesen Anspruch hatten Ejer-Fans auf ihrem Berg mit einem zwölfeinhalb Meter hohen viersäuligen Monument aus 100.000 Ziegeln für alle Zeiten einzuzementieren versucht. Umsonst. Der gleiche Niels Erik Nørlund, der sich 1953 für Ejer Bavnehøj entscheidet (sein mathematisches Interesse galt übrigens der Theorie unendlicher Reihen!), hatte zwölf Jahre vorher, am 11. September 1941, Yding Skovhøj auf den Schild gehoben – auch damals schon in seiner Funktion als wissenschaftliche Autorität des Landes, Mathematiker, Astronom und Direktor des Geodätischen Instituts Kopenhagen. Eine Katastrophe, das 9/11 der Ejer-Fraktion. Jetzt hatten sie zwar ein riesiges Denkmal, aber keinen Berg mehr, der sich dieser Ehrung als würdig erwies. Aber die Ejer-Freunde gaben nicht auf und mit dem Downgrading von Yding Skovhøj 1953 erreichten sie ihr Ziel. Die Ordnung in Dänemarks Bergwelt schien wieder eingekehrt.

    Mitnichten, der Streit wogte weiter. Über Jahrzehnte. Chris Hammeken, Kommunikationschef des dänischen Umweltministeriums, Abteilung Karten- und Katasterbehörde (Kort & Matrikelstyrelsen), erzählte mir bei einem Telefongespräch von Mitbürgern, die Erde auf den von ihnen bevorzugten Berg schleppten, um diesen höher zu machen. „Der Engländer, der auf einen Hügel stieg und von einem Berg herunterkam heißt ein Film mit Hugh Grant in der Hauptrolle, der derartiges von einem Berg in Wales schildert. Während die Handlung dieses Films als größtenteils erfunden gilt, haben sich bis vor nicht allzu langer Zeit tatsächlich solche Szenen auf den Höhenzügen Südjütlands abgespielt. Chris bestätigte mir am Telefon, dass das Thema eine Frage nationalen Interesses geworden war, deren Beantwortung das Königreich spaltete. Was sich hier wie das Textbuch für ein Kabarett liest, ist den Dänen bitter ernst. „Das ist eine Frage unserer Kultur, es muss einfach korrekt sein, wir wollen ein richtiges Ergebnis, erklärte mir Chris das Warum dieses Disputs und: „Wir in Dänemark haben wenige Plätze über 100 Meter. Deshalb freuen uns unsere Berge vielleicht mehr als anderswo. Und dann ist es doch logisch, wenn wir wissen wollen, welcher der höchste ist."

    Dänisch logisch. Nachdem die Ergebnisse aus einer Messung 2002 noch immer keine endgültige Klarheit brachten und angezweifelt wurden, entschloss man sich in den Jahren 2004/2005 für eine neuerliche Untersuchung. Dazu wurde alles aufgeboten, was in der Szene Rang und Namen hat. Und die Experten des dänischen Umweltministeriums, des Geografischen Instituts der Universität Kopenhagen und des Dänischen Nationalmuseums kamen zu einem (jedenfalls bis dato) akzeptierten Ergebnis: Überraschung! Weder Ejer Bavnehøj mit 170,35 Metern, noch Yding Skovhøj mit 170,77 (ohne Grab!) sind die Höchsten. Møllehøj, ein Außenseiter, 200 Meter westlich von Ejer gelegen, steht mit 170,86 Metern ganz oben.

    Mein Weg vom Yding Skovhøj zum Møllehøj dauerte unwesentlich länger als das Lesen dieser Erklärungen, warum der und nicht dieser oder jener Berg jetzt die Krone des Höchsten trägt. Dies bitte nur sinnbildlich verstehen, denn den Gipfel des Møllehøj zieren ein Mühlstein und ein Jausentisch mit zwei Bänken. Møllehøj heißt übersetzt Mühlenhügel und bis 1917 stand an diesem Platz auch eine achteckige Mühle mit Zwiebeldach. Heute gehört die Anhöhe zu einem Bauernhof und ist Teil einer mit einem elektrischen Weidezaun abgegrenzten Wiese. Was gut ist, denn die Kuhherde auf dieser Wiese macht sich einen Spaß daraus, alle Wanderer persönlich zu begrüßen. Kaum war ich abgefertigt, stürmte die Herde

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