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Endstation Bali: Eine Kriminalgeschichte
Endstation Bali: Eine Kriminalgeschichte
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eBook292 Seiten4 Stunden

Endstation Bali: Eine Kriminalgeschichte

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Über dieses E-Book

Dora, Charlotte, Anita und Erika, vier Frauen zwischen 63 und 80 Jahren, gründen eine Alters-WG in Dora de Boers Haus in Meersburg am Bodensee. Nach ihrer Devise 'entweder fatalistisch auf das Ende warten oder etwas tun', planen sie eine vorgesehene Berlin- Reise kurzerhand in eine Bali-Reise um. Gut gelaunt starten die vier Freundinnenin ihr Abenteuer und tauchen ein in magische Welten. Nach und nach schlägt die Stimmung um. Im Schatten der Vulkane kommt es dann zum großen Knall. Nach Meersburg zurückkehren werden am Ende nur noch zwei der vier Freundinnen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum6. Juni 2016
ISBN9783886276943
Endstation Bali: Eine Kriminalgeschichte
Autor

Ulla Neumann

Ulla Neumann hat vor über zwanzig Jahren Entwürfe für balinesische Holzschnitzer gemacht.Bei ihren Besuchen hat sie beeindruckende Momente erlebt und Einblicke in familiäres und ursprüngliches dörfliches Leben gewonnen. Sie ist von der Insel und den Menschen fasziniert. Regelmäßig reist sie nach Bali. Sie lebt am Bodensee.

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    Buchvorschau

    Endstation Bali - Ulla Neumann

    Sabine

    Im Mittelalter hätten sie mindestens eine von ihnen als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt oder im See ertränkt«, flüsterte Walter Schmieder seiner Frau Anne zu.

    »Ja, aber welche?«, fragte sie kaum hörbar.

    Es war ein ungemütlicher, kalter und feuchter Novembertag. Ein Tag wie die Tage zuvor. Keine Sonne, nur ab und zu Nieselregen aus einem Himmel, der wie eine graue Decke ohne Risse und Löcher über dem Bodensee hing. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Im Geäst des kahlen Esskastanienbaumes waren zwischen braunen Stachelkugeln vier Rabenkrähen dabei, sich lautstark für die Nacht einzurichten.

    Walter und Anne waren auf dem schmalen Trampelpfad, der dicht am Ufer des Bodensees entlang die Grundstücke der befreundeten Nachbarn verband, unfreiwillig Beobachter der vier dunklen Frauengestalten geworden. Die Frauen saßen hinter bodentiefen Fenstern bei Kerzenlicht um ein flackerndes Kaminfeuer. Drei von ihnen meditierten scheinbar, während die Vierte trockene Maronischalen ins Feuer warf, die wie kleine Igel aussahen. Aus den stachligen Kugeln stoben Minifeuerwerke. Bevor sie in Flammen aufgingen, ließen sie einen gespenstischen Schein über die Frauengesichter huschen und Charlottes kurze, rote Haare wie einen Heiligenschein aufleuchten.

    »Beim letzten Vollmond haben sie wieder das Haus ausgeräuchert«, flüsterte Anne.

    Sie fasste ihren Mann bei der Hand und zog ihn weiter. Es war ihr peinlich, dass sie voyeuristisch die Frauen beobachteten.

    Der Pfad war vom ständigen Regen aufgeweicht und bei jedem Schritt schmatzte der Matsch unter ihren Schuhsohlen. Charlotte, Walters Tante, die Frau die das Kaminfeuer schürte, hatte sie entdeckt und winkte grüßend zu ihnen hinaus. Dora, die Hausherrin, Anita und Erika, die wie Charlotte momentan Mitbewohnerinnen waren, spähten daraufhin ebenfalls in den Garten. Der schwarze Kater, der auf Charlottes Schoß saß, sprang auf und lief zur Terrassentür. Dora öffnete sie ihm und er schloss sich Walter und Anne an, die auf dem Weg zu seinem richtigen Zuhause waren.

    Grolls, ein älteres Ehepaar, das ebenfalls eines der Häuser direkt am Seeufer bewohnte, waren verreist. Walter hatte versprochen, während ihrer Abwesenheit ein Auge auf das Haus und die Katze zu haben.

    Nachdem Walter und Anne die grüne Grundstücksgrenze des im Moment verwaisten Anwesens überschritten hatten, flüsterten sie nicht mehr. Während der Kater ihnen folgte, war er immer wieder stehen geblieben und hatte angewidert eines seiner Vorderpfötchen geschüttelt. Walter machte einen Rundgang um das Haus. Mit ihm, dem Kriminalhauptkommissar, hatten Grolls einen kompetenten Aufpasser. Anne füllte währenddessen die Futterschüssel des Katers, der sich darauf stürzte, als ob er seit Tagen hungerte. Sie ließen die Rollläden herunter und knipsten, bevor sie sich auf den Rückweg machten, das Licht im Flur an. Das Haus sollte bewohnt erscheinen.

    Zu ihrem eigenen Haus zurück staksten Walter und Anne wieder den schmalen, nassen Uferweg entlang. Dora de Boers Wohnzimmer war nun hell erleuchtet und die vier Frauen liefen hin und her. Vermutlich waren sie mit den Vorbereitungen für ihr Abendessen beschäftigt.

    »Die haben sich nicht gesucht und doch gefunden.« Anne betonte das Nicht. Es war ironisch gemeint. »Ich frage mich, was sie aneinander finden. Deine Tante und Dora kann ich ja noch verstehen, aber die immer polternde Anita und die stille Erika, wie passt das zusammen? Der große Knall ist bei denen doch schon vorprogrammiert.«

    »Es ist doch nur eine momentane Zweckgemeinschaft«, beschwichtigte Walter. »Charlotte hat gesagt, sie wollen ausprobieren, ob sie in einer Wohngemeinschaft finanziell günstiger zurechtkommen und ob sie überhaupt noch in der Lage sind, in einer Gemeinschaft zu leben. Außer Erika leben die anderen drei Frauen doch schon seit Jahren allein. Sie haben auch höchstens ein Jahr Zeit für diesen Versuch. Doras Immernoch-Ehemann Alexander, von dem sie seit über 20 Jahren getrennt lebt, steht in Basel nun seit vier Jahren ›Gewehr bei Fuß‹ und drängt auf eine Generalsanierung des Hauses. Er ist schließlich auch nicht mehr der Jüngste. Dora hat ihm nach dem Auszug ihres Sohnes noch ein Jahr Stillhalten abgerungen. Länger wird er sich aber nicht mehr hinhalten lassen. Bis dahin müssen die Frauen wissen, wie und wo ihr Leben weitergehen soll.«

    Vor seiner Frau zwängte Walter seinen 1,96 Meter langen Körper durch die Kirschlorbeerhecke, die ihr Grundstück von Dora de Boers Garten trennte. Dabei holte er sich einen nassen Bauch. Ein Bewegungsmelder erfasste sie und beide blinzelten in die plötzliche Helligkeit.

    »Ich finde es bewundernswert«, sagte Anne, »was diese Frauen aus ihrer Situation machen. Sie müssen sich jeden Euro, den sie ausgeben, gut überlegen. Deiner Tante Charlotte geht es doch wenigstens so. Dora hatte es als Hebamme auch nicht leicht und die letzten Jahre, die sie aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr gearbeitet hat, fehlen ihr doch bei der Rente. Sie hat ja auch nicht umsonst den Herzinfarkt gehabt. Von Erika und ihrem Schicksal mit dem Krebs will ich gar nicht reden. Die Ausnahme scheint mir Anita mit ihrem Schweizer Bankkonto zu sein. Aber was da drauf ist, ist ein Geheimnis. Und mit über 72 ist die Arbeit im Sommer auf Mallorca auch in einer angeblich gut gehenden Modeboutique kein Honigschlecken. Mir kommt alles, was Anita so erzählt, etwas zu großspurig vor.«

    »Sie haben wenig Geld, aber du darfst nicht vergessen, jede wohnt im eigenen Haus. Auch wenn es nicht gerade groß und dazu sehr alt ist wie das von Charlotte«, erwiderte Walter.

    »Aber davon abbeißen können sie nicht«, setzte Anne nach.

    Walter legte einen Arm um seine Frau. Er sagte nichts mehr und kraulte sich mit der freien Hand seinen grau melierten Schnauzer. Sie schauten noch eine Weile in Richtung des in der Dunkelheit verschwundenen Seeufers. Kleine Wellen verursachten beim Auslaufen ein leises Plätschern. Als Walter bemerkte, dass Anne fröstelte, zog er sie zum Haus.

    Charlotte, mit über 80 die Älteste der Probe-WG, hatte an diesem Abend gekocht. Gut musste es sein und gleichzeitig sollte es nicht viel kosten. Es gab Gemüsesuppe mit Kräutern aus Charlottes Heimat, der Provence, gewürzt wie eine Bouillabaisse, serviert mit gerösteten und mit scharfer Mayonnaise bestrichenen Baguettescheiben.

    »Soll ich morgen Pellkartoffeln mit Kräuterquark machen?«, fragte Erika.

    Sie bildete mit Dora, die ebenfalls die 65 noch nicht erreicht hatte, die jüngere Hälfte des Quartetts.

    Die Frauen hatten den Ehrgeiz, jeden Tag ein vollwertiges Essen auf den Tisch zu bringen, das im Durchschnitt nicht mehr als einen Euro pro Person kosten sollte.

    Jede von ihnen gab am Anfang des Monats einen festen Betrag in die Haushaltkasse. Charlotte, Erika und Anita bezahlten Miete an Dora. Außerdem hatten sie eine »Reisekasse« angelegt. Sie hatten sich vorgenommen, sich noch einen kleinen Traum zu erfüllen. Sie planten eine gemeinsame Reise und hielten bereits nach Schnäppchen Ausschau. Zusammen wollten sie von Friedrichshafen aus nach Berlin fliegen oder vielleicht sogar einmal nach Paris. Charlotte hatte dort lange gelebt.

    Das Wohngemeinschaftsexperiment lief erst den dritten Monat. Erika war vier Wochen später dazugekommen. Sie und Dora waren Freundinnen seit ihrer Meersburger Kindergartenzeit.

    Nachdem Erikas Mann Klaus sie vor die Wahl gestellt hatte, mit ihm und seiner 26 Jahre jüngeren Geliebten Mila das Haus, das sie seit ihrer Hochzeit als Familienpension betrieben, zu teilen oder auszuziehen, war sie weinend bei Dora aufgetaucht. Diese hatte Erika in die Arme genommen, einen Beruhigungstee gekocht, ihr ohne viel zu reden eine ausgiebige Fußreflexzonen-Massage mit Lavendelöl verpasst und dann ihr Gästezimmer angeboten.

    »Was werden die Leute sagen?«, jammerte Erika.

    »Da musst du durch. Lass sie reden. Über mich haben sie auch geredet und heute ist das doch Schnee von gestern.«

    Dora sagte es ohne Bitterkeit.

    Erika hatte in ihrem schwarzen Smart zwei Koffer und ihr Sparbuch mitgebracht.

    Sie hoffte immer noch, dass die Tür zwischen ihr und ihrem Mann noch nicht ganz zugefallen war, was die anderen drei Frauen überhaupt nicht verstehen konnten.

    »Ich würde an deiner Stelle sofort zu einem Anwalt gehen und ihn aus dem Haus werfen lassen«, sagte Anita empört, etwas zu laut und unsensibel wie immer.

    Dora griff beschwichtigend ein:

    »Jetzt lass ihr mal Zeit. So einfach ist das nicht mit dem Rauswerfen. Die heute schöne Pension oben in Riedetsweiler ist immerhin aus dem Elternhaus von Klaus entstanden.«

    Anita mochte noch nicht aufgeben:

    »Vielleicht fällt uns ja etwas ein, wie wir ihn auf die eine oder andere Art loswerden!«, sagte sie verschwörerisch und bewegte dabei energisch säbelartig eine Handkante vor ihrem Hals.

    Dora konnte nur mit dem Kopf schütteln und sagte zu Erika:

    »Früher oder später wirst du schon einen Anwalt brauchen, und wenn es nur mal für eine Beratung ist.«

    Dora dachte an die Zeit von vor drei Jahren, als Erika an Brustkrebs erkrankt war und sehr unter der Chemobehandlung gelitten hatte. Damals hatte Klaus Mila eingestellt. Sie sollte Erika entlasten. Mila übernahm nach zwei Jahren auch Erikas Platz im Bett von Klaus. Zuerst mochte Erika es nicht glauben. Irgendwann konnte sie dann nicht länger ihre Augen vor dem, was sich da abspielte, verschließen. Sie stellte ihren Klaus nach bald 40 Jahren Ehe vor die Entscheidung:

    »Mila oder ich.«

    Daraufhin stellte Klaus Erika vor die Entscheidung:

    »Mich und Mila, oder wenn du das nicht erträgst, musst du eben gehen.«

    Und Erika war zu Dora gegangen und in ihr Gästezimmer eingezogen.

    Sechs Wochen zuvor war, wie jedes Jahr, Anita aus Mallorca eingeflogen. Eigentlich wollte sie nur ein paar Tage bleiben. Wie immer war sie über Basel mit Laptop, Tablet und Smartphone auf dem neuesten technischen Stand zu Besuch gekommen. Nachdem sie die leere, aber halb möblierte Wohnung im ersten Stock entdeckt hatte, überlegte Anita, eventuell den Winter am Bodensee zu verbringen. Doras Sohn Andreas, der bis vor Kurzem dort gewohnt hatte, war mit seiner neuen Liebe, der Nachfolgerin seiner Mutter als Hebamme, Kerstin Fischer und deren Tochter Annika in eine der Terrassenwohnungen am Sonnenbühl eingezogen.

    »Willst du die Wohnung nicht wieder vermieten? Brauchst du, nachdem du von deiner Tante geerbt hast, die Miete nicht mehr?«, fragte Anita sehr direkt.

    Das klingt neidisch, dachte Dora. Sie waren durch die Räume geschlendert, in denen nur noch die Möbel standen, die Andreas – oder vielleicht doch eher Kerstin – nicht mehr haben wollten.

    »Die Miete könnte ich schon brauchen, aber jetzt ist Alexander mit seinem Umbauvorhaben nicht mehr zu bremsen. Er ist Mitbesitzer des Hauses. Und er hat das Geld, um seine Hausträume mit dem ausgebauten Dachgeschoss und einer Glasfront zum See zu verwirklichen.«

    Dora wehrte sich seit Jahren gegen dieses Vorhaben. Nur, langsam sah sie ein, dass etwas geschehen musste. Das noch von ihrem Großvater stammende mehr als 100 Jahre alte Haus war wirklich sanierungsbedürftig, die ständigen kleinen Reparaturen waren nur Flickwerk. Außerdem entsprach die Wärmedämmung nicht dem Stand heutiger Anforderungen.

    Als die zwei Frauen danach über den Dachboden gingen und Anita die Möbel von Doras im letzten Jahr verstorbener Tante Hortense entdeckte, richtete sie total begeistert verbal die einen Stock tiefer liegende verwaiste Wohnung ein. Auf der Treppe nach unten fragte sie dann:

    »Hat Alexander im Moment keine Freundin oder nennt er sie Lebensabschnittspartnerin? Was machst du denn, wenn er dann womöglich mit einer von seinen blonden Schnecken hier einziehen will?«

    Doras grün gesprenkelte Augen funkelten und sie dachte, du lernst es auch nicht mehr. Sie öffnete ihre Wohnungstür und sagte nichts.

    Einen Tag später fragte Anita ihre Freundin Dora direkt, ob sie in der Zeit, in der die obere Wohnung nun doch leer stand, nicht für ein paar Monate dort einziehen könne.

    »Ich überlege, ob ich auf meine alten Tage wieder nach Deutschland zurückkommen soll. Ach, weißt du, die Winter mit Schnee sind hier doch so herrlich. Ich vermisse das wirklich. Schließlich bin ich auch nicht mehr die Jüngste und je länger ich auf Mallorca lebe, desto öfter habe ich das Gefühl, dass wir Ausländer doch nur geduldete Gäste sind. Richtig dazugehören werden wir nie!« Sie fügte dann noch schnell hinzu: »Ich werde dir natürlich Miete zahlen.«

    Zur selben Zeit war Charlotte Mayer, die ihren Wohnsitz in Frankreich in der Provence hatte, bei ihrem Neffen Walter Schmieder und seiner Frau Anne, Doras Nachbarn, zu Besuch. Charlotte und Dora hatten sich schon vor zwei Jahren angefreundet. Die zwei Frauen hatten beide ein Problem mit dem Herzen. Charlotte waren nach einem Herzinfarkt zwei Bypässe in einer Klinik in Toulon gelegt worden und Dora nach einem Infarkt zwei Stents im Klinikum in Friedrichshafen.

    Anita und Charlotte, die beide aus der Modebranche kamen, hatten sich bei Dora kennengelernt und angefreundet. Rein optisch waren Anita und Charlotte völlig verschieden. Anita war 1,75 Meter groß, kräftig aber nicht dick, eher sportlich. Wenn sie ihr hellbraun gefärbtes, naturgewelltes Haar nicht offen trug, flocht sie es zu einem dicken Zopf im Nacken. Sie bevorzugte klassische, sportlich elegante Designerkleidung, die sie angeblich auch in ihrer Boutique in Port de Sóller auf Mallorca verkaufte. Charlotte dagegen war ein ein bisschen mehr als 1,50 Meter großes, kleines Zirkuspferdchen mit streichholzlangen, feuerroten Haaren, die sie mit viel Gel meist igelig in Form brachte. Sie liebte bei ihrer Kleidung kräftige Farben. Anne, die Frau ihres Neffen, genierte sich manchmal, wenn Charlotte in ihrem Alter noch hippieartig durch Meersburg schlenderte. Selbst im Sommer mit den vielen Touristen fiel sie auf. Und im Winter, wenn die Einheimischen mehr unter sich waren, wurde dem Paradiesvogel noch neugieriger hinterhergeschaut.

    Charlotte war die 800 Kilometer von der Provence bis Meersburg in ihrer weinroten, alten Charleston-Ente angereist. Ursprünglich wollte sie nur zwei Wochen bleiben. Da die Wohnung in Doras Haus leer stand und Anita sich überlegte, den Winter probeweise in Deutschland zu verbringen, beschloss auch Charlotte, ihren Aufenthalt zu verlängern. Dora erklärte sich viel zu schnell bereit, den zwei Frauen die Wohnung zu vermieten. Als sie ihrer Freundin Rose, die zwei Häuser weiter ebenfalls am Seeufer wohnte, davon erzählte, schüttelte diese den Kopf.

    »Oh Dora, du hast mal wieder mit dem Herzen entschieden und deinen Verstand ausgeschaltet. Wie konntest du nur dazu einwilligen. Der Ärger ist doch schon vorprogrammiert.«

    »Wir stehen doch alle drei vor der Wahl: Entweder führen wir unser Leben im gewohnten Trott so weiter – und wer weiß schon wie lang noch? Oder wir nehmen nochmals eine Veränderung in Angriff«, rechtfertigte sich Dora. Und wie zur Entschuldigung fügte sie noch hinzu: »Vielleicht ist es ganz gut für mich, wenn ich eine Weile gezwungen bin, mit anderen zu leben. Ich lerne dabei vielleicht auch, mit meiner ständigen Angst vor der Demenz besser umzugehen.«

    Wenn Dora damals gewusst hätte, was sich aus dieser Entscheidung entwickeln würde, hätte sie Charlotte und Anita vermutlich schreiend aus ihrem Haus gejagt.

    Die zwei so grundverschiedenen Frauen bezogen das Stockwerk über Dora in dem Haus am See. Sie richteten es sich gemütlich ein mit Möbeln und Hausrat von Doras verstorbener Tante Hortense, die auf dem Dachboden und in der Garage herumstanden.

    Es war ein schöner, klarer Altweibersommertag. Die Berge standen direkt vor der Haustür und Anita sagte:

    »Vom Höchsten herunter müsste man heute ewig weit sehen. Kommt, lasst uns einen Ausflug machen. Ich lade euch, sozusagen als verspäteten Einstand, zum Abendessen im ›Mohren‹ in Limpach ein.«

    Nach etwas mehr als einer halben Stunde Autofahrt glaubten sie sich im Himmel. Die Welt lag ihnen bis weit in die Schweiz hinein zu Füßen. Als es zu dämmern begann und kühler wurde, nahmen sie Anitas Einladung zum Abendessen gerne an. Später, beim Verlassen des Lokals, gestand Anita bedauernd, dass sie die heimatlichen Wildgerichte schon manchmal auf ihrer Insel vermisse.

    Dora hatte außer dem Hausrat ihrer Tante auch etwas Geld geerbt. Sie hätte jetzt endlich die finanziellen Mittel gehabt, um einen lang gehegten Traum zu verwirklichen. Sie hätte für einige Monate nach Indien reisen und sich mit ayurvedischen Heilmethoden beschäftigen können. Bereits während ihrer Zeit als Hebamme hatte sie dieses Thema interessiert, aber Dora glaubte, nie genug Geld und Zeit dafür erübrigen zu können. Die Indien-Reise würde sie dann eben ein Jahr später machen. So wie es aussah, war ihr Immernoch-Ehemann Alexander fest entschlossen, ihr gemeinsames Haus vollkommen um- und auszubauen. Da wäre es vielleicht keine schlechte Idee, während der heißen Bauphase längere Zeit zu verschwinden. Dora fragte sich manchmal, warum Alexander so versessen darauf war, das Haus umzubauen. Er besaß doch in Basel ein Penthouse. Beabsichtigte er am Ende, auf seine alten Tage wieder nach Meersburg zu kommen? Wollte er zurück in den Schoß der Familie? Dora wollte sich diese Situation nicht vorstellen. Alexander war so ruhelos und hatte öfter wechselnde, junge, meist blonde Freundinnen. Dora träumte davon, den Rest ihres Lebens ohne Hektik, mit genügend Zeit für sich und ihre Interessen verbringen zu können. Alexander war da nicht eingeplant.

    Das Zusammenleben mit ihren drei Freundinnen war nicht gerade ein Schritt in diese Richtung. Sie war es gewohnt, allein zu leben. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte.

    Normalerweise ließ sie tagsüber das Radio leise im Hintergrund laufen. Wenn Nachrichten kamen, hörte sie genauer hin. Als ein regionaler Nachrichtensprecher von einem neuen Fall von Pferdeschändung zu berichten begann, drückte Anita den Ausknopf und sagte:

    »Also das muss ich mir nicht auch noch antun.«

    Dora dachte, es werden keine einfachen Monate werden. Dazu sind wir zu verschieden. Sie wusste, dass Reibereien unausweichlich bevorstanden.

    Als beruhigend empfand sie, dass das Experiment höchstens ein Jahr dauerte. Alexander würde schon dafür sorgen. Ihr selbst stand eine neue Erfahrung bevor. Ob eine gute oder eine schlechte, das stellte sich erst am Ende heraus.

    Gegessen und aufgeräumt wurde jeden Abend gemeinsam. Anita hatte einen Putz- und Spülbeckentick. Sie gab nicht eher Ruhe, bis die Edelstahlspülen auf beiden Stockwerken fleckenlos poliert glänzten. Keine der Frauen traute sich, danach noch Wasser in einer der Küchen zu holen, sondern sie gingen dazu ins Badezimmer, um nicht Anitas Unmut auf sich zu ziehen.

    Es war auch Anita, die eines Abends bei einem Glas Wein das Gespräch auf das Reisen brachte und unvermutet den Satz fallen ließ:

    »Hat keine von euch Lust, mal für ein paar Tage nach New York zu fliegen?«

    Die Frauen sahen sich erstaunt an. Sie hatten in ihren Träumen an Berlin, vielleicht noch an Paris gedacht. Aber New York?

    »Warum New York?«, fragte Dora verwundert:

    »In unserem Alter muss die Frage doch eher lauten: warum nicht New York?«, antwortete Anita etwas genervt.

    Sie träumte schon lange von New York. Dora war schon einmal mit ihrer Tante Hortense dort gewesen. Ihre Tante hatte sie damals zu dieser Reise eingeladen. Das war, nachdem Doras Mann wegen eines lukrativen Angebots der Pharmaindustrie nach Basel gezogen war und sich später auch von ihr getrennt hatte, ohne jemals die Scheidung einzureichen.

    »New York ist teuer, laut und anstrengend. Für das, was eine Woche New York kostet, können wir drei Wochen oder noch länger auf Bali verbringen«, sagte Dora zögernd.

    »Bali, die Insel der Götter und Dämonen«, spottete Anita. »Wie kommst du denn auf Bali? Was willst du denn auf Bali? Ausgerechnet du mit deinem Herzproblem. Wenn du dort einen Herzinfarkt bekommst, bist du tot, bevor du in einem vernünftigen Krankenhaus ankommst!«

    »Ich glaube, es gibt Schlimmeres, als auf Bali zu sterben«, sagte Erika leise.

    »Ich war noch nie auf Bali und noch nie in New York«, meinte Charlotte. »Ich könnte mir beides interessant vorstellen. Aber lasst uns doch einfach mal so tun, als ob wir uns so etwas leisten könnten und die verschiedenen Flug- und Hotelpreise im Internet recherchieren.« Sie schaute dabei aufmunternd in die Runde und herausfordernd auf Anita. »Entweder New York oder Bali! Mein Gott, wie lange ist es her, dass ich solche Zukunftspläne gemacht habe. Aber wenn ich mir vorstelle, dass wir uns zusammen in ein Abenteuer stürzen, da bekommt das Wort Zukunft doch wieder Bedeutung. Wir haben ein Ziel.«

    Charlottes braune Augen hatten plötzlich ein gewisses Funkeln. Anita, Dora und Erika nickten mehr oder weniger begeistert.

    »Wir müssen ja auch nicht alle zusammen ein Ziel ansteuern. Hauptsache, wir haben Spaß beim Planen«, ergänzte Charlotte.

    »Ich bin für New York zuständig«, rief Anita.

    »Und ich kümmere mich um Bali«, sagte Dora.

    »Ich dachte, wir fliegen nach Berlin«, warf Erika ein.

    Ihre Augen wurden dabei ganz groß. Ihr Sohn wohnte in Berlin. Sie war noch nie bei ihm gewesen. Ihre Tochter lebte seit fünf Jahren in Australien. Auch sie hatte sie noch nie besucht. Ihr Mann Klaus verreiste nicht so gern. Außerdem war es mit der Familienpension auch nicht einfach, Ferien zu organisieren.

    »Warum willst du denn verreisen? Schöner als am Bodensee ist es auch woanders nicht«, sagte Klaus immer.

    Damit war für ihn dieses Thema erledigt. Weiter als bis nach Stuttgart und München war Erika in ihren 63 Lebensjahren noch nicht gekommen. Und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass es am Bodensee wirklich sehr schön war.

    »Wenn Bali oder New York am Ende unerschwinglich für uns ist, können wir immer noch eine Woche in Berlin und später vielleicht auch noch mal zwei Wochen in meinem Haus in der Provence Ferien machen«,

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