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Reberg: Roman
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eBook235 Seiten2 Stunden

Reberg: Roman

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Über dieses E-Book

Stefan Reberg, Professor für Deutsch und Latein, bricht im laufenden Schuljahr während seiner Aufsicht bei der Mathematikschularbeit in der Maturaklasse ein Lehrergesetz, wird zum Verbündeten der Schülerinnen und Schüler – und erschießt sich am selben Abend in seinem Arbeitszimmer.
Zwei Wochen später wird dem Klassenvorstand und Mathematikprofessor Joachim Beltzer zugetragen, was während der Schularbeit passiert ist, und eine bürokratische Maschinerie setzt sich in Gang: Direktor, Landesschulrat, Elternabend, Presse. Der Selbstmord Rebergs zieht seine Kreise, nicht nur was dessen eigene Diffamierung betrifft.
Joachim, Stefans Freund, beginnt zu recherchieren. Während des restlichen Schuljahres erlebt er nicht nur an sich selbst, sondern auch an seiner Klasse – besonders an den Schülern Tom und Eva – die Auswirkungen von Stefans Tod.
Parallel dazu erfährt der Leser die Wahrheit – in Form eines Tagebuchs, das Stefan Reberg verfasst hat und das Joachim am Ende des Schuljahres in seinen Unterlagen finden wird. Eine Wahrheit, die über das Lehrer-Sein hinausgeht und die jeden betreffen kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberMilena Verlag
Erscheinungsdatum12. Feb. 2018
ISBN9783903184220
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    Buchvorschau

    Reberg - Liane Locker

    März

    I

    STEFAN REBERG STARB AN EINEM DIENSTAG.

    Joachim wusste das so genau, weil er ursprünglich die dreistündige Schularbeit in der 8A für einen Montag vorgesehen hatte, was aber undurchführbar gewesen war, weil davor zu viele Tage frei waren und es laut Gesetz nach mehr als drei freien Tagen nicht erlaubt war, Schularbeiten abzuhalten. Oder Tests. Oder schriftliche Wiederholungen. Nein, stopp, schriftliche Wiederholungen schon. Oder doch nicht?

    Joachim hätte jetzt nicht darauf schwören können, ob schriftliche Wiederholungen nach drei unterrichtsfreien Tagen erlaubt waren, da hätte er in seinem Handbuch nachsehen müssen. Das bekam man jedes Jahr am Schulanfang von der Gewerkschaft, oder vielleicht war es auch nicht die Gewerkschaft, egal, Hauptsache, es lag am Schulanfang dort, wo es immer gelegen war, all die zwanzig Jahre, die Joachim als Professor Beltzer jetzt schon unterrichtete. Sollte man das Handbuch benötigen, erwies es sich mittels Kalender, wichtiger Gesetzesvorlagen und schon vorgestrichelter Notenblätter als praktische Hilfe für jeden Lehrer. Wobei diese Notenblätter nichts mit Musik zu tun haben, nein, diese Notenblätter sind Seiten, auf die man die Namen der Schüler und Schülerinnen einträgt, untereinander. Oder mit einem Abstand von 3–4 cm. Damit viel Platz für die Aufzeichnungen bleibt.

    Der Lehrer sollte ja jede Stunde Aufzeichnungen machen.

    Am besten über jeden Schüler, jede Schülerin.

    Was und wann er etwas gesagt hat. Oder sie.

    Und wann oder was er oder sie nicht gesagt hat.

    Was ja eigentlich im Schnitt viel öfter vorkommt.

    Diese Aufzeichnungen sind dann am Ende des Semesters und des Schuljahres wichtig für die Note. Für die gerechte Note.

    Einfach so aus dem Bauch heraus geht das nämlich nicht. Denn sollten Eltern kommen und Einspruch erheben, was Eltern schon seit Längerem dem Gesetz nach dürfen, dann muss alles belegt sein. Hausübungen, Wiederholungen, sei es mündlich oder schriftlich, Mitarbeit, sei sie mündlich oder schriftlich, Schularbeiten. Aus diesem Zweck ist es auch ratsam, alles über einen längeren Zeitraum aufzuheben, am besten von jedem Schüler und mindestens ein Jahr, was sich natürlich summiert, deswegen brauchen Lehrer große Wohnungen mit großen Arbeitszimmern.

    Joachim wusste also genau, dass Stefan an einem Dienstag gestorben war.

    Am Dienstag war die Schularbeit in der 8A gewesen, die Joachim vom Montag auf den Dienstag verschieben hatte müssen, und zwar nachdem er sie schon im Schularbeitenkalender eingetragen hatte. Das war unangenehm. Normalerweise wird das auch nicht gerne gesehen, wenn man etwas verschiebt, aber in diesem Fall, da es nur ein Tag war, geschah es ohne viel Aufhebens. Joachim hatte also diese Mathematikschularbeit in der 8A – übrigens eine miserable Mathematikklasse, in der er auch Klassenvorstand war –, und die war dreistündig. Stefan war zwar kein Mathematiker, aber er unterrichtete Deutsch in der 8A, und die zweite Stunde der Mathematikschularbeit fiel in diese Deutschstunde, und aus diesem Grund hielt Stefan die Aufsicht.

    Warum Joachim diesen Dienstag noch in Erinnerung hatte, war, weil sich der leidige Vorfall, der so große Wellen schlagen und keinen Stein auf dem anderen lassen sollte, weil sich also jener Vorfall während der Mathematikschularbeit, genauer, während der zweiten Stunde, in der Stefan supplierte, ereignete. Joachim erfuhr erst zwei Wochen später davon, Stefan war schon unter der Erde, da erschien ein Schüler aus der 8A bei Joachim, in der Pause stand er an der Tür des Konferenzzimmers, und stahl einem Kollegen seine Zeit, indem er Herrn Professor Beltzer verlangte, der in diesem Moment versuchte, seinen Vorrat an mitgebrachter Jause in den zehn Minuten, die ihm zur Verfügung standen – fünf der insgesamt fünfzehn waren verstrichen, ungenützt sozusagen, verloren gegangen auf dem Weg von der Klasse in das Konferenzzimmer und beim unerlässlichen Besuch der Toilette –, so einzuteilen und zu sich zu nehmen, dass er nicht wieder dieses entsetzliche Magendrücken bekam, das ihn phasenweise quälte.

    »Joachim?«

    Er antwortete mit vollem Mund. »Ja?«

    »Ein Schüler, draußen, für dich. Aus der 8A, glaub ich.«

    »Ph.« Das hieß: Muss das jetzt sein? Joachim sprach es nicht aus.

    »Sieht dringend aus.«

    Das war der Kollege. Ein junger. Einer von den Unterrichtspraktikanten. Seinen Namen wusste Joachim nicht. Das heißt, er hatte ihn am Anfang des Schuljahres kurz gewusst, dann aber wieder vergessen. Praktikanten kamen und gingen. Sich ihre Namen zu merken, war für ein von Schülernamen malträtiertes Lehrerhirn purer Luxus.

    »Soll ich ihm ausrichten, dass du keine Zeit hast?«

    Per Du waren sie alle. Namen hin oder her.

    Joachim schluckte. Der hatte leicht reden.

    »Ich komm schon.«

    Er erhob sich, schleppte sich nach draußen. Sein Magen begann zu drücken.

    Vor der Konferenzzimmertür stand Tom. Achtzehn. Ziemlich groß, schlaksig. Das blonde Haar kurz geschnitten, wache, kluge Augen. »Herr Professor?«

    »Was gibt’s, Tom?«

    »Ich muss mit Ihnen reden. Dringend.«

    Joachim kaute noch. Schmeckte aber nichts mehr. Einige Kollegen wollten an den beiden vorbei. Joachim ging ein paar Schritte auf den Gang hinaus, zog Tom mit sich.

    »Es ist wegen dem Reberg, ich meine, wegen Herrn Professor Reberg«, sagte Tom, als sie stehen blieben. Er sah Joachim ernst an und schien nicht sonderlich aufgeregt zu sein.

    Ein gutes Zeichen.

    »Ja«, sagte Tom. »Es war da etwas, während der Mathematikschularbeit, an dem Tag … Tom stockte. »An dem Tag, als Herr Professor Reberg gestorben ist. Da hat er doch bei der Mathematikschularbeit suppliert …«

    Joachim schwieg kurz, versuchte zu erahnen, was Tom ihm sagen würde. »Komm«, sagte er dann. Ging voran, Tom trottete hinterher. Die Eingangshalle einen Stock tiefer sah aus wie in jeder Schule. Funktionell, geräumig, unpersönlich. Pflanzen und Kunststoffsofas versuchten Wärme auszustrahlen. »Dorthin«, sagte Joachim und steuerte das Sofa an, das hinter einem Pfeiler stand und uneinsichtiger war als die anderen.

    Sie setzten sich. Einige jüngere Schüler spielten lärmend mit einem Softball. Das übliche Szenario in den Pausen. Als sie Joachim sahen, mäßigten sie sich etwas. Feind in Sicht, hieß die Devise. Am anderen Ende der Halle, Richtung Eingangstür, stand die Kollegin, die Gangaufsicht hatte. Sie schien einen Biologieschaukasten zu studieren, was Joachim völlig unglaubwürdig vorkam. Die Exponate darin waren seit zwei Jahren nicht ausgewechselt worden. Er vermutete, dass ihr Interesse vorgetäuscht war und lediglich dazu diente, sich die Schüler vom Leib zu halten, um in Ruhe ihr Jausenbrot essen zu können.

    Ein legitimes Unterfangen.

    »Es war so«, sagte Tom. »In der zweiten Stunde, da war bei vielen die ganze Sache mit der Schularbeit schon ziemlich aussichtslos und da ist Reberg zu meinem Platz gekommen … Professor Reberg …« Tom blickte Joachim unsicher an. Er war ein gut erzogener Schüler.

    »Ist schon gut«, sagte Joachim.

    »Er hat sich neben mich gestellt, hat auf mein Heft gesehen und gesagt, ich soll doch Lemnitz fragen wegen der Lösung.«

    »Wegen der Lösung?« Joachim fing an zu schwitzen.

    »Ja«, sagte Tom.

    »Und?«

    Ich hab gelacht. »Schön wär’s«, hab ich dann gesagt, und er hat gesagt: »Warum sprichst du im Konjunktiv, Tom?«

    Tom stockte wieder. »… Reberg ist schließlich nach vorne gegangen. Er hat sich vor uns hingestellt und gesagt: Macht das Beste daraus, alle. Aber macht es so, dass es nicht zu sehr auffällt. Ich werde schweigen wie ein Grab.« Er fixierte das Muster der Bodenfliesen. »Dabei hat er eigenartig gelacht. Bei dem Wort Grab.« Nun sah er wieder zu Joachim, der ihn völlig entgeistert anstarrte.

    »Die Lösung«, flüsterte er dann fast unhörbar und schüttelte dabei den Kopf.

    Tom schwieg. Wusste nicht, was er sagen sollte.

    Joachim fühlte gar nichts. Hatte für so eine Situation gefühlsmäßig einfach nichts vorbereitet, auf das er jetzt zurückgreifen konnte.

    »Und? Was habt ihr gemacht?«

    Tom sah erneut zu Boden. »Können Sie sich das nicht denken?«

    »Ihr wart wirklich geschickt. Eure Leistungen waren zwar besser als sonst, aber nicht auffällig gut.«

    »Ja.« Tom hob seinen Blick. Die Halle leerte sich. Auf der großen Uhr rückten die Zeiger unaufhaltsam Richtung Pausenende. Nun war es wenigstens kein Geheimnis mehr, dachte er.

    Joachim veränderte seine Sitzposition. Streckte den Rücken durch. Fühlte immer noch nichts.

    »Eigenartig«, sagte er.

    »Was?«

    »Dass ich darauf nicht früher gekommen bin.«

    »Ja«, sagte Tom. »Das haben wir auch gesagt. In der Klasse.« Nun wirkte er wieder etwas vorsichtig. »Ich meine …«

    »Dass ihr mich für einen Idioten haltet?«

    »Nein, natürlich nicht.« Es läutete. Tom rührte sich nicht. »Wollen Sie gar nicht wissen, warum ich Ihnen das erzähle?«

    »Natürlich«, sagte Joachim, obwohl er sich nicht mehr sicher war. »Also?« Er fragte trotzdem, obwohl er längst hätte gehen müssen. Eigentlich sollte er schon in der nächsten Klasse sein, alles am besten gleichzeitig, gehen, dort sein, essen, denken, reden. Aber auch er rührte sich nicht.

    Mir ist das jetzt egal. Scheißegal.

    Kollegen hasteten an den beiden vorbei.

    Zu spät. Immer zu spät.

    »Wir haben heute Hefte zurückbekommen. Frau Professor Plank hat sie uns gebracht. Deutschhefte«, sagte Tom.

    »Wo waren die?«

    »Auf dem Platz von Professor Reberg. Hat die Plank uns erzählt.«

    »Und?«

    »Sie sitzt ja neben ihm, hat sie gesagt. Und heute hat sie begonnen, seinen Platz abzuräumen und da sind die Hefte gelegen.«

    Joachim verstand immer noch nicht, spürte so etwas wie Ungeduld. Wenigstens wieder ein Gefühl.

    »Er hat unter jede Hausübung etwas Persönliches geschrieben. Auf Latein. Bis wir das heute übersetzt haben …« Tom musste lachen. Es klang bitter. »Gott sei Dank war Leitner da.«

    Leitner war der Beste in Latein.

    »Was hat er geschrieben?«

    Joachim sah ganz kurz Stefan vor sich, wie er Heft um Heft zur Hand nahm, immer wieder aufsah, überlegte. Wissend, was er vorhatte, bis zum bitteren Ende.

    »Wir sind noch nicht ganz durch. Mit dem Übersetzen. Aber es geht immer um die Wahrheit. Und um den Erfolg. Und um das, was wirklich wichtig ist. Freundschaft, Loyalität, Vertrauen, das Übliche halt …« Tom machte eine Pause.

    Das Übliche halt. So war das für die Jungen.

    »Aber grundsätzlich geht es darum, dass wir die Wahrheit sagen sollen. Ihnen. Und deswegen hat mich die Klasse hergeschickt.«

    Tom war Klassensprecher, schon während der gesamten Oberstufe. Eine Seltenheit.

    »Könnt ihr mir das alles aufschreiben? Ich meine, was Stefan …« Joachim stutzte. »… was Professor Reberg geschrieben hat?«

    »Ja, klar.«

    Beide schwiegen. Joachim versuchte erneut, das Bild Stefans heraufzubeschwören, diesmal ohne Erfolg. Er blickte ins Leere, langsam wurde es leise um sie herum. Die letzten Türen schlossen sich.

    »Ich muss in den Unterricht«, sagte Tom und erhob sich.

    »Ich auch.« Joachim sammelte sich blitzschnell, stand auf.

    »Was machen wir mit der Schularbeit?« Tom hätte fast vergessen zu fragen. Die in der Klasse hätten ihn gesteinigt.

    »Keine Ahnung«, sagte Joachim. »Ich muss die ganze Angelegenheit überschlafen.« Er sah Tom an, wusste, dass diese Antwort für ihn und die anderen unbefriedigend war. »Macht euch keine Sorgen«, sagte er.

    Musste er ja wohl, als gelernter Pädagoge.

    Tom glaubte ihm nicht. Sagte trotzdem: »Alles klar und danke.«

    Musste er ja wohl, als angepasster Schüler.

    Tom kehrte nicht in seine Klasse zurück. Bog kurz vor der Tür ab und lief wieder nach unten. Sollen die mich doch. Ich weiß doch, was mit Reberg passiert ist. Und die machen alle weiter, als ob nichts gewesen wäre. Beltzer, ja, der hat vielleicht noch halbwegs ein Gewissen. Aber die anderen? Da stirbt einer von ihnen, und sie räumen nur den Platz leer.

    Er stellte sich vor den Haupteingang, zündete sich eine Zigarette an.

    Wenn die Mathematikschularbeit nicht so wichtig gewesen wäre, nie hätte einer von ihnen gedacht, dass ein Lehrer einmal sagt, macht nur, schreibt voneinander ab, aber macht es geschickt. Hätte da nicht schon jeder von ihnen merken müssen, wie es um Reberg stand? Gerade Reberg? Dem man so etwas nie zugetraut hätte? Aber ehrlich, es war ihnen allen egal gewesen, es ging nur um diese verdammte Note. Es ging nicht um Reberg. Es ging nicht um die anderen. Nur um jeden einzelnen von ihnen.

    Eva stand plötzlich vor ihm. So unwirklich schön wie immer. »Hi.«

    Sie war um etliches kleiner als er, streckte sich nun ein wenig und sog den Rauch seiner Zigarette ein. Verzog dabei das Gesicht.

    »Hi.« Er lächelte. Eva konnte ungemein komisch wirken, wenn sie wollte.

    »Und, hast du’s ihm gesagt?« Ihre dunklen Augen musterten ihn.

    »Ja«, sagte er. Wollte sie an sich ziehen. Tat es nicht.

    »Gut«, sagte sie, setzte sich auf den kleinen Mauervorsprung neben dem Eingang, begutachtete ihre Fingernägel. »Die anderen wundern sich, wo du bleibst. Und die Kaufmann ist sauer.«

    Die Kaufmann, das war die Englischlehrerin.

    »Du hast Referat, Tom!« Sie beugte den Oberkörper vor, wedelte mit dem Zeigefinger.

    »Ich weiß.«

    »Komm.« Ihre Stimme bekam etwas Schmeichlerisches. »Tooom …«

    »Ich hab keine Lust.«

    »Gut.« Sie lächelte. »Dann schenk mir auch eine.«

    Tom setzte sich neben sie, gab ihr eine Zigarette und Feuer.

    »Was hat Beltzer gesagt?« Sie inhalierte tief.

    »Wir sollen ihm aufschreiben, was Reberg so von sich gegeben hat.«

    »Wozu?«

    »Keine Ahnung.«

    »Ich glaub, die waren Freunde.« Sie schwiegen. Tom zündete sich noch eine Zigarette an.

    »Wird die Schularbeit wiederholt?«

    Tom konnte die Frage kaum verstehen, so leise war Eva geworden. Für sie ging es um viel. Noch eine negative Note und sie war weg von der Schule. Befehl ihres Alten.

    Er drückte ihre Hand. Sie ließ es geschehen, ohne seine Berührung zu erwidern.

    »Er weiß noch nicht. Muss noch drüber schlafen.« Er zog seine Hand zurück. Legte sie auf die kühle Mauer.

    »Ob Reberg an dem Vormittag bei uns schon gewusst hat, dass er …« – Eva sprach nicht weiter.

    »… dass er sich am Abend umbringt?« Tom vollendete den Satz.

    Eva sah ihn an, in ihren Augen standen Tränen.

    »Ich glaub schon«, sagte Tom schließlich. »Passt doch alles zusammen, oder nicht?«

    Joachim ließ die Schüler rechnen. Damit war ihm ein bisschen Ruhe sicher.

    Er war in der 1A. Die Kleinen hatten sich tief über ihre Hefte gebeugt. Die Füllfedern, Kugelschreiber und Faserstifte glitten über das Papier.

    Da geht’s noch leicht. Gut so.

    Er stellte sich ans Fenster. Niemand sprach ein Wort, es war unnatürlich still. Bei euch sind alle ruhig, beklagte sich Irene oft im Scherz. Kommt einmal in meine Deutschstunden. Oder Englisch. Na, Mahlzeit.

    Irene. Die Kaufmann. Sie hatte sich mit Stefan auch gut verstanden. Hatte auch mit ihm studiert. Seit über zwanzig Jahren war sie an der Schule, vor einigen Jahren war ihr Mann gestorben, an einer Grippe, im Schlaf.

    Habe ich damals mit ihr geredet? Habe ich irgendwie Anteil genommen?

    Was die Mathematikstunden betraf, wusste er, dass sie recht hatte. Vielleicht hatte er aus diesem Grund auch Mathematik studiert, in seiner Schulzeit hatten sie alle immer Angst vor dem Mathematiklehrer gehabt, egal, wer es war. Der Deutschlehrer war meistens harmlos, so nach dem Motto: Schreiben kann eh jeder.

    »Das ist unfair.«

    Das war Stefan. Damals, als sie noch regelmäßig nach dem Unterricht Mittagessen gegangen waren. Einmal pro Woche. Egal, ob einer von ihnen länger unterrichten musste, sie hatten aufeinander gewartet, waren schließlich bei dem kleinen Griechen um die Ecke gelandet und hatten geredet.

    »Das ist unfair, dass alle glauben, schreiben kann jeder«, sagte Stefan. »Das stimmt so nicht. Schreiben kann nicht jeder.«

    »Rechnen auch nicht«, widersprach Joachim.

    »Das schon gar nicht.«

    Nach mehreren Ouzos waren sie oft erst am frühen Abend nach Hause gegangen, nachdem Stefan unzählige Male seine kleine runde Hermann-Hesse-Brille auf- und wieder abgesetzt hatte, dozierend, belehrend,

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