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Dunkelwald: Kriminalgeschichten aus dem Erzgebirge
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Dunkelwald: Kriminalgeschichten aus dem Erzgebirge
eBook226 Seiten3 Stunden

Dunkelwald: Kriminalgeschichten aus dem Erzgebirge

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Über dieses E-Book

Mystisch ist es, das Erzgebirge. An manchen Tagen sind die Wälder nebelverhangen, und in der Nacht geschehen die geheimnisvollsten Dinge. Ausgehend
von deutschen Sagen, verknüpft Anett Steiner legendäre Überlieferungen mit der schaurigen Gegenwart voller mordlustiger Zeitgenossen.
Was hat es mit der "Mordgrube" bei Freiberg auf sich? Spukte es wirklich im Schloss des Dichters Joseph von Eichendorff? Was erzählen uns die Irrlichter über dem Hochmoor von Hormersdorf, und was steckt hinter der Geschichte des "Schwebenden Fräuleins"? Natürlich darf auch ein Gespinst um
die Magie von Bernstein nicht fehlen und geht die "Todfrau" auf den Seiten dieses Buches um. Warum färbt sich die Elbe blutrot, wenn man den Fährmann
nicht bezahlt? Und was geschieht, wenn der Tod sich irrt oder jemand vom Kraut des Vergessens isst?
In Dunkelwald gibt es Fabelhaftes zu entdecken. Hexen, Zwerge, verwitterte Grabkreuze, da kommt niemand ohne Gänsehaut davon …
SpracheDeutsch
HerausgeberBild und Heimat
Erscheinungsdatum19. März 2018
ISBN9783959587631
Dunkelwald: Kriminalgeschichten aus dem Erzgebirge

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    Buchvorschau

    Dunkelwald - Anett Steiner

    www.bild-und-heimat.de

    Irrlichter

    »In unserem Garten liegen Tote vergraben.«

    »Vielleicht Meerschweinchen, Kaninchen oder Katzen. Das ist so auf dem Land.«

    »Tote Menschen.«

    »Du redest Unsinn, Mutter. Zweifellos bist du müde. Ich bring dich ins Bett.«

    »Ich will nicht schlafen.«

    »Und doch redest du Unsinn.«

    »Im Garten sind Gräber«, beharrte die alte Frau.

    »Gräber. Wie kommst du darauf um Himmels willen?« Ralf Lorenz, ihr Sohn, bemühte sich, den gereizten Ton in seiner Stimme zu unterdrücken. Er war nicht sicher, ob es ihm gelang.

    »Wie ich darauf komme? Der Irrlichter wegen.«

    »Mutter, bitte! Irrlichter! Was auch immer vor dem Fenster da draußen ist, du kannst es ja doch nicht sehen. Und jetzt bringe ich dich ins Bett.«

    Eine halbe Stunde später ließ Ralf Lorenz sich müde in den Sessel sinken, in dem seine Mutter Frieda die Tage verbrachte. Sie saß gern am Fenster und starrte blicklos in die Welt, sie war so gut wie blind, das Glaukom war zu spät erkannt worden. Oder Frieda war zu stolz gewesen, zu einem Arzt zu gehen. Ihr Leben lang hatte sie sich mit Naturheilmitteln und Kräutern selbst verarztet und kein gutes Haar an den Weißkitteln gelassen, die ihren Mann seinerzeit nicht retten konnten. Lungenembolie. Ebenfalls zu spät erkannt.

    Frieda Lorenz hatte vor wenigen Wochen ihren fünfundachtzigsten Geburtstag gefeiert und ihr Sohn war bemüht gewesen, die wenigen noch lebenden Freunde und Verwandten aus ganz Deutschland zu versammeln, um ihr eine schöne Feier zu ermöglichen. Seine Mutter war eine gepflegte Rentnerin, die gern betonte, dass sie durchaus noch alle Tassen im Schrank hatte. Regelmäßig ließ sie ihr Haar in jenem eigentümlichen Lilaton färben, der alten Damen vorbehalten schien, und achtete sehr genau auf ihre Garderobe. Stets trug sie gutsitzende Kostüme und beinahe den gesamten Familienschmuck einschließlich der goldenen Brosche, die sie zum Siebzigsten von ihrem Sohn bekommen hatte.

    Die Entscheidung, mit dreiundsechzig Jahren wieder mit seiner greisen Mutter zusammenzuziehen, war Ralf Lorenz nicht leichtgefallen und doch unausweichlich gewesen. Friedas körperliche Konstitution versagte ihr ein selbständiges Leben, sie war auf seine Hilfe angewiesen, konnte nichts mehr sehen und kaum noch gehen. Sie in ein Pflegeheim zu geben war dabei nie in Betracht gekommen. Bisher hatte er jedoch keinen Grund gehabt, an ihrer geistigen Gesundheit zu zweifeln. Gräber im Garten, so ein Unsinn! Stand es schon länger schlecht um Friedas Verstand? Vielleicht hatte der Umzug in ihrem Alter doch zu viel Stress bedeutet.

    Ralf Lorenz stöhnte. Er rieb sich die Schläfen und versuchte, den Kopfschmerz zu ignorieren. Es war noch früh am Abend, und er konnte es sich nicht leisten, ebenfalls ins Bett zu gehen. Im Keller standen noch Dutzende Umzugskartons, um die er sich irgendwann kümmern musste. Die Arbeit wurde nicht weniger, auch wenn er doch eigentlich alle Zeit der Welt haben müsste, jetzt, da seinem Antrag auf Pensionierung stattgegeben worden war. In diesem Haus gab es noch eine Menge zu tun. Die neue Küche ließ seit Wochen auf sich warten, und auch das Schlafzimmer in der oberen Etage musste renoviert werden, damit er nicht dazu verdammt blieb, auf ewig in einem unaufgeräumten Büro zu schlafen. Nun, wenigstens hatte er die Räume seiner Mutter pünktlich zum Einzug hergerichtet.

    Da musste man erst das Rentenalter erreichen, um ein eigenes Haus zu besitzen, dachte er. Frieda hatte es sich gewünscht, einen Alterswohnsitz im Ort ihrer Kindheit: Hormersdorf im Erzgebirge, nunmehr ein Ortsteil der Bergstadt Zwönitz in Sachsen. Als die Entscheidung gefallen war, hatte Ralf Lorenz beinahe zwei Jahre nach einem geeigneten Haus gesucht. Ein Zweifamilienhaus wäre zu groß gewesen, und doch sollte das neue Heim zwei getrennte Wohnungen bieten, eine für die Mutter und eine für ihn. Das Häuschen an der Ecke Buchbergweg/Giftmehlweg hatte noch DDR-Standard, und Modernisierungsarbeiten waren unausweichlich, aber abgesehen davon war es perfekt. Bis auf den Garten, wie es schien. Denn der war in Friedas Augen voller Irrlichter und Gräber.

    Lorenz wandte den Kopf und blickte nun seinerseits aus dem Fenster in die Dunkelheit. Bei Tage war die Aussicht wunderschön, nichts stand dem Blick ins Hochmoor im Wege. Schon mehrmals war er dort spazieren gewesen, hatte die kleine Holzbrücke, den Knüppeldamm, überquert und das kleinste Hochmoor des Erzgebirges betreten. Und das nicht erst, seit er mit seiner Mutter nach Hormersdorf gezogen war. Er hatte immer in den Ortschaften der Umgebung gewohnt: Thalheim, Brünlos, nur einmal hatte es ihn für kurze Zeit nach Chemnitz verschlagen, doch das anonyme Stadtleben war nichts für ihn gewesen. Frieda jedoch hatte die letzten fünfundzwanzig Jahre in ihrer Wahlheimat Leipzig verbracht. Woher der Wunsch gekommen war, am Ende nun doch aufs Land zurückzukehren, behielt sie für sich. Wahrscheinlich war ihr klar geworden, dass ihr auf ihre alten Tage nur das noch übrigblieb: zu ihrem Sohn aufs Land zu gehen oder in ein Altenheim. Also hatte sie sich für Anfang statt Ende entschieden: keine Mietwohnung in einem seniorengerechten Wohnblock, sondern ein eigenes Haus.

    Und dies galt es einzuräumen, dachte Ralf Lorenz und löste seinen Blick von der dunklen Fensterscheibe, in der sich sein eigenes Gesicht spiegelte, was ihn nicht sonderlich erfrischte. Dennoch sah er weniger müde aus, als er sich fühlte, fand er und stemmte sich aus Mutters Sessel. Unschlüssig blieb er eine Weile reglos auf der Stelle stehen. Lust zum Renovieren hatte er an diesem Abend nicht mehr und auch die Kartons konnten warten. Also löschte er das Licht, stieg die Treppe nach oben und legte sich in seinem unaufgeräumten Büro auf das provisorische Bett.

    »Was gedenkst du wegen der Toten in unserem Garten zu tun?« Frieda wirkte frisch und ausgeschlafen, ihre Hand mit der Kaffeetasse zitterte kein bisschen.

    Ralf Lorenz knurrte etwas Unverständliches, während er auf seinem Marmeladenbrötchen kaute.

    »Sprich deutlicher«, mahnte die alte Dame, und Lorenz verdrehte die Augen.

    »Was meinst du denn, was ich tun sollte?«, fragte er und dachte bei sich: Leichen ausbuddeln, die du dir einbildest?

    »Du müsstest wissen, was zu tun ist. Schließlich bist du Polizist.«

    »Ich war es«, korrigierte der kürzlich pensionierte Hauptkommissar.

    »Das spielt keine Rolle. Du musst etwas unternehmen.«

    »Weil du angeblich Irrlichter siehst, obwohl du dein Augenlicht nahezu vollständig verloren hast, soll ich mich in wilden Aktionismus stürzen? Ich bitte dich, Mutter, hör auf damit.«

    »Nein, ich höre nicht auf. Irrlichter sind …«

    »… Aberglaube!«, unterbrach der Kommissar. »Den Tisch räume ich später ab. Ich bin im Keller bei den Umzugskartons, falls du mich brauchst.«

    Friedas Gerede machte Lorenz wütend. Und es machte ihm Angst, denn es konnte nur eines bedeuten: Seine alte Dame wurde senil. Friedas geistige Fähigkeiten ließen nach, und das erschreckend schnell. Gedankenversunken stieg er die Kellertreppe hinab und machte sich über die verbliebenen Kartons her. Geschirr, Pfannen, Töpfe – diese Kisten stapelte er in eine Ecke, und dort würden sie bleiben müssen, bis die neue Küche kam. Kleidung und Schuhe – auch das musste weiter in den Kartons ruhen, bis sein Schlafzimmer renoviert war und er dort einen Kleiderschrank aufstellen konnte. Und dann Bücher. Viele davon. Bücher aus seinem Besitz und Bücher aus dem Haushalt seiner Mutter. Früher hatte sie viel gelesen und mehrfach betont, dass dies das Schlimmste am Verlust ihres Augenlichtes war: nicht mehr lesen zu können.

    Was konnte er tun, um Frieda ihre wahnwitzige Überzeugung von Gräbern im Garten dieses Hauses auszureden? Er kannte seine Mutter. Sie würde keine Ruhe geben. Er dachte dar­an, wie sie nun oben wieder in ihrem Sessel saß, den leeren Blick in Richtung Fenster gerichtet, hinaus aufs Hochmoor.

    Es gab eine Verbindung zwischen Mooren und Irrlichtern, das hatte er irgendwo gelesen. Sicher war es das Wissen um das sumpfige Naturschutzgebiet unweit des Hauses, das Mutters Fantasie mit ihr durchgehen ließ. Immerhin wäre das eine Erklärung für ihr wirres Gerede. Jedenfalls wurden Irrlichter auch Sumpflichter genannt, und einen solchen gab es direkt hinter dem Grundstück. Und wenn man dann noch bedachte, dass den nächtlichen Leuchterscheinungen nachgesagt wurde, sie seien die Geister Verstorbener, dann waren Friedas Gedankengänge zu den Gräbern im Garten gar nicht mehr so abwegig, beruhigte er sich. Wissenschaftlich betrachtet, waren die Flämmchen biolumineszente Effekte oder entzündete Fäulnisgase … Gase, wie sie beim biologischen Zerfall von organischem Material entstanden – also auch beim Verwesen von Leichen … Er durfte nicht zulassen, dass er sich von Friedas Vorstellungen anstecken ließ!

    »Du musst nach Skeletten von Kindern suchen.«

    »Ich dachte, wir hätten das Thema abgehakt.«

    »Irrlichter sind die Geister ungetauft verstorbener Kinder.« Frieda ließ sich nicht beirren.

    »Und wenn schon. Ich glaube nicht, dass irgendwelche Leute ihre Kinder ausgerechnet in diesem Garten vergraben haben. Dafür gibt es Friedhöfe, Mutter. Gab es immer schon. Aber wer weiß, die erste urkundliche Erwähnung von Hormersdorf geht schließlich bis ins Jahr vierzehnhundertirgendwas zurück. Das ist eine lange Zeit. Vielleicht stand ja einst eine Kirche hier, wo jetzt unser Haus steht, und unser Garten war irgendwann in den letzten sechshundert Jahren mal ein Friedhof. Gut möglich. Wer weiß. Oder das Moor war einst viel größer und reichte bis hierher, und möglicherweise sind frühe Siedler darin umgekommen. Aber selbst wenn: Was kümmert es dich?«

    »Die Straße, an der dieses Haus steht, heißt Giftmehlweg …«

    »Meinetwegen!«, fuhr Lorenz auf. »Dann stand hier eben eine mittelalterliche Mühle, und der Müller hat das Mehl vergiftet, und einige Kinder des Dorfes sind vor Jahrhunderten daran gestorben. Andere dafür an der Pest. Wieder andere sind verhungert oder erfroren oder wilden Tieren zum Opfer gefallen, was weiß ich. Ich werde jedenfalls nicht anfangen, unseren Garten nach den Resten alter Siedlungen oder längst vergessener Friedhöfe umzugraben. Was sollte das auch bringen? Lass es gut sein, Mutter. Und wenn ich eines Tages nach etwas grabe, dann nach etwas Lohnendem wie zum Beispiel dem Bernsteinzimmer!«

    »Nach dem Bernsteinzimmer zu suchen lohnt sich aber ganz bestimmt nicht.« Frieda ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Und zwar aus dem ganz einfachen Grund, dass es seit dreizehn Jahren im Katharinenpalast bei Sankt Petersburg steht und alle Welt glaubt, es sei eine originalgetreue Nachbildung. Glaub mir, es ist das Original.«

    Lorenz fehlten für einen Moment die Worte für eine passende Erwiderung. In diesem Moment erschien ihm seine Mutter alles andere als senil. Diese Theorie lohnte es sich in jedem Fall zu durchdenken.

    »Wie kommst du darauf? Klingt interessant!«, gab er schließlich zu.

    »Lenk nicht vom Thema ab. Es geht um die Gräber im Garten.«

    Und schon ist der Moment geistiger Klarheit vorüber, dachte Lorenz.

    »Ich weiß, was du denkst.«

    »Was denke ich denn, Mutter?«

    »Dass es in meinem Oberstübchen nicht mehr klappt. Dass ich wirres Zeug rede. Dass ich Irrlichter sehe, obwohl ich gar nichts mehr sehen kann. Aber ich sehe sie eben. Es ist so.«

    »Gut. Du siehst sie. Wieso lassen wir es nicht dabei bewenden?«

    »Weil du etwas tun musst. Weil du herausfinden musst, wieso tote Kinder in diesem Garten liegen. Schließlich warst du Hauptkommissar und hast so oft Dinge herausgefunden. Dann werden die Lichter verschwinden und wir können in Ruhe unser Leben leben.«

    Unser Leben leben? Himmel, du bist fünfundachtzig Jahre alt Mutter, dachte Lorenz, was erwartest du noch? Im selben Moment zuckte er zusammen, dass es fast körperlich schmerzte, und schämte sich für diesen Gedanken.

    »Als ich Kind war, da hatte deine Großmutter ein Buch, aus dem sie mir manchmal vorgelesen hat. Ein Pfarrer und Chronist, Christian Lehmann, hat darin im siebzehnten Jahrhundert alte erzgebirgische Sagen aufgeschrieben. Ich erinnere mich genau an eine davon: Irrlichter bei Annaberg und Scheibenberg …«

    »Schon gut«, unterbrach er sie. »Du brauchst sie mir nicht zu erzählen. Gleich morgen werde ich mich um die Sache mit unserem Garten kümmern und ein paar Recherchen anstellen. Ich verspreche es.«

    Es nieselte, ein unangenehmer Wind kroch unter seinen Mantel, als Hauptkommissar Lorenz a. D. am nächsten Morgen das Haus verließ, um im Ortsarchiv zu recherchieren und dem Pfarrer einen Besuch abzustatten. Er wollte Einsicht nehmen in Sterbebücher und andere Aufzeichnungen, nur um auszuschließen, dass es ungeklärte Todesfälle von Kindern gegeben hatte. Die Aussage eines Pfarrers würde Frieda hoffentlich nicht anzweifeln.

    »In welchem Zeitraum wollen Sie suchen?«

    Zugegebenermaßen eine gute Frage. Lorenz hatte keine Ahnung, wie lange nach ihrem Tode Irrlichter als Geister im verblassenden Geist einer alten Dame herumleuchten konnten. Außerdem wollte er nicht ganze Tage damit verbringen, in staubigen Büchern zu blättern, und zugeben müssen, dass ihm das Entziffern der altdeutschen Schrift nur mühsam gelang.

    »Und was genau suchen Sie denn überhaupt?«, erkundigte sich die Archivarin.

    »Wenn ich das genau wüsste, hätte ich es leichter. Fangen wir mit dem Hochmoor an. Reichte es früher weiter in den Ort hinein? Sagen wir, bis zum heutigen Giftmehlweg?«

    Die Archivarin schlug eine sehr große Flurkarte auf, der Tisch reichte nicht aus, um sie aufzulegen. Lorenz half ihr, das Papier so zu falten, dass sie den relevanten Bereich auf der Tischplatte platzieren konnte.

    »In den vergangenen zweihundert Jahren hat sich die Einwohnerzahl von Hormersdorf verdreifacht. Allerdings glaube ich nicht, dass die Menschen ihre Häuser ins Moor hinein gebaut haben. Dafür waren sie zu abergläubisch. Irrlichter und …«

    Lorenz hob die Hand, um die Ausführungen der Frau zu unterbrechen.

    »Ich weiß. Vielleicht hat sich die Fläche des Moores ja auch verkleinert, und das sumpfige Gebiet ist ausgetrocknet und hat sich zurückgezogen?«

    »Zum Hochmoor hin steigt die Ortslage im Vergleich zum Huthübel, dem Steinberg und dem Kieferberg um gut einhundert Meter an. Ich halte das Austrocknen des Gebiets von den Außengrenzen her durchaus für möglich. Aber wenn Sie das genau wissen möchten, sollten Sie einen Geologen fragen. Ich könnte Ihnen eine Adresse in Thalheim geben, der Mann arbeitet in Freiberg an der Bergakademie.«

    »Das wird nicht nötig sein. Können Sie mir sagen, ob sich die Lage des Friedhofs im Laufe der Jahrhunderte verändert hat?«

    »Die Kirche befindet sich in der Ortsmitte und damit auch der Friedhof. Aber ich bin sicher, dass der Pfarrer dazu Auskunft geben kann.«

    Lorenz verabschiedete sich, machte sich auf den Weg zur Kirche und wiederholte dort seine Frage.

    »Einen früheren Friedhof in der Nähe des Hochmoors? Das kann ich mir nicht vorstellen«, erklärte der Geistliche. »Nur die Pestfriedhöfe lagen früher etwas außerhalb. Aber die Toten dieser Seuche im Jahre sechzehnhundertsechsundzwanzig hat man meines Wissens nach auf dem Pestfriedhof in Dorfchemnitz begraben.«

    Die Recherchen des Vormittags hatten Lorenz nicht weitergebracht. Mutter würde unzufrieden sein und ihre Forderung nach Aufklärung ihrer Wahrnehmungen verstärken. Also stattete Lorenz seinen Berufskollegen der Polizeidienststelle in Zwönitz einen Besuch ab. Doch auch dort waren keine ungeklärten Todesfälle von Kindern aktenkundig, jedenfalls nicht seit 1989, denn eine Menge Unterlagen und Aufzeichnungen aus der Zeit davor waren schließlich in den Wirren der Wende verschwunden … Ebenfalls Fehlanzeige.

    Der Nieselregen hielt an, der Wind nahm sogar noch zu und umso überraschter war Lorenz, als er bei seiner Heimkehr am frühen Nachmittag einen leuchtenden orangefarbenen Regenmantel vor seiner Haustür stehen sah. Die zierliche Person, die ihn trug, war darunter nämlich kaum wahrzunehmen. Geschickt jonglierte die trotz des widrigen Wetters gutgelaunte Gestalt eine hellblaue Kuchenschachtel.

    »Oh, da sind Sie ja! Gerade wollte ich wieder gehen. Ich dachte, es ist niemand zu Hause.«

    Lorenz’ Blick wanderte zwischen den geröteten Wangen der Frau und ihrer Kuchenschachtel hin und her.

    »Was kann ich denn für Sie tun?«

    »Ich hoffe, Sie halten mich nicht für überheblich, wenn ich mich als die gute Seele unserer Gemeinde bezeichne. Ich habe einen Kuchen gebacken, um Sie hier bei uns in Hormersdorf zu begrüßen, Sie wohnen ja schon eine Weile hier, ich wollte Sie aber erst in Ruhe ankommen lassen. Mein Name ist Veronika Blum!«

    »Ja, dann, also danke«, brummte Lorenz verlegen. Das Regenwasser aus der undichten Dachrinne über der Haustür tropfte ihm in den Nacken.

    »Vielleicht sollten wir reingehen?«, schlug Frau Blum vor. Unter ihrem Cape war sie gut vor der Nässe geschützt.

    »Warum nicht? Trinken wir Kaffee und probieren den Kuchen«, räumte Lorenz ein, dem nichts anderes einfiel, um sich aus dieser Situation zu befreien. Solche Tratschweiber gab es in jedem Ort, man tat gut daran, deren Unmut nicht auf sich zu ziehen.

    Zwei Stunden später hatte Lorenz eine Pfütze auf dem Parkett

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