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Des Menschen bester Freund
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eBook343 Seiten4 Stunden

Des Menschen bester Freund

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Über dieses E-Book

Mörderin aus der Retorte - Ist Lydia ein Mensch? Nein, sie ist mehr. Sie ist besser. So hat sie ihr 'Vater' Carl Jannek geschaffen, ein exzentrischer Milliardär, für den buchstäblich alles möglich scheint. Als aber Janneks Leben vorzeitig von Profikillern beendet wird, holen seine Erben Lydia aus dem Tank, in dem sie entstanden ist. Und Lydia findet sich allein und komplett unerfahren in einer fremden, kalten Welt. Sie weiß unglaublich viel, aber sie kennt nichts. Nicht den Geschmack eines Cheeseburgers. Nicht den Klang von Musik. Und die Menschen schon gar nicht. Daher weiß sie auch nicht, was falsch daran sein sollte, Carl Janneks Bruder zu gehorchen, der ihr neuer 'Vater' geworden ist. Und dem Lydias übermenschliche Unterstützung nur zu gelegen kommt, um alle Hindernisse auf dem Weg zum Erbe eines unfassbaren Vermögens beiseite zu räumen.
SpracheDeutsch
HerausgeberGanymed Edition
Erscheinungsdatum18. Juni 2018
ISBN9783946223429
Des Menschen bester Freund
Autor

Fabian Elfeld

Fabian Elfeld schreibt seit seinem 16. Lebensjahr kreativ. Nach einer enttäuschenden Leseerfahrung dachte er damals, es könnte ja nicht so schwer sein, besser zu schreiben - und belehrte sich selbst eines Besseren. Lange Zeit schrieb er nicht zuletzt deshalb vor allem für die Schublade, bis er 2009 begann, seine Geschichten als Fortsetzungsromane neben vielfältigen Sachtexten in seinem Blog zu veröffentlichen.

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    Buchvorschau

    Des Menschen bester Freund - Fabian Elfeld

    Ausklang

    1. Auftakt

    Lydias Augen sind geschlossen, und doch sieht sie. Sie ist nach keiner denkbaren Bedeutung des Wortes bei Bewusstsein, und doch denkt sie. Sie hört auch, aber sie riecht nicht. Sie spürt Berührungen, aber die sind nicht echt. Ihre Gedanken sind nicht frei, sie entstehen nicht in ihr, sondern sie kommen von außen, und die Bilder, die sie sieht, kommen nicht über ihre Sehnerven.

    Sie lernt.

    Am Anfang lernte sie langsam, aber sie hat gelernt, schneller zu lernen, und jetzt ist sie beinahe bereit. Sie weiß nicht genau, für was, aber sie weiß, dass esbald so weit ist. Sie befasst sich mit komplexen mathematischen Beweisen, verschiedenen aktuellen kosmologischen Theorien, den Wirkungen exotischer Krankheiten auf den menschlichen Organismus, den Werken von Lew Tolstoi und modernen Fertigungstechniken für Kinderspielzeuge. Sie hört Vorträge, sie liest Bücher, sie sieht bewegte Bilder.

    Niemand weiß genau, was ihre Aufgabe sein wird.

    Nicht einmal ihr Vater oder sie selbst.

    Trotzdem ist sicher, dass kaum etwas von dem, was sie lernt, für ihre Aufgabe wichtig sein wird, wenn sie erwacht. Aber alles davon könnte eines Tages eine Rolle spielen. Außerdem hat ihr Vater sie nicht für eine bestimmte Aufgabe erschaffen.

    Das weiß sie.

    Er hat es getan, weil er es kann.

    Er hat es getan, um herauszufinden, was möglich ist.

    Und er war selbst überrascht von der Antwort.

    Sie ist sich aber sicher, dass sie eine Aufgabe erfüllen wird, wenn sie erwacht. Sie wird leben und ihrem Vater dienen. Sie erwartet das mit Anspannung, Unsicherheit und Freude. Ihr Verstand ist dem eines jeden lebenden Menschen weit überlegen. Sie weiß unsinnig viel.

    Aber sie hat noch nicht gelebt. Sie hat noch nie die Welt erfahren, wie sie wirklich ist. Sie hat Filme gesehen. Dokumentarfilme, Spielfilme, Western, Science-Fiction-Filme, romantische Komödien und Films Noirs, sie hat Horrorfilme und Fantasyfilme gesehen, aber sie weiß, dass sie alle nicht die Welt abbilden, wie sie wirklich ist. Oder jedenfalls nur teilweise und trügerisch.

    Lydia weiß, dass nur das Leben sie lehren kann, wie die Welt wirklich ist. Und wie sie selbst wirklich ist. Ob sie ihren Vater zufriedenstellen wird oder ob sie ihn enttäuschen wird. Ob er sie lieben wird oder verachten. Lydia freut sich auf ihr Leben, aber sie fürchtet sich auch ein wenig davor.

    2. Zwei Enden

    Viktoria Sorokin griff nach dem Telefonhörer, seufzte und ließ die Hand wieder sinken. Sie faltete die Hände vor sich auf ihrem Schreibtisch und schaute unzufrieden auf ihre Finger. Sie wusste nicht einmal genau, wen sie hatte anrufen wollen.

    Sie kontrollierte den Sitz der Glock in ihrem Halfter, die Statusmeldungen der Bewegungsmelder, der Fenster-, Tür-, Lüftungsschacht- und zahllosen sonstigen Sensoren des riesigen Anwesens und schließlich den Sitz des Kentknotens ihrer Krawatte. Alles tadellos. Natürlich war es ein gewisses Risiko, keine Clip-Krawatte zu tragen, aber sie hatte es allen ihren Leuten so vorgegeben. Carl Janneks Personenschützer konnten sich nicht kleiden wie Rausschmeißer in einem irischen Pub.

    Sie hatte im letzten Jahr einmal über diese speziellen Krawatten – anchor ties – nachgedacht, die wenigstens nicht umherflattern konnten, weil sie am Hemd festgeknöpft wurden, aber das auch wieder verworfen, aus dem gleichen Grund. Generell versuchte sie, die Standards des Secret Service zu übertreffen, statt sie nur einzuhalten, aber in diesem Fall musste sie sich bis auf Weiteres damit abfinden, Par zu spielen.

    Das schlechte Gefühl, das ihr seit fast einer Stunde keine Ruhe ließ, hatte ziemlich sicher nichts mit Krawatten zu tun. Falls es überhaupt mit etwas zu tun hatte. Die nervöse Gewissheit, dass etwas nicht in Ordnung war, überkam sie nach ihrer eigenen Statistik ungefähr alle sechs Wochen, und zwar ging an diesen Tagen jedes Mal auch tatsächlich etwas schief. Aber nur selten etwas, das über das normale Maß hinausging. Ob das Gefühl überhaupt etwas Signifikantes aussagte, konnte sie aufgrund der noch zu schwachen Datenbasis nicht abschließend beurteilen. Zumindest bestand Hoffnung, dass ihr auch heute wieder nicht der Himmel auf den Kopf fallen würde.

    Sie wählte eine nichtöffentliche Nummer im Hauptquartier der Unified Railroads Bank, einer Gesellschaft der CJ Finance Group, die wiederum eine hundertprozentige Tochter der Jannek Holdings plc war. Viktoria Sorokins Sicherheitskonzept basierte nicht auf Hoffnung. Sie zog die Tastatur ihres Computers zu sich heran und begann zu tippen.

    »Unified Railroads Bank zentrale Kundenverwaltung, Sie sprechen mit Denise Wallace. Wie kann ich Ihnen helfen?«

    »Sorokin, Leiterin Personenschutz Jannek Holdings plc, Autorisation Sigma Epsilon Phi 17801«, sagte sie langsam genug, dass Denise sie verstehen konnte, und schnell genug, um sie zu beeindrucken. »Ich schicke Ihnen just in diesem Moment eine E-Mail mit einer Liste von Kontonummern. Bitte senden Sie mir so schnell wie möglich die entsprechenden Umsatzlisten und analysieren Sie alle auf ungewöhnliches Verhalten, egal wann die letzte Analyse durchgeführt wurde.«

    »Es tut mir leid, Mrs. Sorokin, ich darf ohne die Zustimmung des Kontoinhabers keine Kontodaten herausgeben.«

    »Die Konten gehören sämtlichst Mitgliedern meines Teams. Sie werden die erforderlichen Einwilligungen in den jeweiligen Akten finden. Sollte eine fehlen, nehmen Sie bitte Bezug auf meine eben genannte Autorisation und wenden Sie sich an Ihren Teamleiter. Unverzüglich.«

    Denise Wallace zögerte nur kurz, bevor sie antwortete.

    »Selbstverständlich, Mrs. Sorokin. Sie werden die Informationen in spätestens zehn Minuten vorliegen haben.«

    »Wenn die IT das Problem mit dem Spamfilter inzwischen in den Griff bekommen hat«, brummte Viktoria, noch immer verärgert von der Diskussion, die sie gestern mit dem technischen Support geführt hatte. »Vielen Dank!«

    Sie trennte die Verbindung.

    Und wartete auf die Antwortmail der URB.

    Sie hob eine Hand zum Sprechknopf ihres Funkgeräts und ließ sie wieder sinken.

    Irgendetwas stimmte nicht.

    Aber sie kam nicht drauf.

    Und plötzlich wusste sie es. Kim hatte heute Morgen nasse Haare gehabt.

    Sorokin drückte die Schnellwahltaste für die Fuhrparkmanagerin. Bevor Patrizia ein Wort sagen konnte, kam sie ihr zuvor:

    »Befindet sich Kim Ji-Dings Fahrzeug mit dem Kennzeichen« sie musste kurz überlegen, »HTQJ7993 in der Garage? Eine dunkelblaue Corvette«, fügte sie sicherheitshalber hinzu, falls ihre Erinnerung sie doch trog.

    Viktoria Sorokin stand bereits, als Patrizia ihr antwortete: »Nein, befindet sich nicht in unserer Garage.«

    Kim liebte sein Auto. Sechs Jahre lang hatte er diesen Wagen abbezahlt. Er verbrachte seine gesamte Freizeit damit, ihn in Stand zu halten. Unter normalen Umständen hätte er davon erzählt, wenn etwas mit dem Wagen nicht stimmte.

    Einerseits konnte Viktoria sich schwer vorstellen, dass Kim so dämlich war, ein so offensichtliches Zeichen zu geben. Andererseits war es unbestreitbar ungewöhnlich, und er war heute dafür eingeteilt, Carl Jannek zu begleiten.

    Mit einer routinierten Bewegung prüfte sie erneut den Sitz ihrer Glock, während sie aus ihrem Büro ging und in den Lift trat. Kellergeschoss drei. Sorokin war seit Jahrzehnten in verschiedenen Bereichen tätig, die alle im weiteren Sinne mit Sicherheit zu tun hatten. Sie hatte gelernt, dass die offensichtliche Dummheit eines Fehlers ihn nicht weniger verdächtig machte.

    Umgehend setzte das flaue Gefühl ein, das durch die Abwärtsbewegung der Kabine ausgelöst wurde. Die Lifts in dem Gebäude wurden mit einer deutlich höheren Beschleunigung betrieben als gewöhnliche Personenaufzüge, aber für Viktoria dauerte es viel zu lange. Kurz erwog sie, Kim zu kontaktieren, entschied aber, dass die Gefahr, ihn damit zu schnellem Handeln zu drängen, größer war als die Chance, ihn durch die Warnung von seinem Plan abzuhalten, falls er denn tatsächlich einen hatte.

    Sie sah auf die Uhr und überprüfte noch einmal den Sitz der Glock. Sah wieder auf die Uhr. Und wusste sofort danach schon nicht mehr, wie spät es war. Die Kabine kam zum Stehen. Die Türen öffneten sich mit einem leisen Surren. Sorokin betrat den Korridor. Kim kam ihr bereits entgegen. Sein Blick war unstet und sein Atem beschleunigt. Seine Hände zitterten. Er blieb fast acht Meter vor ihr stehen.

    Es war zu spät.

    Für einen Moment fühlte sie sich, als würde ihr gleich schwindlig werden. Es war, als hätte ihr jemand einen Schlag in den Magen versetzt.

    Sie hatte noch nie jemanden verloren.

    Sie hatte noch nie versagt.

    Kein gutes Gefühl.

    »Wo ist Julius?«, fragte sie Kim.

    Julius war der Codename von Carl Jannek. Der schlanke kleine Asiate zuckte die Schultern und verzog sein Gesicht zu einer angestrengten Grimasse, die wohl ein Lächeln sein sollte.

    »Er hat uns rausgeschickt, weil er was mit Custer besprechen wollte.«

    Hätte stimmen können. Jannek tat das öfter. Sorokin glaubte trotzdem kein Wort. Sie bewegte ihre Hand in Richtung ihres Halfters. Kim tat das Gleiche. Kim zog seine Pistole und hob sie. Er schoss als Erster. Aber er war zu schnell. Zu angespannt. Die erste Kugel verfehlte Viktoria, wahrscheinlich nur knapp. Sie hörte, wie das Geschoss hinter ihr in die Wand einschlug. Sofort nach dem ersten Schuss drückte Kim noch einmal ab. Dieser Schuss ging nicht mal in die richtige Richtung.

    Kim war zu nervös. Viktoria nahm sich die Zeit, gründlich zu zielen. Sie war auch nervös und zwang sich gerade deshalb, langsam zu agieren. Natürlich trug Kim eine Schutzweste, deshalb zielte sie auf den Kopf. Als sie sicher war zu treffen, krümmte sie den Zeigefinger. Das Ergebnis war kein schöner Anblick.

    Sie rannte zu der Tür, hinter der Jannek und Custer sein mussten. Wahrscheinlich auch Pete, der zweite Begleiter heute. Sie fand sie. Alle drei lagen reglos am Boden, in einer einzigen großen Blutlache.

    ***

    Diane fühlte sich wunderbar frei und sehr zufrieden mit sich selbst. Auf ihrem Schreibtisch lag ein enormer Stapel fertig korrigierter Klassenarbeiten, und sie war stolz auf ihre Schüler.

    John Wahler hatte eine Zwei minus erreicht. Diane hatte immer gewusst, dass er es schaffen konnte, und offenbar hatte er nun endlich beschlossen, es zu versuchen. Er hatte Probleme, sich zu konzentrieren, aber er war einfallsreich und hatte eine Gabe für Improvisation. Bei ein paar Fragen hatte er offensichtlich die Antwort nicht gekannt, aber er hatte sich genug einfallen lassen, um trotzdem die meisten Punkte in ihrem Bewertungsbogen zu erwischen.

    Dianes gute Laune war der Grund, dass die entschieden zu laute Musik hinter der Tür mit dem geschmacklosen ironischen Jessica-Simpson-Poster sie nicht störte. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, die in Hot Pants und einem Bikinioberteil posierende Sängerin mit einem verächtlichen Blick zu bedenken, und trat einfach ein in das Zimmer ihrer Tochter.

    »Ronica«, rief sie über Jay-Zs Sprechgesang hinweg ihrer Tochter zu, »ich bin jetzt fertig, wir können los!«

    Oder war es gar nicht Jay-Z? Diane war mehr für Folk und Singer/Songwriter und hatte gelegentlich Schwierigkeiten, den Überblick darüber zu behalten, welche Rapper Ronica gerade bewunderte und welchen sie einen baldigen, aber langwierigen Tod wünschte.

    »Ey!«, rief ihre Tochter zurück, und als sie sah, dass Diane die ganze Bedeutungstiefe dieser Bemerkung nicht durchschaute, versuchte sie es noch einmal: »Ey! Hallo?« Diane hob ihre Arme in einer fragenden Geste. Ronica war offenbar verärgert, aber Diane wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte.

    Ronica drückte einen Knopf, der Lärm verschwand, dann schnitt sie eine Grimasse und seufzte. Sie trug ihre Lieblingsjeans, die aussah, als wäre sie einige Jahre lang auf einer Ölbohrplattform als Putzlappen benutzt worden, und einen Pullover, den man vor lauter Buttons und Flicken kaum sehen konnte.

    »Denk mal nach«, sagte sie.

    Diane grinste. Sie war zu gut gelaunt, um zu streiten.

    »Sag's mir einfach, ich komm nicht drauf.«

    »Sag mal, hast du geklopft?«

    »Oh.«

    »Ganz genau, oh. Und außerdem stehst du auf meinem roten Shirt mit den Drachen.«

    Diane blickte an sich hinab und sah, dass Ronica recht hatte. Schuldbewusst trat sie einen Schritt zur Seite.

    »Schäm dich. Jetzt gleich. Und ich kann leider nicht mit, ich hab noch was vor. Frag David. Bestimmt kann sein Spielkram auch mal 'ne Weile ohne ihn und Twitter hat er ja auf dem Handy.«

    Diane hob einen mahnenden Zeigefinger.

    »Die Experimente deines Bruders sind kein Spielkram.«

    Ronica schnaubte, fuhr sich mit einer Hand durch ihren Mopp von roten Haaren und verdrehte ihre hellblauen Augen.

    »Oh sicher, bestimmt wird er morgen eine makellose Theorie ›Von Allem‹ veröffentlichen und von einer Über-Nobel-Kommission zum ›Größten Wissenschaftler aller Zeiten‹ ernannt.«

    Diane vollführte eine Na-siehst-du-Geste.

    »Dann fange ich an, ihn ernst zu nehmen«, sagte Ronica. »Solange er nur zwei Flüssigkeiten zusammenkippt und guckt, ob sie die Farbe wechseln, ist das Spielkram.«

    »Und weißt du, manchmal wünschte ich mir, deine Freizeitbeschäftigungen wären ähnlich harmlos.«

    »Kein Deal. Und jetzt raus, ich will mich umziehen.«

    Diane hob eine Augenbraue und grinste ihre Tochter an.

    »Weißt du«, sagte sie langsam und genussvoll, »man sieht das Loch von deinem Nasenpiercing immer noch deutlich.«

    »Boah, weißt du, da macht man einmal einen Fehler!«

    »Ich sage es jetzt nicht. Aber du weißt, was ich meine.«

    Diane trat zurück in den Flur und versuchte es bei der nächsten – posterlosen – Tür.

    Diesmal dachte sie daran zu klopfen.

    Als sie auch beim zweiten Mal keine Antwort bekam, zuckte sie schließlich die Schultern – es war ihr Haus, verdammt noch mal – und trat doch einfach ein. David saß an seinem wie immer tadellos aufgeräumten Schreibtisch, mit dem Telefonhörer am Ohr. Er trug eine Cordhose und ein hellblaues Hemd, das er bis zum Kragen zugeknöpft hatte. Seine hellbraunen Haare waren zu einem perfekten Rechtsscheitel frisiert. Manchmal fragte Diane sich, ob er und Ronica wirklich verwandt waren.

    »Na gut«, sagte er gerade, »wie ist es denn dann nächste Woche? Weißt du noch nicht. Na ja, aber vielleicht können wir da ja ... Ja. Ja, klar, ich meld mich dann einfach noch mal, ja? Gut. Ja, tschüss dann, und viel Spaß am Wochenende.«

    Er steckte den Hörer zurück in die Station und drehte sich zu Diane um. »Findest du nicht, dass ich vielleicht auch ein kleines bisschen Privatsphäre verdient habe?«, fragte er sie.

    Er wirkte nicht ärgerlich, aber das tat er eigentlich nie. Ronica war in der Familie fürs Temperament zuständig.

    »Es tut mir leid. Du hast nicht geantwortet, und da dachte ich mir ...«

    »Dass ich nicht da bin?«

    »Na ja, nein, ich weiß ja, dass ...«

    »Dass ich zu beschäftigt bin, um dich reinzubitten? Ja, ergibt voll Sinn, dann einfach so reinzukommen.«

    Diane schnitt eine Grimasse und streckte ihm die Zunge heraus.

    »Kommst du mit zum Strand oder nicht?«, fragte sie.

    »Hat Dad dir mal gesagt, dass du Konflikten nicht immer einfach ausweichen solltest?«

    »Ich kann auch alleine fahren.«

    »Na, Dad hat dir ganz bestimmt gesagt, dass du das nicht tun sollst. Du weißt, dass du die schlechteste Fahrerin in ganz Kalifornien bist. Und das heißt schon was.«

    »Wir könnten bei dem Spaziergang gerne stundenlang über dein enormes Bedürfnis nach Privatsphäre sprechen, und darüber, dass du vielleicht eher eine Chance hast, ein Date zu bekommen, wenn du zumindest den obersten Knopf aufmachst.«

    »Ich würde ja mitkommen«, sagte er ganz ernsthaft. »Aber ich treffe mich heute Abend mit Tasha.«

    Tasha. »Das ist die, die nur so tut, als hätte sie dich gern, weil dein Großvater reich ist?«

    David nickte.

    »Dir ist klar, dass manche Menschen der Meinung sind, dass das ein Grund sein könnte, weniger Zeit mit ihr zu verbringen?«

    Er zuckte die Schultern.

    »Sicher. Viele Leute glauben auch, dass Nostradamus die Zukunft vorausgesagt hat, oder dass Vitamin C gegen Krebs hilft.«

    »Ich finde schon, dass das was anderes ist.«

    »Tasha ist doch nett, oder?«

    »Ja. Also. Na ja. Ja. Aber darum geht es doch jetzt gar nicht.«

    Er sah sie an und schwieg, bis sie die Lust verlor.

    »Schon gut. Viel Spaß und sei um Mitternacht wieder zu Hause«, sagte sie. Dann dachte sie noch einmal nach. »Vergiss das. Hab Spaß und schau nicht auf die Uhr. Wir sehen uns schon irgendwann wieder. Und mach in Gottes Namen den Knopf auf, ich krieg Atemnot von dem Anblick!«

    »Klar.«

    Er zuckte die Schultern.

    Diane stapfte die Treppe hinunter zu ihrem Auto. Mark musste sie gar nicht fragen, der konnte den Strand im Winter nicht ausstehen. Sie würde auch alleine ihren Spaß haben.

    Sie stieg in ihren Wagen und fuhr rückwärts zur Straße. Sie konnte gerade noch rechtzeitig anhalten, bevor sie zum dritten Mal in diesem Jahr den Briefkasten umfuhr. Das Ding stand aber auch sehr ungünstig. Ohne weitere Zwischenfälle gelangte sie bis zum Great Highway.

    Der permanente Stau, der in San Francisco den anderswo üblichen Straßenverkehr vertrat, schien heute weniger dicht als sonst. Es sah aus, als könnte sie Lands End in unter einer Stunde erreichen.

    Diane glaubte nicht an die Stauwarner-App, die Mark vor jeder längeren Autofahrt konsultierte. Sie hatte noch nie erlebt, dass jemand dadurch Zeit gespart oder einen Stau vermieden hätte. Sicher, im besten Fall wusste man eben vorher, dass man zwei Stunden lang vor der Golden Gate Bridge herumstehen würde, aber was nützte das? Die einzige ernstzunehmende Möglichkeit, einen Stau zu vermeiden, war, nach Nebraska zu ziehen. Oder Kansas.

    »Lesen du musst, wenn eine Nachricht du hast«, sagte Yodas Stimme aus ihrem Telefon.

    Sie fummelte ihr uraltes Handy aus der Tasche. Eine Nachricht von Ronica: ›Hey Mom, du bist doch sicher noch nicht weit. Kannst du zurückkommen und mich doch mitnehmen? Tut mir leid, dass ich so fies war.‹

    Diane lächelte. Und bremste gerade noch rechtzeitig vor der roten Ampel, um nicht auf den Pick-up vor ihr aufzufahren. Das war knapp. Sie drückte auf ›Antwort‹ und versuchte, sich auf die linke Spur zu drängeln, damit sie hier wenden konnte. Die nächste Kreuzung war weit weg. Hinter ihr hupte jemand. Oder neben ihr, sie konnte das Geräusch nicht so genau orten.

    ›Klar, bin gleich da‹, schrieb sie.

    Und hatte den Spurwechsel geschafft. Die Ampel sprang auf Grün, sie legte den Blinker um, kurz bevor sie abbog. Sie war viel zu sehr mit ihrem Telefon beschäftigt, um den schweren Truck zu bemerken, der ihr entgegenkam. Außerdem war die Kreuzung wirklich sehr unübersichtlich.

    ›Vergiss nicht, dich warm ...‹, schaffte sie noch zu tippen, bevor der Truck sie rammte.

    ***

    »Pfffsch ... Ähmmm ...«

    Manchmal fragte Mark sich, wozu er Psychologie und Medizin studiert hatte. Steve Woyzcek behauptete zwar oft und gerne, dass Marks Qualifikation einen enormen Vorteil für das Management darstellte, aber er selbst hatte eigentlich nicht das Gefühl.

    Er stützte das Kinn auf die Hände und starrte hinunter auf den Schnellhefter, der aufgeschlagen auf dem großen marmornen Konferenztisch in Woyzceks protzigem Büro lag. Der Mann ekelte sich vor gar nichts. Er hatte einen Pollock an der Wand hängen, direkt neben einem neoklassischen Gemälde, Hauptsache teuer. Er hatte einen offenen Gaskamin, der per Schalter entzündet werden konnte und zum restlichen Design des Raumes ungefähr so gut passte wie eine Ritterrüstung oder eben das neoklassische Gemälde. Irgendwann würde Mark herausfinden, von wem es stammte, um besser drüber nachdenken zu können. Er hatte Woyzcek mal gefragt, aber der wusste es natürlich auch nicht.

    Nicht, dass irgendetwas anderes zusammengepasst hätte. Der Konferenzraum war ein beeindruckender Versuch, die optimale Synthese aus enormem finanziellem Aufwand und erbärmlich schlechtem Geschmack zu schaffen.

    Mark arbeitete lange genug hier, um diese Tabelle voller Zahlen und merkwürdiger Symbole verstehen zu können, die da vor ihm lag. Das Problem war auch nicht, dass er sie nicht hätte interpretieren und Schlüsse daraus ziehen können. Das Problem war, dass er Tabellen hasste. Er konnte sie nicht ausstehen, er verabscheute jede Art von Berechnung, und ihm war jede einzelne Sekunde seiner Statistikvorlesungen an der Universität zuwider gewesen.

    Er hasste auch Steve Woyzcek, aber das war ein zweitrangiges Problem. Manchmal konnte er sich einreden, dass seine Einsichten in die Arbeit des menschlichen Verstandes ihm zumindest Möglichkeiten zeigten, seine Gefühle zu kontrollieren und sich von solchen Ärgernissen nicht in Frustration und Untätigkeit treiben zu lassen.

    Manchmal. Auf der anderen Seite war auch nicht alles an der Arbeit schlecht. Einzelne Aspekte gefielen ihm sogar. Und das Geld war natürlich überhaupt nicht schlecht.

    Mark lebte nicht nur für Geld, aber er fand es doch sehr angenehm, genug davon zu haben, um nicht nur erfreulich angenehm leben, sondern sogar noch einen angemessenen Betrag als Altersvorsorge zurücklegen zu können.

    Da Diane sich für den nicht außerordentlich gut bezahlten Beruf einer Lehrerin entschieden hatte, würden sie sich sicherlich in vielerlei Hinsicht einschränken müssen, falls er beschließen sollte, wieder eine Praxis zu eröffnen. Nicht dass es an der Nachfrage nach Psychiatern gehapert hätte, aber Selbstständigkeit war einfach ein höheres Risiko, und zumindest am Anfang würde er sicher erheblich weniger verdienen.

    Und Diane hatte eine klare Entscheidung getroffen, Lehrerin zu bleiben. Aus ihrer Perspektive war Geld nicht so wichtig. Mark war unter anderen Bedingungen aufgewachsen und konnte sich nicht von der Furcht befreien, irgendwann einmal zu wenig davon zu haben.

    »Sieht so aus, als hätte Bob es nicht ganz geschafft«, sagte Mark, weil er das Gefühl hatte, dass es Zeit wurde, etwas zu sagen. Und wenn nur, um zu signalisieren, dass er über die Tabelle und die enthaltenen Zahlen nachdachte statt über die Rollenverteilung innerhalb seiner Familie und die Prägung, die ihre jeweilige Kindheit bei Diane und ihm hinterlassen hatte.

    »Sehe ich auch so«, stimmte Steve zu.

    Er sah Mark an und wartete offenbar auf weitere Ausführungen. Mark war schon gespannt, auf welche abwegige Weise Steve versuchen würde, seine Expertise in dieses Gespräch einzubeziehen. Steve war sehr stolz auf seine Idee, einen Psychiater ins Team geholt zu haben.

    »Wir haben ihm ja von Anfang an gesagt, dass es eine Totgeburt wird. Kein Mensch interessiert sich für neue Suchmaschinen, und nicht mal ich hab verstanden, was an seinem Konzept besser sein sollte als Google.«

    Steve seufzte und schüttelte den Kopf, während er mit seinem sagenhaft protzigen Mont-Blanc-Füllhalter herumspielte. Mark konnte nicht erkennen, ob seine Enttäuschung Bobs Versagen galt oder Marks Unfähigkeit, ihre wirklichen Gründe zu durchschauen. Er war sich ziemlich sicher, dass Steve das so wollte.

    »Das ist natürlich ein Problem«, sagte Steve.

    Was er meinte, war: Es ist aber nicht der eigentliche Grund. Mark hatte eine Weile gebraucht, bis er herausfand, dass man für ein bedeutungsvolles Gespräch mit Steve Woyzeck den tatsächlichen Inhalt seiner unvollständigen Bemerkungen für sich selbst ergänzen musste. Inzwischen war er ziemlich gut darin.

    Steve sagte: »Ich habe ihm gesagt, dass er es versuchen soll, weil er mich überzeugt hat. Ich stehe immer noch hinter der Idee. (Hinter Bob stehe ich aber vielleicht nicht mehr so unbedingt.) Ich weiß, dass er es schaffen kann. Seine Idee war gut. Und er gibt sich große Mühe. (Aber das reicht natürlich nicht).«

    »Ich spreche mit ihm«, schlug Mark vor.

    »Mach das. Er ist wirklich ein guter Mann. (Es wäre echt schade, wenn ich ihn rauswerfen müsste)«, meinte Steve.

    »Ich glaube immer noch, dass wir uns mehr auf das Webdesign und den Support konzentrieren sollten«, sagte Mark. »In diesem Bereich ...«

    »Entschuldigen Sie ... Doktor Dallows?«, kam Rachels Stimme aus der Sprechanlage.

    Er drückte auf den Sprechknopf.

    »Ich bin hier.«

    »Doktor Dallows, hier ist ein Lieutenant Barx von der Polizei, der mit Ihnen sprechen möchte.«

    Polizei. Mark dachte kurz nach, ob ihm ein Grund einfiel, der Lieutenant Barx zu ihm führen könnte. Was hatte Ronica getan? Hoffentlich nichts Ernstes.

    »Worum geht es denn?«

    Eine kurze Pause. Dann knackte der Lautsprecher wieder und Rachel antwortete:

    »Er möchte mit Ihnen persönlich sprechen, Doktor Dallows.«

    Dann war es vielleicht wirklich etwas Ernstes. Er warf einen kurzen Blick zu Steve. Der tat so, als hätte er von dem ganzen Gespräch gar nichts mitbekommen und blätterte in seinen Unterlagen, als wäre er allein.

    »Ich komme.«

    Vor Rachels protzigem Marmortresen standen zwei Personen, die kaum unterschiedlicher hätten sein können. Wenn Mark nicht so besorgt gewesen wäre, hätte ihn das Bild bestimmt schmunzeln lassen.

    Die Frau schien eilig aus grobem Holz geschnitzt, mit einem kantigen, ausdruckslosen Gesicht und ungewöhnlich breiten Schultern. Sie war bestimmt zehn Zentimeter größer als Mark, der selbst kein Zwerg war. Sie stand in ihrem schwarzen Anzug starr wie ein Standbild und schien nicht einmal zu atmen. Ihre schwarzen Haare waren mit Pomade oder einem ähnlichen glänzenden Schmierkram zurückgekämmt und in ihrem rechten Ohr steckte ein Knopf, von dem aus ein dünnes durchsichtiges Kabel in ihren weißen Hemdkragen spiralte. Sie trug eine teure, schmale Sonnenbrille.

    Der Mann war deutlich kleiner als Mark, ungefähr das gleiche Format wie die zierliche Rachel. Er stand unruhig, wippte hin und her, fuhr sich mit einer Hand durch seine unordentlichen Haare, die offenbar schon einige Friseurbesuche übersprungen hatten. Auf einen flüchtigen Blick wirkte er mit seinem jungenhaften Gesicht, als wäre er erst Anfang Zwanzig, und dennoch musste er Lieutenant Barx sein. Mark war sich ziemlich sicher, dass Polizisten üblicherweise keine Knöpfe in ihren Ohren trugen, und der schwarze Anzug der kantigen großen Frau war offenkundig eine Maßanfertigung, während die verknitterte hellgraue Jacke des zierlichen Mannes an den Ärmeln sichtbar über den Daumenansatz hinausragte. Der jugendliche Eindruck, den er vermittelte, wurde dadurch noch verstärkt. Polizisten trugen üblicherweise keine Maßanzüge. Außerdem hatte Rachel gesagt, dass ›er‹ mit Mark persönlich sprechen wollte.

    »Mister Dallows!«, rief der Jüngere etwas zu laut und eilte Mark um den Tresen herum entgegen. »Entschuldigen Sie, Doktor Dallows«, fügte er hinzu, während er Mark seine Hand entgegenstreckte.

    »Schon gut, ich bestehe nicht auf dem Doktor«, erwiderte Mark. »Sie sind Lieutenant Barx?«

    »Ja, genau.« Er nickte heftig.

    Die Hand des Polizisten

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