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Bittere Bonbons: Georgische Geschichten
Bittere Bonbons: Georgische Geschichten
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eBook245 Seiten3 Stunden

Bittere Bonbons: Georgische Geschichten

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Über dieses E-Book

Nach siebzig Jahren als Teil der Sowjetunion, nach Bürgerkriegsjahren, Unabhängigkeitsbestrebungen und Krieg mit Russland wächst in Georgien heute eine neue Generation heran, die auch in der Literatur neue Töne anschlägt. Dreizehn junge Autorinnen nehmen uns mit auf eine Reise durch Georgien und geben uns Einblicke in ihr Land und seine Geschichte. Sie entwerfen teils üppige, teils verstörende, immer aber sinnliche Bilder, die im Sinne des magischen Realismus verschiedene Realitäten miteinander ins Spiel bringen – farbenprächtige Bilder von Lebensentwürfen einer Gesellschaft, die im Begriff ist, sich neu zu finden. Dabei changieren die Erzählungen zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, Wirklichkeit und Traumwelt, Stadt und Land, Gegenwart und Vergangenheit. Alle Autorinnen sind nach 1970 geboren. Sie umkreisen Aspekte des heutigen Lebens: Geschlechterbeziehungen, Sexualität, Familie, Selbstverwirklichung und Migration – und zeichnen damit ein facettenreiches Porträt ihres Landes.
SpracheDeutsch
Herausgeberedition fünf
Erscheinungsdatum1. März 2018
ISBN9783942374941
Bittere Bonbons: Georgische Geschichten

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    Buchvorschau

    Bittere Bonbons - Julia Dengg

    Quellen

    Nino Haratischwili

    DIESE WELT HABEN NICHT WIR ERFUNDEN

    Diese Welt haben nicht wir erfunden,

    diese Welt habe nicht ich erfunden.

    Die Welt, so erschaffen, um alles darin zu machen

    Und doch, nichts zu verändern.

    Alla Borissowna Pugatschowa

    Für Daria und mich bedeutete die Sowjetunion: die ständigen Trauermärsche und Beerdigungsprozessionen, wenn greise KP-Herren zu Grabe getragen wurden, Nelken überall, makabre Schauen, übertragen von allen Fernsehkanälen. Für uns bedeutete die Sowjetunion: die ewigen Sommerlager, die Pionierhalstücher. Die Teeplantagen, Imkereien und Kolchosen. Die weißen Strümpfe aus China, die Gobelins mit Jagdszenen an den Wänden, die Mischka im Norden-Schokoladenbonbons, die Estragonlimonade bei Lagidse. Der GAZ-13 unseres Großvaters, die bunten Plastilinklötzchen mit den Fröschen drauf, das gelbe Krja-Krja-Kindershampoo, die Start-Rasiercreme von Großvater, der Puder mit dem Katzenkopf, der im Badezimmerschrank lag und den wir nicht benutzen durften. Die Körperlotion Hygiene, das Parfüm Rotes Moskau von Stasia, das nach Altsein roch und Kopfschmerzen bereitete. Die geruchlose braune Waschseife, die auch wirklich Die Waschseife hieß.

    Es waren die braunen Schuluniformen aus Moskau, die für Wohlstand standen, und die identischen, aber gröber geschnittenen Uniformen, die man in Tbilissi herstellte, die alle die trugen, die keine Direktoren, Professoren und Kommissare als Eltern hatten. Es waren die dicken Frauen mit weißen Schürzen, die in Kantinen, Lebensmittelläden, Cafés und auf Hotelfluren und vor den Malzbiertanks saßen. Das Cao Sao Vang Golden Star Aromatic Balm, auch sogenannte Vietnamsalbe, Tigerbalsam, der so bestialisch stank, mit dem man sich einreiben musste, wenn eine Erkältung im Anmarsch war.

    Es waren die blau-weißen, dreieckigen Kefirpackungen, die Milch in Glasflaschen, beides zu kaufen in den Gastronoms der Stadt, die ansonsten nur ein recht überschaubares Angebot aufwiesen. Sowjetunion, das bedeutete leckere Kondensmilch, die wir heimlich schleckten, und eklige Fischkonserven. Der Tageskalender, der in jeder gutsozialistischen Küche hing, mit Rezepten für sozialistische Hausfrauen für jeden Tag, mit allen wichtigen sozialistischen Festen und Biografien, mit nützlichen, aber weniger sozialistischen Tipps für den Alltag: »Aloe Vera wirkt entzündungshemmend, wenn man …«

    Es waren die roten, mit dem Leninkopf versehenen Arbeits-, Renten- und Komsomolausweise, die Spiele, die solche Namen trugen wie Der Denker oder Der junge Uhrmacher, das begehrte Spiel Der junge Chemiker, um das Daria und ich uns ständig stritten. Es waren der Mann und die Frau, die je einen Hammer und eine Sichel umklammert hielten, das Erkennungszeichen fast jedes sozialistischen Films (wie der brüllende Löwe bei MGM).

    Es waren Tschiburaschka und Winnie Pu, den wir »Winy Puch« aussprachen, Figuren aus sozialistischen Zeichentrickfilmen, es waren die ätzenden Schneeanzüge, in die uns unsere Mutter im Winter packte und die man ganz ausziehen musste, wenn man pinkeln wollte, ebenso die kratzigen Wollstrümpfe. Es war der Mischa-Bär mit dem Medaillengürtel, das Maskottchen der Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau. (Dieser Bär lebte in Form von allen möglichen Spielsachen, auf Fahnen, Tellern und Tassen noch viele weitere Jahre nach der Olympiade in fast jedem sozialistischen Haushalt weiter.)

    Es waren die gelben Schigulis, die schwarzen Wolgas und die weißen Ladas. Die roten Plastiksterne, Sticker, die man sich an die Brust heften konnte, mit dem Foto von Lenin als Baby oder Kind. (Alter nicht wirklich definierbar.) Es waren die Schallplatten von Melodie und die Maxim-Kassetten, für die man viel Geld hinblättern musste. Die Gulliver-Bonbons und Kaugummis mit Kaffeegeschmack, die bekanntlich keinem einzigen Kind auf der Welt schmecken, da Kinder keinen bitteren Kaffee mögen. Es waren Plüschtiere aus schwerem, kratzigem Wollmaterial, bevorzugt Hunde oder Bären (ja, die Bären, immer wieder die Bären!), die nur mit großem Wohlwollen noch als Plüschtiere durchgehen können. Es war der Schmelzkäse Die Freundschaft und die Wackelpuppe Wanka-Stanka, die wie eine missglückte, hohle Matrjoschka aus Plastik aussah. Es war das köstliche Leningrad -Eis, zu festen Vierecken in goldenes Papier verpackt. Es war der russische Weihnachtsmann mit seiner roten Nase (ohne den Bierbauch eines Santas aus der Cola -Werbung). Es waren schwere Teekannen aus Blech und die heißbegehrten 8-mm-Kameras. Die bunten Unterhosen mit glücklichen Sportlern drauf oder mit den Wochentagen beschriftet. Es waren billige Broschüren mit Titeln wie: »Die Wahrheit über die amerikanischen Diplomaten«. Die grauen und meist kaputten Straßentelefone. Die Einkaufsnetze der Omas. (Aber die haben wohl alle Omas auf der Welt, Gott weiß, wo sie herkommen!)

    Es war Buchweizen und Frikadellen. Rosenmarmelade. Das indische Kaffeepulver. Jeansimitate von Mawin oder Lae. Blaubeige Schulranzen, Zahnpulver, Federhalter aus Plastik, Vasen mit Kremlmotiven, dünne grüne Schulhefte, auf denen »Schulheft« stand, Metro-Jetons mit einem M drauf, Tischtennis und Badminton im Sommer, schlechte Frisuren, der Kassettenrekorder Elektronika 302.

    Zigaretten der Marke Astra, die Stasia rauchte, und die georgische Kosmos (Darias und mein erster Zug auf der Schultoilette war eine Kosmos), elektronische Uhren, wenn man angeben wollte, der Abakus in den Läden und auf dem Markt, in der Schule, bei der Arbeit, Domino in schmalen, schönen, mit Perlmutt bezogenen Kästchen.

    Es waren die 36,50 Rubel für ein Flugticket nach Moskau. (Selber machten wir keinen Gebrauch davon.) Es war die Sendung Illusion, jeden Samstag im Ersten Georgischen Staatskanal, wo ausländische, manchmal zensierte, teilweise gekürzte Filme gezeigt wurden. Zum Beispiel Klassiker wie Ein Herz und eine Krone, bei dem Stasia immer feuchte Augen bekam, und Manche mögen’s heiß, bei dem Kostja aus vollem Herzen lachte, aber auch The Stunt Man mit Peter O’Toole und Barbara Hershey, den Daria und ich favorisierten. Es waren die Buskinos, Busse, die durch die einzelnen Stadtteile fuhren, wie Eiswagen klingelten, dann für geringes Geld meist Jugendliche aufsammelten und dort Liebesfilme zeigten. Ganz weit oben in den Top Ten der Buskinos stand natürlich die Angélique-Serie aus den 60ern. Daria und ich stritten uns ständig darüber, ob Unbezähmbare Angélique besser war oder Angélique und der Sultan. Danach erst folgten auf der Liste Der Graf von Monte Christo und die ganzen Bollywood-Streifen.

    Es waren die Kinos, wie das Apollo und das Kasbeg. Es war das Magazin Ogonjok, es waren illegal ersteigerte Fotos von ausländischen Schauspielern, die man meist bei Zigeunern in Unterführungen und vor Metroeingängen kaufen konnte. Es waren die lustig-musikalischen und jede Intelligenz beleidigenden Heimat-, Liebes- und Arbeiterfilme. Die Trainingsanzüge aus Polyester und die köstlichen Milchshakes, Glace genannt, von mir favorisiert: Erdbeergeschmack, von Daria: Vanille.

    Später waren es das Café Franzia und das Restaurant Budapest und das Teehaus gegenüber der Uni. Es war das heimliche Hören von Voice of America. Es waren die wie Kühlschränke aussehenden Getränkeautomaten, auf denen »Sprudelwasser« stand und die so gut wie nie funktionierten. Es waren die Burda-Magazine aus Deutschland, die man auf dem Schwarzmarkt erwerben musste und die die heißbegehrten Schnittmuster enthielten. Es waren die Trolleybusse, die unfreundlichen Milizionäre und heimlich gedruckte und verbreitete Romanmanuskripte von Dissidenten und Verrätern.

    Wir lasen die russischen und georgischen Klassiker, Alexandre Dumas natürlich, die französischen Romantiker, sehr begehrt war Romain Rolland, er hatte ja mit dem Kommunismus sympathisiert und die Sowjetunion besucht. Über Joyce und Faulkner war man sich nie einig, wie sie einzustufen waren, verboten waren sie jedoch nicht. Die Existenzialisten waren schwer zu beschaffen. Gorki gab es en masse und auch die Krylow-Fabeln. Tolstoi, Henry James, Thackeray, Twain waren selbstverständlich. Lermontow und Puschkin gingen allen voran. Und natürlich Der Recke im Tigerfell – das große Nationalepos Georgiens von Rustaweli stand über allem.

    Man las überwiegend die toten Dichter. Aber dank der Literaturnaja Gaseta hatte man ab und zu Glück und erfuhr auch etwas von den Lebenden.

    Noch später war die Sowjetunion für uns das Zusammensparen von Geld für die raren Platten, Bücher und Videokassetten. Wir kauften die Stones, Pink Floyd, Led Zeppelin, später kam Queen dazu. In den 80ern waren es die russischen Rockbands, Kino und DDT, denen es scheißegal zu sein schien, ob lange Haare bei Männern vom Staat gebilligt wurden oder nicht.

    Es waren die subversiven Lyrikabende in den Hinterhöfen, Dachgeschossen, Kellern. Man musste schon »anti« genug sein, um in diese erlauchten Kreise einzudringen. Am besten, man hatte Ärger mit den Milizionären. Es gab da die wasserstoffblond gefärbten Mädchen in solchen Hinterhöfen, Dachgeschossen, Kellern, die dunkle Augenringe hatten und oft etwas in ihre dünnen, mit getrockneten Blumen ausgeschmückten Notizhefte schrieben und die meiste Energie dafür aufbrachten, nachdenklich und weltfremd zu wirken. Die Jungs, die enthusiastisch, mit Speichel in den Mundwinkeln, subversive Poesie vortrugen, wobei niemand genau benennen konnte, welcher Grad an Subversion erreicht werden sollte, um zum König solcher Hinterhöfe, Dachgeschosse, Keller zu werden. Die bärtigen Männer über vierzig, die sich ebenfalls in diesen Hinterhöfen, Dachgeschossen, Kellern aufhielten, selten, aber doch manchmal begleitet von ebenfalls über vierzigjährigen Frauen, die meist ihre Haare nicht färbten, gern über Spiritualität sprachen und an die Prophezeiungen von Nostradamus glaubten, die es in ihrer Jugend geschafft hatten, durch den Nordkaukasus zu trampen, und heute noch nach Swanetien zelten fuhren.

    Es waren die Zigeunerfrauen, die in einem geflochtenen Korb rote Marlboros runterschickten, wenn man zuvor genug Geld in den Korb gelegt hatte. Es waren die Umstände, um an eine Karte für die private Filmvorführung im Haus des Films zu kommen.

    Für mich war die Sowjetunion die Kindheit, die ich mit meiner Schwester teilte.

    […]

    Sowjetunion war jeden Abend Vremja und der Fernsehsprecher mit den dicken Brillengläsern, der alle Nachrichten vortrug, als würde am nächsten Tag die Welt untergehen. Sowjetunion war der rote Stern als Spitze des Tannenbaums, den man zu Silvester aufstellte. Sowjetunion war der Ort der Völkerfreundschaften und der Folkloretänze, alle waren willkommen, außer den »Ausländern«. Denn die waren Kapitalisten (und in der ganzen Welt verhungerten Menschen, weil der andere Teil der Menschheit sich nur für Geld interessierte und andere verarmen ließ, damit er reich wurde).

    Das Ausland an sich, eigentlich egal welches, war Sodom und Gomorrha. Alle dort nahmen Drogen, und die Staaten interessierten sich nicht für die Bürger und ließen sie verrecken. Dort trieben es alle mit allen und zeugten Kinder, für die sich keiner interessierte und für die es auch keine Krippenplätze gab. Das Ausland war ein böser Ort, von wo bisher kein einziger Sowjetbürger je zurückgekehrt war. Das Ausland waren fiese Spione und Menschenhändler. Dort gab es weiterhin Sklaven, und Wörter wie Völkerfreundschaft und Brüderlichkeit kannte man dort nicht. Dort herrschten nur die blanken, brachialen Gesetze des Geldes oder die Illusion einer friedlichen Existenz durch die verlogene Religion, die ja bekanntlich Opium fürs Volk war.

    Man musste wachsam bleiben und den Ländern, die sich aus den Klauen des bösen Kapitalismus befreien wollten, helfen. Und die Länder, die sich daraus befreit hatten, waren unsere Brüder, unsere Freunde; und dorthin durften wir auch fahren. Wir durften die Sowjetunion bereisen (wo wir im Prinzip ja bereits waren), wir durften in die Mongolei, wir durften nach Jugoslawien, Albanien, Bulgarien, Polen, Rumänien, in die Deutsche Demokratische Republik, in die Tschechoslowakei und nach Ungarn; wir durften nach Nordkorea, China, nach Kuba, nach Guinea, nach Süd-Jemen, nach Somalia, in den Kongo, nach Madagaskar, Kambodscha, Laos, Äthiopien, Angola, Mosambik, Benin, Grenada, Nicaragua, Simbabwe. Und als ich eingeschult wurde, durften wir auch nach Vietnam. Und bald sollten wir auch nach Afghanistan dürfen.

    Also hatten wir genug Freunde – und die Länder mit dem bösen Kapitalismus, in die wollten wir eh nicht fahren. Was wollten wir denn in dem dekadenten, verzogenen, dem Untergang geweihten Westeuropa, ganz zu schweigen von dem allerübelsten Amerika? Was sollten wir in Frankreich, wo man Schnecken aß, oder in Italien, wo es nur so von Mafiosi wimmelte und man einen alten Mann in einem weißen Kleid anbetete? Was sollten wir schon in Lateinamerika (Kuba ausgenommen), wo es Ungeziefer und Urwälder gab? Was sollten wir in Japan, wo man Frauen viel zu kleine Schuhe anzog, damit ihre Füße klein blieben? Was sollten wir in Skandinavien, wo man nicht einmal ordentlich saufen konnte? Was sollten wir im gefährlichen Amerika, wo Drogen auf den Straßen lagen und alle Menschen, die nicht reich waren, depressiv wurden und reihenweise aus den Fenstern sprangen, weil sie eben kein Väterchen Staat hatten, das sich um sie kümmerte?! Wo es von Schwarzen und Juden nur so wimmelte? Ja, sicherlich hatte man im kapitalistischen Ausland schon auch ein paar nette Sachen, coole Musik und Filme, man musste nicht heiraten, um Sex zu haben oder eine gemeinsame Wohnung zu bekommen, sie hatten dort eindeutig die besseren Klamotten. Und um irgendein Visum zu bekommen, musste man dort nicht wochenlang vor einem Intourist-Büro campieren, und für ein Auto mussten sie auch nicht jahrelang auf einer Warteliste stehen. Aber was machte das schon? Freiheit war ja schließlich eine Definitionssache. Sie durften immerhin nicht mehr nach Vietnam und bald auch nicht mehr nach Afghanistan. Wir schon.

    Für Daria und mich war in erster Linie die Familie die Sowjetunion. Unsere Familie und eine berühmte Tante im Ausland, die, wie wir lang genug glaubten, von den bösen Kapitalisten in den Westen verschleppt worden war, warum sonst hätte sie aus ihrer Heimat fliehen sollen? Die Sowjetunion: Das waren unsere Freunde. Unsere Straßen. Unsere Höfe. Unsere Parks. Unsere Spiele. Unsere Vergangenheit. Und selbstverständlich die Zukunft. (Was gab es sonst für Alternativen?)

    Mari Bekauri

    DIE KINDHEIT, WIE SIE IN WIRKLICHKEIT IST

    Für Anni, von der ich lernte,

    dass man selbst auch in ein grünes Heft schreibt,

    wenn alle in ein grünes Heft schreiben.

    Von den Mädchen spielte nur ich Krieg. Kaum dass die Schulglocke läutete, rannte ich zusammen mit den Jungs über den Flur hinaus auf den Hof. Wir teilten uns in zwei Mannschaften auf und traten gnadenlos aufeinander ein. Dabei spielte es keine Rolle, wer zu welcher Mannschaft gehörte. Es konnte leicht passieren, dass der Mitstreiter von heute morgen schon dein Feind war. Und dann gab es kein Erbarmen. Die anderen Mädchen saßen derweil im Klassenraum und malten Blumen oder spielten mit Puppen. Ich konnte sie allesamt nicht ausstehen. Eigentlich mochte ich auch die Jungs nicht. Es war, als hätte ich eine Art geheime Abmachung mit ihnen getroffen. Unsere Lehrerin Neli bestrafte nur die Jungs für die Raufereien, mich dagegen nie. Jedes Mal, wenn sie vorn aufgereiht an der Tafel standen und versuchten, mit ihren hängenden Köpfen Reue zu zeigen, die sie in Wirklichkeit nicht empfanden, und die Klassenlehrerin sagte: »Mari kann es sich leisten, ein bisschen wild zu sein, sie ist schließlich Klassenbeste«, dann sahen mich alle an, und jeder Einzelne von ihnen hasste mich in diesem Moment mehr als alles andere auf der Welt. Und ich hasste sie auch, weil sie nun alle zu meinen Feinden geworden waren und ich ihnen allein gegenüberstand. Aber Angst hatte ich nie. Im Gegenteil: Der Hass gab mir Kraft, und ich hätte jeden Einzelnen von ihnen ohne zu zögern erwürgt.

    Gleich neben der Schule gab es eine Schlucht, und nach dem Unterricht gingen wir alle dorthin, alle, wie gesagt, außer den Mädchen. Wir fingen Frösche und quälten sie. Wer die meisten Frösche tötete, war der Coolste. Am Ende verglichen wir unsere Ausbeute. Ich gewann fast immer, und wieder kam der Moment, wo alle mich mit diesem Blick anstarrten und ich wusste, dass Angst nicht erlaubt war, Angst war ein unverzeihlicher Fehler.

    Auf dem Nachhauseweg sammelte ich verstohlen alles Brennbare in meiner Tasche. Zu Hause hatten wir nämlich einen Kamin, neben dem jedoch nie Holz lagerte; meine Mutter saß dort oft mit geröteten Augen. Vater bekam ich selten zu Gesicht. Einen Vater hatte ich nur nachts, und dann bestand er nur aus schweren Schritten auf der Treppe oder dem Gebrüll aus dem Nebenzimmer.

    Unsere Klassenlehrerin, Fräulein Neli, fragte mich jeden Tag ab und sagte jedes Mal, ich sei die Intelligenteste in der Klasse, sie habe noch nie solch eine Schülerin gehabt, und dass ich sogar im Sportunterricht die Beste sei. Ich fühlte weder Freude noch Begeisterung. Ich fand es absolut normal.

    Die Lehrer beneidete ich sehr, weil ich nämlich glaubte, dass nur sie auf den Lokus gehen durften. Den Lokus stellte ich mir als großen, schönen Raum vor, wo sehr viel Spielzeug herumlag, aber keine Puppen. Den Zweck eines Lokus begriff ich erst, als ein Mitschüler von mir, Lascha, mich einmal auslachte und sagte:

    »Du hast nicht das, was wir Jungs haben.«

    »Was denn?«, fragte ich verwundert.

    »Soll ich’s dir zeigen?«

    Ich nickte.

    »Nicht jetzt. In der Pause. Aber auf dem Lokus. Sonst ist es mir peinlich.«

    »Ja, aber wir dürfen dort doch gar nicht rein!«, sagte ich noch erstaunter.

    »Mann, bist du blöde! Alle dürfen dort rein.«

    Ich konnte das Ende des Unterrichts kaum abwarten. Ich freute mich, dass auch ich dieses große, schöne Zimmer bald zu Gesicht bekommen würde. Kaum hatte es geklingelt, nahm ich Lascha bei der Hand, und wir rannten hinaus auf den Flur. Er sagte, ich solle die Augen schließen. Dann hörte ich die Tür ächzen und machte die Augen in Erwartung von etwas Großartigem auf. Lange starrte ich die schmutzigen, verschmierten Wände an und fühlte, wie etwas in meinem Innern kaputtging.

    »Was ist denn das hier? Das hab ich mir ganz anders vorgestellt.«

    »Was?« Lascha drehte sich zu mir um. Er lachte.

    »Nichts!«

    »Wie, nichts! Was ist?«

    »Ich sagte doch, nichts und Schluss!«

    »Gut. Wir gehen dort mal rein.«

    »Und was gibt es dort?«

    »Du bist so dumm. Was soll es da schon geben! Wo man pinkeln kann!« Er lachte jetzt noch lauter.

    »Du bist so ein Idiot, weißt du das?«, knurrte ich ihn an.

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