Rückwärtsläufer oder Die Kunst, einen Morro zu besteigen: Erzählungen
Von Wilfredo Lange
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Über dieses E-Book
Erzählungen von ungewöhnlichen Menschen, tragischen Existenzen unserer Gesellschaft in ihrem Leben zwischen Traum und Wirklichkeit.
Wilfredo Lange
Wilfredo Lange, aufgewachsen in Nordfriesland, blickt auf sieben Jahrzehnte seines abenteuerlichen Lebens zurück: Stauer am Lübecker Hafen, Tellerwäscher in Stockholm, Schweißer in Nordfrankreich, Dolmetscher in Marseille, Taekwondoka (Schwarzgürtel) am Rhein und Barpianist an der Algarve. Dazwischen Linguistik- und Jurastudium in Hamburg, Wien, Straßburg und Saarbrücken. Nach dem Studium Handelsblatt-Redakteur in Düsseldorf und Budapest, Anwalt in Düsseldorf und Buenos Aires, Lektor an der Univ. of Maryland und Professor an der Universität Duisburg. Der Autor ist verheiratet mit der Ungarin Katalin Irányossy, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Düsseldorf.
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Buchvorschau
Rückwärtsläufer oder Die Kunst, einen Morro zu besteigen - Wilfredo Lange
Mir selbst gewidmet.
Alle Personen in den Geschichten sind fiktiv.
„Att åldras är som att bestiga ett berg. Man blir andfådd, men får en mycket bättre utsikt." (Ingmar Bergman)
INHALT
RÜCKWÄRTSLÄUFER
Axthiebe an der Tür
Bruderzwist
Black Friday
Blick zurück im Zorn
Träume
Die Wahrheit, nichts als die Wahrheit
Night in Tunisia
Sechs Highlandfarben
Totentanz mit Mussolini
DER TAG, AN DEM ICH STARB
My Heart Belongs to Daddy
Ein Loch, tiefer als die Hölle
Die Kunst, einen Morro zu besteigen
Eisbein im Bavaria
NUR EINE GUTE FREUNDIN
Blonder Engel
Rozentals Edomo
Jaife im Autokino
GLOSSAR
RÜCKWÄRTSLÄUFER
Axthiebe an der Tür
In jener Nacht schneite es schwere, nasse Flocken, und jemand versuchte mit einer Axt die Eingangstür zu zertrümmern, aber dann war es doch keine Axt, sondern nur der Türklopfer, ein großer Totenkopf aus schwarzem Gusseisen, den ich vor einiger Zeit auf einem Flohmarkt in Antwerpen gekauft hatte.
Ich schaute aus dem Fenster: Nichts zu sehen in der Dunkelheit, nur die Rücklichter eines Autos, das sich entfernte.
- Ich geh mal nachgucken, sagte ich zu Laura, nahm die Achtunddreißiger aus dem Uhrenkasten, schaltete die Außenbeleuchtung ein und öffnete den Sichtschutz. Draußen ein junger Kerl in einem hellen Dufflecoat: groß, schlank und mit dunkelblondem, sorgfältig nach hinten gekämmtem Haar.
- Was ist?, wollte ich rufen, aber da ich keine Sprechanlage habe, sagte ich kein Wort, sondern legte die Kette vor und öffnete die Tür einen Spalt.
- Ich bin Adrian Pesci, sagte der Bursche auf Englisch und lächelte unbekümmert. Tut mir leid die späte Störung, aber es war schwer, hierher zu finden, ihr wohnt sehr einsam. Sogar der Taxifahrer hat sich zweimal verfahren.
- Okay, meinte ich, und nun?
- Schwer, das so zwischen Tür und Angel zu besprechen.
Der Junge lächelte weiter, freundlich und irgendwie vertraut, so dass ich die Pistole in die Gesäßtasche steckte, die Türkette löste und ihn hereinließ.
- Da bin ich aber gespannt, sagte ich. Was gibt‘s für ein Problem?
- Ich komme aus New York, sagte der Junge, Queens.
- Interessant, meinte ich, da ist immer lausiges Wetter.
- Ja, das ist sprichwörtlich in New York, meinte er. Mal zu heiß, mal zu kalt, mal zu trocken, und mal regnet es wie verrückt. Aber lassen Sie mich zur Sache kommen!
Er schaute sich um, etwas unsicher, wie mir schien, so dass ich spontan auf die Ledersessel gleich hinter der Tür wies. Wir setzten uns und ich konnte sein Gesicht aus der Nähe betrachten: große dunkle Augen, eine hohe Stirn und markante Wangenknochen.
- Also schieß los, ermunterte ich ihn, während Laura im Hintergrund stand und die Ohren spitzte.
- Okay, sagte er und überlegte. Da bin ich also: Ihr Sohn.
- Mein Sohn? Du machst Witze.
- Ich habe gewusst, dass Sie zweifeln, meinte er, und so griff er in seine Innentasche und legte einen Stapel Fotos auf den Tisch, die zeigten ihn zusammen mit einer dunkelhaarigen Frau beim Weintrinken auf der Terrasse, beim Tennisspiel, beim gemeinsamen Kochen, im Schwimmbad, beim Fratzenschneiden – all diese Dinge, die man immer auf Familienfotos zu sehen bekommt.
- Du und deine Mutter, nehme ich an.
- Richtig, er schaute mich prüfend an, mit einem Blick, wie ihn die Concierges in der Pförtnerloge haben. Sie heißt Graciela. Ihr wart damals zusammen, wenn ich das so sagen darf, und ich bin das Produkt.
- Guter Witz, wiederholte ich, und das um Mitternacht. Aber dann schaute ich noch einmal genau hin und erkannte sie wieder: Graciela, ein paar Jährchen älter zwar und mit einer dieser modischen Kurzhaarfrisuren, doch da waren ihre Wangengrübchen und die großen braunen Augen. Und was Adrian neben ihr anbelangte: Seine etwas breite Boxernase ähnelte der meinen, eine Nase, wie sie unsere Familie seit Generationen im Gesicht sitzen hat, und in seinen Adern floss das gleiche Blut, Blut, das dicker als Wasser ist, wie der Volksmund sagt. Dennoch – ich wollte es nicht wahrhaben. In Gedanken begann ich die Daten zu vergleichen und nachzurechnen, aber alles passte zusammen. Am Ende gab ich auf. Er war mein Sohn und ich sein Vater. Aber was bedeutete das schon? Für mich war er ein Fremder, ein Yankee aus New York, fremder als alle hier um mich herum: die armenische Taxifahrerin, der Fischmann vom Wochenmarkt, der Pferdepfleger von nebenan und der türkische Taekwondo-Trainer. Trotzdem erhob ich mich, quälte mir ein verlegenes Lächeln ab wie jemand, dem sie in der Tombola den Trostpreis überreichen, und ging auf ihn zu. Und als Adrian zu einem amerikanischen Shakehands ansetzte, übersah ich die ausgestreckte Hand, umarmte ihn in südländischer Manier mit beiden Armen, schlug ihm links und rechts auf die Schultern und küsste ihn pflichtgemäß auf beide Wangen. Und auch Laura, die alles mit angehört hatte, kam herüber, tat dasselbe und bot ihm spontan das Gästezimmer zum Übernachten an.
Wir haben dann noch eine Weile zusammengesessen, eine Flasche Mcduff getrunken, Holz ins Feuer geworfen und geredet: seine Zeit bei den Scouts, seine Spiele in der Soccer League, seine unglückliche Liebschaft mit einem Unterwäschemodel aus Puerto Rico und sein neuer Job an der Berkeley.
Und auch über seine Mutter sprachen wir. Sie lebte in der Bronx, zusammen mit dem Zahnarzt Jorge Ramírez und einem schwarzen Labrador, und wie Jorge zog sie Zähne, und manchmal füllte sie sie mit Gold und setzte zu allem Überfluss noch eine Krone drauf. Von mir hatte sie nie erzählt, und Adrians Besuch hier bei uns – das war ganz allein seine Idee, der Ruf des Blutes, wenn man so will.
- Ich werde ihr schreiben, sagte ich, da gibt es viel aufzuarbeiten.
Bruderzwist
Der Ruf des Blutes, hatte er gesagt. Da musste er auch seinen Bruder Jonas kennenlernen. Jonas war Offizier und wohnte in der Soldatensiedlung auf