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Knochenspiel
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eBook298 Seiten4 Stunden

Knochenspiel

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Über dieses E-Book

Unvermittelt wird Fritz Neuhaus, ein Lebenskünstler mit ausgeprägten Schnüfflerqualitäten, in einen Strudel gefährlicher Ereignisse gezogen: Im Gebäude des "Radio Berlin Brandenburg" übergibt ihm ein Fremder sechs Chipkarten verschiedener Krankenkassen. Warum, erfährt Neuhaus nicht. Doch bereits am nächsten Morgen erhält er einen "Hinweis": Ein Schlägertrupp klingelt ihn aus dem Bett, der deutlich an den Karten interessiert ist. Und Fritz Neuhaus hat noch immer keine Ahnung, worum es eigentlich geht.
SpracheDeutsch
HerausgeberGmeiner-Verlag
Erscheinungsdatum9. Aug. 2009
ISBN9783839230947
Knochenspiel
Autor

Jochen Senf

Jochen Senf, Jahrgang 1942, lebt in Berlin. Er ist den Krimifans vor allem durch seine langjährige Rolle als Saarländer TATORT-Kommissar Max Palu bekannt. Daneben verfasste er Hörspiele und Drehbücher. 1993 debütierte er als Krimiautor mit dem Titel „Bruno geht zu Fuß“, dem mehrere Romane folgten. 2006 erhielt er den Berliner Krimipreis „Krimifuchs“. Mit „Kindswut“ setzt er seine erfolgreiche Krimiserie um den Berliner „Schnüffler“ Fritz Neuhaus fort, die er 2007 im Gmeiner-Verlag gestartet hat.

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    Buchvorschau

    Knochenspiel - Jochen Senf

    Titel

    Jochen Senf

    Knochenspiel

    Kriminalroman

    Impressum

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Besuchen Sie uns im Internet:

    www.gmeiner-verlag.de

    © 2008 – Gmeiner-Verlag GmbH

    Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

    Telefon 0 75 75/20 95-0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    1. Auflage 2008

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von Lutz Eberle

    Gesetzt aus der 9,7/13 Punkt GV Garamond

    ISBN 978-3-8392-3094-7

    Bibliografische Information

    der Deutschen Bibliothek

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese

    Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

    detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

    über http://dnb.ddb.de abrufbar.

    Widmung

    Für Anna

    1

    Die Müllabfuhr war es nicht. Die klingelte immer zweimal kurz. Es war bestimmt auch keine liebe Fee, die Brötchen bringen wollte. Um halb acht morgens. Dafür war das Klingeln zu lang. Eine Fee tupfte nur auf die Klingel. Ich lag wach in meinem Bett und wartete auf das Brodeln der Espressomaschine in der Küche nebenan. Ich liebte es, aus dem Bett zu springen, zur dampfenden und zischenden Espressomaschine zu eilen, im wehenden weißen Bademantel, um den heißen Kaffee in die vorgewärmte Tasse zu gießen. Der aufsteigende Duft! Die mit kräftigen Farben aufgetragenen rosafarbenen Blüten und die dunkelgrünen Blätter auf der Tasse leuchteten. Zucker und Milch hatte ich schon vorher in die Tasse gegeben. Diese satte, nicht allzu helle, braune Farbe des Kaffees in der geblümten Tasse! Ich hörte die Vögelein zwitschern im Geäst, wenn der Kaffeestrahl die Tasse füllte! Auch im Winter, bei Sturm und Hagel! Egal! Äthiopischer Wildkaffee! Ohne dieses Ritual war der Tag kein Tag. Vervollständigt wurde er im ›Dollinger‹. Ich holte mir die Zeitung, dann erst brachte mir Doris einen Cappuccino, überwölbt von einem Gebirge aus geschäumter Milch mit einer Haube aus Zimt und Schokolade. Köstlich, wenn die gespitzten Lippen von dieser Melange beim ersten Hineintauchen gestreichelt wurden.

    »Einer mit Piff«, sagte Doris und zwitscherte ganz kurz wie eine Nachtigall.

    Es schellte wieder. Die Müllabfuhr schellte nie ein zweites Mal. Ich hörte ein leises Grunzen vor der Wohnungstüre. Da war jemand. Vielleicht ein Kurier von einem Paketdienst. Ich hatte eine Kiste Pfälzer Riesling, Gut Annenberg bestellt. Ich sprang aus dem Bett, knüpfte den Bademantel zu, ging zur Wohnungstüre. In diesem Augenblick brodelte der Kaffee. Er war fertig. Kaffeeduft verbreitete sich. Ich öffnete die Türe. Sie machten keine Fisimatenten. Kein ›Guten Morgen, wie geht’s denn so?‹ oder ›Entschuldigen Sie die Störung.‹ Ich bekam zur Begrüßung eine satte Ohrfeige verpasst, einen Stoß vor die Brust, und noch eine Ohrfeige von dem anderen Kerl, und noch eine von dem, der mir zuerst eine verpasst hatte. Ein eingespieltes Team. Die Ohrfeigen klatschten. Die Türe fiel ins Schloss. Meine Backen brannten. Der Bademantel hatte sich geöffnet. Ich hatte nichts drunter. Eine peinvolle Situation. Nackt und geschlagen. Wie schnell das ging.

    »Los, anziehen.«

    Ich ging ins Wohnzimmer, wo meine Kleider auf dem Sofa lagen. Die beiden Kerle folgten mir. Mit fliegender Eile zog ich eine Unterhose an, streifte die Hose darüber, den beiden den Rücken zugewandt, jeden Moment einen weiteren Schlag erwartend. Es war ein Tritt ins Gesäß.

    »Mach schon«, sagte einer der beiden. Ich zog den Bademantel aus und zog mir das Hemd über den Kopf. Wieso wehrte ich mich nicht? Warum befolgte ich ihre Anweisungen? Ich hatte gar keine Chance zu reagieren. Wer rechnet denn schon um diese Uhrzeit mit einem Überfall? Es ging ruckzuck. Türe auf, ein paar in die Fresse. Eine dumpfe Wut kroch in mir hoch. Diese ganz schwarze Wut, wie sie in Teerkesseln beim Straßenbau brodelte. Bei ständiger Überfeuerung. Der Teermeister war ein Teufelsbub. Ich überlegte.

    »Was wollen Sie?«

    Einer der beiden setzte sich in Bewegung. Er war groß und schlaksig und trug einen anthrazitfarbenen Anzug. Dazu ein weißes Hemd. Er war etwa 35 und hatte einen Bürstenhaarschnitt mit ausrasiertem Hals. Er war hellblond und kaute einen Kaugummi. Das kräftige Kinn rotierte wie bei einem dumpf wiederkäuenden Ochsen. Dabei schmatzte er. Dieses Geschmatze war furchtbar. Ich fröstelte innerlich. Jeder Affe hatte mehr Ausdruck im Gesicht als er. Seine Augen blickten irgendwie ständig in die Ferne, auf der Suche nach irgendwas. Es war der typische Blick eines Hirntoten. Jedenfalls stellte ich mir einen hirntoten Blick so vor. Er ging in die Küche. Ich und der andere, so ein Schlotterkerlchen, folgten ihm. Der Wiederkäuer öffnete den Kühlschrank, dann das Tiefkühlfach. Beides war leer. Ich wollte den Kühlschrank schon seit Wochen abtauen und mit heißem Essigwasser auswaschen. Er war folglich leer.

    »Nichts.«

    »Hm, Hm«, knurrte der Schlottermann und knallte mir wieder eine. Was suchen die, überlegte ich. Bestimmt keine dicke Wurst oder einen stinkenden Münster Käse. Der Wiederkäuer ging in mein Wohnzimmer, riss Bilder von der Wand, schaute dahinter, leerte einige Bücherregale.

    »Was, bitte …«

    Wumm! Wutendladung. Mit dem Handrücken. Wieder auf die Nase. Das schmerzte. Ich verkniff mir weitere Fragen. Der andere war ein Kleiner, Hagerer, mit einem nervösen Zucken im Gesicht, als wollte ihm die Gesichtshaut wegfliegen. Ein echter Hänfling. Das Gezucke verlieh ihm den Ausdruck einer gewissen Blödigkeit. Besonders, wenn er einen Superzucker mit einer Bewegung des Kinns, von rechts nach links, in einem Halbbogen, wegschnipste wie eine lästige Heuschrecke, die ihm über das Gesicht krabbelte und jetzt fortsprang. Er hatte Ringe an jedem Finger. Auch er trug einen anthrazitfarbenen Anzug und ein weißes Hemd. Diese Anzüge waren wohl die Firmenkleidung. Seine Haut war gelblich fahl, mit tiefen Falten, die sich bei dem Gezucke wurmartig wanden. Jetzt zuckte er gerade gewaltig. Eine Art Gesichtsbeben, das die Nase in Schwingungen versetzte. Dieser Mensch würde an jedem Ort einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Nicht gerade von Vorteil in seiner Branche.

    »Los, setzen.« Der Hellblonde zeigte auf einen Küchenstuhl. Ich setzte mich nicht.

    »Was wollen Sie?«

    »Fresse«, und schon wieder rumste es. Ein ganz fieser Typ, dieser Gesichtszucker, so ein Schlag ohne Vorwarnung von hinten auf den Hals. Normalerweise würde ich diesen Zuckakrobaten auseinandernehmen. Ich setzte mich. Ich war Anhänger der germanischen Langzeitrache. Ich schwor den beiden Rache. Ganz furchtbare. Ich freute mich schon darauf, wie ich ihnen das Fell über die Ohren ziehen würde. Der Zwerg würde zucken wie ein Wahnsinniger. Die ganze Visage würde auseinanderfliegen. In Myriaden zuckender Gesichtshautzellen würde er sich auf und davon machen. Wie eine Wolke winziger Fruchtfliegen im Sommer über faulendem Obst. Diese verfluchten Scheißkerle.

    »Also los, wo ist das Zeug? Die Chips?«

    Wovon sprach er? »Was für ein Zeug?«

    »Wir bringen dich schon noch zum Sprechen. Sieh dich um!« Der Zwerg stiefelte los. Er hatte Gamaschenschuhe an, die zu groß waren, mit hohen Absätzen. Um die Schuhe nicht zu verlieren, musste er die Stiefelspitzen immer oben halten. Normales Abrollen der Fußsohlen ging nicht. Es sah aus, als würde er jeden Moment nach hinten umkippen. Er kippte nicht, inspizierte die Wohnung und kam wieder.

    »Nichts.«

    »Kein Behälter? Nichts?«

    »Nichts.«

    »Hm«, grunzte der Hellblonde und zog ein paar Gummihandschuhe aus der Jackentasche des Anzugs und streifte sie über. »An die Arbeit.«

    Mir wurde blümerant. Das sah nicht gut aus.

    »Er hat dir nichts gegeben?«

    »Wer, was?«

    Peng. Voll aufs Auge mit der Faust. Wie sah ich wohl aus inzwischen? Blut floss aus der Nase. Eine Lippe schwoll an. Das Auge glühte.

    »Gestern. Paternoster. Und?«

    »Keiner hat mir was gegeben.«

    Ich wusste wirklich nicht, was er wollte. Außerdem war mein Erinnerungsvermögen durch den Überfall und die Schläge deutlich eingeschränkt. Ich begriff gar nichts. Als wäre ich aus meinem Bett direkt in eine fremde, ferne Galaxie gesaust. Was, verdammt, wollten die? Der Zwerg war ins Wohnzimmer gegangen und kam mit dem Gürtel des Bademantels zurück. Der Hellblonde hatte den Wassererhitzer mit Wasser gefüllt und ihn angestellt. Sehr schnell begann das Wasser zu summen. Erst ganz leise, bis es dann bald kochend heiß brodeln würde. Der Zwerg machte sich mit dem Bademantelgürtel an meinen Händen und Armen zu schaffen. Dabei zuckte er ganz wild. Mit der Nase, dem Kinn, den Wangen, den Augenbrauen. Unendliches Stirnrunzeln, wie Wellen bei Sturm.

    »Jetzt werden wir dich mal fixieren.« Er wollte meine Arme, hinterrücks über die Stuhllehne gezwängt, an dem Stuhl mit dem Gürtel festbinden. Er zerrte an mir herum, als wäre ich ein zu rupfendes Suppenhuhn, das nicht in den Topf wollte. Der Wasserkessel begann zu brodeln und dampfte. Das gefiel mir nicht. Ich musste etwas unternehmen. Die Espressomaschine war fast in Reichweite auf dem Küchentisch.

    »Du hast den Typen doch gekannt?«, erkundigte sich der Hellblonde. Ich machte einen Satz auf die Espressomaschine zu, packte sie, sie war tierisch heiß, und knallte sie dem Hellblonden ins Gesicht. Der Kaffee spritzte. Das ging sehr schnell. Den Trick hatte ich schon mal verwendet. Der Kerl schrie gellend auf. Ich trat ihm zwischen die Beine. Dem Zwerg schlang ich den Bademantelgürtel um den Hals und schleifte ihn zur Wohnungstüre. Sein Mund war weit geöffnet, er krächzte und gurgelte und fuchtelte mit den Armen. Die Beine strampelten. Er wollte sich am Türrahmen festhalten. Seine Fingernägel schrappten über den Lack. Ich warf ihn die Treppe runter. Der Hellblonde erholte sich. Ich brüllte, so laut ich konnte. Er hatte seine Jacke geöffnet und stand vornübergebeugt da. Sein Hemd war kaffeenass. Er trug ein Pistolenhalfter. Er fummelte nach seiner Pistole. Ich war schneller. Ich hielt ihm die Pistole unter die Nase.

    »Raus!«

    Er stolperte zur Tür. »Wir sehen uns wieder«, sagte er noch. Zu mehr Gegenwehr war ich nicht in der Lage. Ich warf die Wohnungstüre zu und lehnte mich, schwer atmend, gegen die Flurwand. Die weiß gestrichene Küche war voller Kaffeeflecken. Ich verschnaufte, der Atem wurde ruhiger. Mit einer Stoffserviette wollte ich die Kaffeeflecken von der Wand wischen. Es wurde nur schlimmer. Ich würde die Küche komplett neu streichen müssen. Ich machte mir einen neuen Kaffee. Die Blumen der Kaffeetasse mit dem Zucker und der Milch drin leuchteten unberührt von allem wie bei Sonnenschein. Draußen, im Hinterhof, lärmten Spatzen. Eine einsame Taube gurrte im Geäst.

    2

    Kurz vor neun Uhr saß ich, trotz des Überfalls, im ›Dollinger‹. Doris servierte mir gerade den Cappuccino. Das war eine Bevorzugung, denn vor neun bekam im ›Dollinger‹ keiner was. Nur Sondergäste. Das waren ganz wenige.

    »Wie siehst du denn aus?«

    »Ach Gott, ja.«

    Doris war diskret und fragte nicht länger. Außerdem kannte sie mich.

    »Jaja«, sagte sie und brachte mir noch ein Glas Wasser. »Wo warstn die janze Zeit? Hab dir ja richtich vamisst.«

    »Jaja.«

    »Allet klar.« Das klang wie: ›Du und die Weiber. Immer das gleiche.‹

    Nach dem Überfall hatte ich mich erst nicht aus der Wohnung getraut. Ich stand unter Schock und stand kichernd in der Küche und trank den frisch gekochten Kaffee. Unter Schock kicherte ich immer. Ganze Lachsalven konnten sich entwickeln. Es gab einfach zu viele Komiker, die ständig meine Wege kreuzten. Aber warum passierte das ständig mir? Komische Begegnungen, die ja so komisch nicht waren! Die in mir einen unbändigen Lachreiz auslösten. Nachdem ich mich wieder gefangen hatte, schlich ich, wie in Feindesland, die Treppen runter. Nach den beiden Gestalten spähend. Sie waren verschwunden. Nicht auszumalen, was sie mit mir angestellt hätten, wenn ich mich hätte an den Stuhl fesseln lassen. Übergossen und verbrüht werden von dem kochenden Wasser. Was wollten die von mir? Ich versuchte, mich zu erinnern. An gestern. An einen Paternoster. Was hatte der Paternoster mit dem Überfall zu tun? Welche Chips suchten sie? Sehr mysteriös.

    Doris lag im Übrigen mit ihrer Vermutung richtig. Ich war schon seit Wochen nicht mehr im Dollinger gewesen. Vor nicht einmal zwei Monaten hatten ich und Jean, der Besitzer vom ›Dollinger‹, diese hundsgemeine Rothaarige samt Compagnon in ihrem knallroten Sportwagen an der Kreuzung Stuttgarter Platz Ecke Windscheidtstraße in die Luft gesprengt. Keine 40 Meter vom ›Dollinger‹. War das ein Knall! Ich hatte gar keine andere Wahl, als die Rothaarige ins Jenseits zu befördern. Sie oder ich! Dabei hatte Jean die Explosion ausgelöst. Aus Verspieltheit. Vor mir auf dem Tisch vor dem ›Dollinger‹, neben dem Cappuccino, stand der kleine Apparat. Jean fummelte an den Drähten herum und drückte auf den kleinen Knopf, weil ihm danach war.

    »Wo hastn das her? Niedlich!«

    Wumm!! Funktionierte einwandfrei. Gelbe Stichflamme. Meterhoch. Hatte ich mir im Internet bestellt. Anonym natürlich und postlagernd. Die Polizei sprach von Terroristen, die einen Anschlag auf deutsche Verfassungsorgane verübt hatten. Welche Organe, sagte die Polizei nicht. Außerdem wollte ich Barbara Vogelweide nicht im Dollinger antreffen. Sie wusste, dass es mein Stammlokal war, mein Wohnzimmer. Ich ging ihr aus dem Weg. Barbara wusste, dass wir die Explosion ausgelöst hatten. Dass es keine Terroristen waren, sondern ein Kneipenwirt und ich. Da war ich mir sicher. Aber nicht deswegen mied ich sie. Sie wusste etwas über mich, was ich nicht wusste, und auch gar nicht im Detail wissen wollte. Ich hatte meine Mutter, angeblich, in der Badewanne ersäuft, während sie sich im heißen Wasser an mir verlustierte. Erzählte mir die Rothaarige, bevor sie samt Auto in die Luft ging. Ich fühlte mich nach der Explosion frei wie ein Vogel, wie eine wippende Bachstelze. Dieses Gefühl wollte ich mir unbedingt bewahren. Außerdem wusste ich nicht im Geringsten, wie ich Barbara Vogelweide als wippende Bachstelze begegnen sollte. Mit meinen 48 Jahren war ich vor ein paar Wochen explosionsartig gerade auf die Welt gekommen. Als wäre ich ein Außerirdischer, der auf der Erde landete und plötzlich wie ein Mensch funktionieren sollte. Ich wusste bis dahin gar nicht, was eine Frau ist, und von mir als Mann wusste ich auch nicht mehr. Ich hatte ein lexikalisches Humanwissen, Kategorie Mensch, in meinem Kopf gespeichert wie auf einer Festplatte, ein rein theoretisches Fachwissen mit vielen Unterabteilungen, konnte es aber in keiner Weise auf mich anwenden. Ich hatte mich bis dahin jeden Tag neu erfinden müssen mangels Betriebsmasse. Mal war ich so, dann so, und an jede neue tägliche Erfindung meiner selbst glaubte ich ganz fest.

    Ich schaute die Leonhardtstraße hinunter. Vor den kleinen Läden und den Cafés saßen Mütter mit ihren Kindern. Die Kinder lärmten. Der Spielplatz gegenüber füllte sich. Knirpse sausten brüllend auf ihren Rollern und kleinen Fahrrädern vorüber, als verfolgten sie einen Säbeltiger. Sie trugen knallbunte Sturzhelme. Kleine Mädchen schoben im Pulk Kinderwägen. Die Welt hatte sich solide eingeteilt. Mütter und Kinder. Plaudernd in den Cafés. Aber weit und breit kein Mann. Als wären sie weggezaubert. Als gäbe es sie gar nicht. Niemand vermisste sie. Wo sind die denn alle? In meinem Leben hatte es nie einen Mann gegeben, keinen Vater, keinen Onkel, keinen Freund, nichts. Immer nur Frauen. Wie kam ich gerade jetzt darauf? Ich schaute an mir herunter. Du bist also ein Mann, dachte ich. Das wars dann aber auch schon. Kein Gedanke über meine Männlichkeit entwickelte sich in mir weiter.

    3

    Paternoster. Der Paternoster im Gebäude des Radios Berlin Brandenburg, des RBB, der im alten Rundfunkgebäude. Da war ich gestern. Hinter einer Wolke von Scham erinnerte ich mich. Ach ja, die Chips. Na logisch, na klar doch. Mich zogen immer wieder unwiderstehlich Schränke an, in die ich mich in meiner Kindheit immer verkrochen hatte. Eingehüllt in den Duft von Mottenkugeln wie in ein schweres, stoffloses Tuch. Die Mottenkugeln standen in Schälchen im Schrank und schützten die kostbaren Pelze meiner Mutter. Von dem schweren Duft wurde ich trunken, und ich erträumte mein Leben in dieser Trunkenheit. Der trunkene Schrank. In dem ich die Welt erfuhr. Durch die Schlüssellöcher der Schranktüren. Ich hatte keine andere Perspektive. Ich floh nach Berlin. Ich war 18 Jahre alt, kurz vor dem Abitur, und ich hatte mir ein strenges Schrankverbot auferlegt. Ein Gelübde abgelegt. Ich wollte leben, nicht in Schränken verkümmern.

    Aber der Paternoster im RBB zog mich unwiderstehlich an. Er wurde mein kleines Geheimnis, das ich am liebsten auch vor mir verschwiegen hätte. Wer schon wurde sich selbst gegenüber gerne wortbrüchig?

    Gestern war ich wieder in der weiten Halle des RBB. Von der aus die steinernen Treppen hochstiegen, in Galerien mündeten, die sich in unendlich langen Gängen verzweigten. Die Halle war leer. Von Weitem sah ich, halb versteckt hinter einer eckigen Steinsäule aus hellem Granit, den Paternoster, sein ständiges, unaufhörliches Gleiten. Ein Rauf und Runter in einem gleichmäßigen Atemzug. Ich hatte mich vergewissert, dass niemand mich sah, bevor ich in dem Paternoster verschwand. Es war wie das Betreten einer anderen Welt. Wie ein Aus-dem-Stand-heraus-Fliegen. Ich verwandelte mich in einen Vogel. In eine Bachstelze. Der Paternoster ruckelte ganz sacht, während er nach oben schwebte. Ich schloss die Augen und ließ mich tragen. Ein ungeheures Gefühl von Leichtigkeit befiel mich. Als wäre ich eine einzelne Feder. Das alte Holz roch. Bisweilen ächzte es. Ich drehte immer erst ein paar Runden, bevor ich das eigentliche Spiel spielte. Ich glitt vom Parterre bis in den obersten Stock, bis zum obersten Gipfel, und der Paternoster schwebte wieder nach unten. Auf und ab. Es war jedes Mal ein Ziehen in der Magengegend, wenn der Paternoster auf dem Scheitel oben angekommen war und wieder seine Reise nach unten begann. Jedes Mal hatte ich die Befürchtung, ich würde jetzt kopfabwärts sausen. Zerschmettern auf dem steinernen Kellergrund. Der Paternoster ächzte und stöhnte und ruckelte jetzt heftiger. Es war aus! Ich war verloren! Ich würde abstürzen, wie Ikarus abgestürzt war. Der Paternoster besann sich. Er glitt friedlich abwärts. Ich stand fest auf beiden Füßen. Ich fasste wieder Vertrauen. Jetzt konnte ich befreit spielen. Das Spiegelspiel, das Inselhüpfen. Ich wusste, dass es ein kindisches Spiel war. Aber ich konnte mich darin verlieren. Schmerzfrei. Ohne Erinnerungen. Ich wollte nichts wissen. Nichts von Barbara Vogelweide. Von niemandem. Von meiner Mutter, die nach meiner Flucht nach Berlin vor 30 Jahren von mir ertränkt in der Badewanne aufgefunden wurde, erst recht nicht. Einen Vater hatte es nie gegeben. Nur ich sein. Frei sein. Spielen. Hüpfen. Ich. Einfach nur ich. Und keine Mühlsteine um den Hals haben, die mich in Abgründe niederzogen.

    In die Rückseite der Zelle des Paternosters war ein großer Spiegel eingelassen. Es gab nicht in allen Zellen Spiegel. Nur in wenigen. Ich wusste nicht, warum das so war. Es war eben so. Vielleicht waren es Zellen für weibliche Angestellte. Die Sekretärinnen warfen einen letzten Blick auf ihre Garderobe. Zupften an den Nähten ihrer Strümpfe, am Kragen ihrer Jacken, ordneten die perlmuttenen Knöpfe ihrer Blusen. Ich wusste es nicht.

    Der Spiegel war blind. Abgenutzt. Von der langen Zeit. Von den vielen Blicken. Nur hie und da blitzte es auf zwischen den Blindstellen. Und auch nur, wenn Licht in die Zelle des Paternosters fiel, ehe sie wieder, wenn auch nur ganz kurz, in schattiges Dunkel glitt, um erneut ins Licht zu schweben. Dann konnte ich mich sehen in den kleinen Spiegelstücken, die mich widerspiegelten. Es waren funkelnde Inseln in einem Meer von Blindheit. Ich sah nur Ausschnitte meines Gesichtes in den kleinen, gezackten Spiegelstücken. Die Nase oder ein Auge oder nur den Teil eines Auges, das Ohrläppchen sah ich, ein Nasenloch, das ich aufblähte wie ein Ochse, oder ich klimperte mit den Augenlidern, zog den Mund breit, und dann wanderte ich weiter in meiner Spiegelinselwelt. Manche der Spiegelstücke waren in sich gebrochen, als wären winzige Kometen eingeschlagen. Sternenförmig breiteten sich die Wellen vom Zentrum des Aufschlags aus. In diesen Sternen geschahen Verwandlungen, als wohnten in ihnen Zauberer. Das Augteil vervielfältigte sich oder wurde schief und krude, wie in einem Zerrspiegel auf der Kirmes, nur viel kleiner, viel winziger, viel zarter und voller Geheimnisse. Jedes Mal veränderte sich alles, je nachdem, wie ich mein Gesicht hielt, es bewegte, drehte, wie ich grimassierte. Es war nicht vorherbestimmbar. Immer eine Überraschung. Es war köstlich. Ich klatschte in die Hände vor Vergnügen, wenn zum Beispiel meine Nase mir trompetenförmig aus den Splittern entgegensah. Oder mein Auge mich anstierte wie das eines Fabelwesens. Es war meine Märchenwelt, in der ich unbeschwert und von niemandem gestört spielen durfte.

    Ich hatte ihn nicht bemerkt. Ich war versunken. Er mischte sich ganz unauffällig in meine splitternde Fabelwelt, hüpfte mit über die Blindstellen, die stumpfen Inseln bis zum nächsten Spiegelstück. Sein leises Lachen mischte sich in meines. Erst langsam bemerkte ich in meiner Freude, meiner Versunkenheit, dass da ein Fremder war, ein Gast, ein Mitspieler, der mit mir wetteiferte. Ich brach das Spiel abrupt ab und drehte mich um. Wer war dieser Eindringling?

    Vor mir stand in gebückter Haltung, die Hände auf die Knie gestützt, ein Koloss, ein Berg, ein fleischiges Ungetüm, das mich freundlich anstrahlte, mich beiseite schob und in den Spiegel grimassierte. Mit den Zeigefingern fasste er sich in die Mundwinkel und zog den Mund breit. Dazu rollte er mit den Augen. Dann richtete er sich auf und der Paternoster verdunkelte sich schlagartig. Der Mensch füllte mit seinem breiten Rücken den Rahmen des Paternosters aus.

    »Schade.« Er lächelte. »Machen Sie das öfter?«

    Ich war furchtbar verlegen, fühlte mich ertappt, entblößt, um mein Geheimnis beraubt. Er hatte dichtes, weißblondes, kurz geschnittenes Haar und eine riesige, fleischige Nase, die gebirgsartig aus seinem Gesicht ragte, das von Tälern, Hügelchen, Knuppeln und gebüschartigen Bartstoppeln durchzogen war. Tief liegende, hellblaue Augen, die selbst in der Dunkelheit glommen. Zwei lange, fast senkrechte Furchen durchzogen schluchtartig diese Gesichtslandschaft, in der man mit den Blicken ohne Unterlass spazieren gehen konnte. Von den Backenknochen stürzten sie abwärts, an dem breiten, immer noch freundlich lächelnden Mund vorbei, bis zu den Kinnladen, wo sie aufschlugen. Ein Gesicht voller unbändiger Energie, fast kriegerisch. Es fehlte nur der Helm. Der Kürass um die mächtige Brust. Er trug einen sandfarbenen, völlig verknitterten Leinenanzug, soweit ich das erkennen konnte. Darunter ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift ›Hau den Lukas‹. Dieses Ungetüm von Mann lächelte mich nach wie vor an, wobei er seinen Schädel hin und her wiegte. Was war er, wenn

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