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Märchen von Wölfen: Zum Erzählen und Vorlesen
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eBook224 Seiten3 Stunden

Märchen von Wölfen: Zum Erzählen und Vorlesen

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Über dieses E-Book

Im deutschsprachigen Raum sind "Rotkäppchen" und "Der Wolf und die sieben "Geißlein" wohl die bekanntesten Märchen, in denen Wölfe vorkommen. Dort ist der Wolf böse und bringt den Tod und muss am Ende überwältigt oder überlistet werden. Dieses Bild hat sich Generationen von Kindern eingeprägt.
Aber nicht in allen Überlieferungen wird der Wolf so einseitig dargestellt. Der Wolf ist eins der interessantesten Tiere des Volksmärchens und erzählenden Literatur. Er ist keineswegs nur einfach "der böse Wolf". Seine Wesenszüge sind individuell verschieden, und seine körperlichen Eigenschaften und Fähigkeiten entsprechen denen des realen Wolfes. Bei den Naturvölkern war er als ebenbürtiger Jäger geachtet, die Fabel benutzt ihn, um negative Eigenschaften des Menschen zu spiegeln und zu tadeln, im Zaubermärchen steht er mit seinen natürlichen und übernatürlichen Kräften dem Menschen oft helfend zur Seite und macht damit das glückliche Ende erst möglich.
Die Märchen, Mythen und Fabeln der vorliegenden Sammlung zeigen ein sehr facettenreiches Bild.

Ingrid Jacobsen ist Märchenerzählerin und Seminarleiterin. Sie lebte lange Jahre in Lateinamerika und sammelte Märchen der mündlichen Tradition. 2001-2007 war sie Vizepräsidentin der Europäischen Märchengesellschaft, verantwortlich insbesondere für die Erzählförderung. Sie ist Mitherausgeberin verschiedener Kongressbände der EMG und mehrerer Märchen-Anthologien.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. Nov. 2016
ISBN9783868263367
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    Buchvorschau

    Märchen von Wölfen - Ingrid Jacobsen

    Literatur

    Einführung: Der Wolf in Märchen, Mythen und Sagen

    In dem Märchen von der Steinsuppe bittet die Ente den Wolf, »ein paar dieser schrecklichen Wolfsgeschichten zu erzählen« und seine Meinung darüber zu sagen. »Schreckliche Wolfsgeschichten« – denkt sie dabei an »Rotkäppchen« und an »Der Wolf und die sieben Geißlein«? Märchen, mit denen wir Menschen aufgewachsen sind und die unser Bild vom »bösen Wolf« nicht nur im Märchen geprägt haben. Der Wolf entzieht sich dieser Bitte, da die Steinsuppe fertig ist und gegessen werden soll. Was er darüber denken könnte, erzählt ein kurzes russisches Märchen: Der Wolf ist es leid, sein Leben lang von Jägern, Schäfern und Hunden verfolgt zu werden. Er will auswandern in eine andere Welt. Ein Weiser, dem er auf seinem Weg begegnet, fragt, ob er seine Zähne dabei habe. – »Natürlich.« – Darauf der Weise: »Solange du die hast, wirst du nirgends Ruhe finden.«

    Erinnern wir uns an das Gespräch zwischen Rotkäppchen und dem »bösen Wolf«, wie die Brüder Grimm es notierten:

    »Rotkäppchen, sieh einmal die schönen Blumen, die ringsumher stehen, warum guckst du dich nicht um? Ich glaube, du hörst gar nicht, wie die Vöglein so lieblich singen? Du gehst ja für dich hin, als wenn du zur Schule gingst, und ist so lustig haußen in dem Wald.« (KHM 26)

    In Ludwig Bechsteins »Märchenbuch« von 1857 heißt es weiter: »… und wachsen so gute Kräuter hierinne, Heilkräuter, mein liebes Rotkäppchen.« – »Ihr seid gewiss ein Doktor, werter grauer Herr?«, fragte Rotkäppchen, »weil Ihr die Heilkräuter kennt. Da könntet Ihr mir ja auch ein Heilkraut für meine kranke Großmutter zeigen!« – »Du bist ein ebenso gutes als kluges Kind!«, lobte der Wolf. »Ei, freilich bin ich ein Doktor und kenne alle Kräuter!« Er nennt und zeigt sie nun: Wolfsbast und Wolfsbeeren, Wolfsmilch und Wolfswurz, und Rotkäppchen wundert sich, dass alle nach dem Wolf heißen. Der Wolf darauf: »Nur die besten, nur die besten, mein liebes, frommes Kind!« Aber alle, die er genannt, sind Giftkräuter. Und dann verabschiedet er sich höflich, denn er muss »eine alte schwache Kranke besuchen«!

    Der Wolf ist eins der interessantesten Tiere des Volksmärchens, ja, der gesamten erzählenden Literatur – weltweit. Keineswegs ist er nur einfach »der böse Wolf«. Er hat artspezifische Eigenschaften und Fähigkeiten – vergleichbar denen des realen Wolfes in freier Wildbahn. Seine individuellen Charakterzüge sind – wie bei allen Tieren im Märchen – eher aus dem Blickwinkel des Menschen gesehen und der Fabulierfreude des Erzählers geschuldet. Zugunsten eines unvoreingenommenen Lesevergnügens und eigener Entdeckerfreude ist auf eine Klassifizierung durch Kapitel verzichtet worden.

    Wolfsmythen finden wir in vielen Kulturen. In der nordischen Mythologie hat Odin zwei Wölfe als treue Begleiter. Der Fenriswolf jedoch erschreckt die Götter durch sein ungeheuerliches Wachstum und seine riesige Körperkraft. Nur mit List und durch Zauberei der Zwerge können sie ihn fesseln und binden.

    In Erzählungen nordamerikanischer Indianer ist der Präriewolf, der Coyote, Ordner der Welt: Mit Hilfe von Mäusen und Raben raubt er den Sonnenmenschen die Sonne und lässt sie am Himmel aufhängen zur Freude und zum Nutzen aller.

    Wie ist es aber zu erklären, dass uns der Wolf im Tiermärchen nicht nur als Heuchler und Übeltäter begegnet, sondern viel häufiger als dumm, eitel und gefräßig und in seiner Gier allzu leichtgläubig und nachsichtig? Sogar von den schwächsten Tieren lässt er sich überlisten, wird verlacht und verhöhnt, von den Menschen geprügelt oder gar erschlagen und verschwindet dann mit eingezogenem Schwanz, seine Wunden leckend, im Wald. Keiner scheint ihn da so recht zu fürchten.

    Aber gerade diese Erzählungen entlarven den Erzähler, der wortstark gegen seine Angst an erzählt. Ein Feind, ein Widersacher, ein ernstzunehmender Konkurrent – was der Wolf seit Urzeiten ist – erscheint weniger gefährlich und flößt weniger Angst ein, wenn man sich über ihn lustig machen kann. Und das geschieht hier: Der Wolf tanzt und singt mit den feiernden Bauern gerade so wie sie, wenn er tüchtig geschmaust und getrunken hat. So übermütig ist er keiner Warnung zugänglich und muss – entdeckt – dafür leiden.

    Der Erzähler weiß, dass ein Stärkerer besiegt werden kann, wenn der körperlich Schwächere nur beherzt genug ist, wach seine Klugheit einsetzt, die Schwächen seines Gegners kennt und nutzt. Darin ist wie kein anderer der Fuchs ein Meister. Immer wieder versteht er es, die Unersättlichkeit seines Gegenspielers zu reizen, indem er scheinbar gemeinsame Sache mit dem Verhassten macht, um seines eigenen Vorteils willen, um ihn zu verhöhnen oder sich selbst aus einer unangenehmen Situation zu befreien.

    Auch die Schildkröte weiß ihre Schlauheit zu nutzen und gewinnt den Wettlauf mit dem Coyoten, wie der Igel jenen mit dem Hasen.

    Aber nicht alle Tiermärchen zeigen den Wolf als Verlierer. Der Hund, der ihn überreden will, mit ihm gemeinsam Haus und Hof zu hüten, um dafür alle Vorteile eines Haustieres zu genießen, vor allem regelmäßiges Fressen, bekommt eine Absage; denn der Wolf erkennt, dass er solchen Wohlstand mit seiner Freiheit bezahlen muss. Als er im Alter einen Vertrag mit den Schäfern schließen will, die darauf nicht eingehen wollen, raubt er eins ihrer Kinder, so dass sie seine Überlegenheit anerkennen müssen – es ist zu spät für einen Kompromiss.

    Eine besondere Rolle spielt der Wolf in der Tierfabel. Hier werden die schlechten Eigenschaften und sträfliches Verhalten des Menschen auf den Wolf projiziert: Der Erzähler kann so darin seiner Kritik am Mitmenschen straflos freien Lauf lassen.

    Die beste Figur macht der Wolf im Zaubermärchen. Hier taucht er im finsteren Wald vor dem erschrockenen Helden auf mit den Worten: »Fürchte dich nicht, sag mir lieber, was du hier suchst.« Er gibt Rat, bietet seine Hilfe an, falls jener in Not gerät, und hält sein Versprechen, meist ohne jede Vorleistung. Er ist ein zuverlässiger Helfer. Daneben gibt es im selben Märchen auch die Wölfe der Hexe, die den Helden und sein Pferd bedrohen.

    Der Wolf als Helfer und Freund begleitet den Helden auf seiner Suchwanderung. Er kämpft an seiner Seite. Als sein Reittier ist er schneller als der Wind, manchmal fliegt er sogar. Er weiß alles, rät immer das Richtige und hält geduldig das Fehlverhalten seines Schützlings aus. Ja, er verwandelt sich sogar in eine andere Gestalt, wenn es dem Glück seines Freundes dient, und überlistet oder betrügt dessen Gegenspieler. Er kennt das Mittel, Tote wieder zum Leben zu erwecken. Und am Ende verschwindet er, wie er gekommen ist.

    Im Kampf mit dem Helden zeigt er sich als fairer Gegner. In einer Episode des französischen Märchens »Der Mann in allen Farben« rät er sterbend dem Sieger: »Iss jetzt mein Fleisch und trink mein Blut, da ich von deiner Hand sterbe; denn du bedarfst des Mutes und hast noch nicht ausgelitten.«

    Im Tierbräutigam-Märchen ist der Wolf ein verzauberter Prinz. Den Wanderer, der sich im Wald verirrt hat, verschont er nur unter der Bedingung, dass er ihm das verspricht, was ihm bei seiner Heimkehr als Erstes entgegenkommt. Es ist natürlich die jüngste Tochter, deren Liebe allein ihn aus seiner Tiergestalt erlösen kann.

    Verwandlungen zwischen Wolf und Mensch – wie auch zwischen Menschen und anderen Tieren – sind typisch für die Märchen der Naturvölker und deuten auf eine Ur-Zeit, in der Mensch und Tier eine enge Lebensgemeinschaft bildeten.

    Von ganz anderer Qualität sind die Werwolfsgeschichten. Sie sind unheimlich und entspringen dem Aberglauben. Hier ist, was dem Wolf zustößt, fast tragisch zu nennen. Ein Mensch verwandelt sich, wird plötzlich zum Wolf, zu einer gefährlichen Bestie, aus freien Stücken, nachts und geheim oder durch einen bösartigen Zauber. Er wird dann gleichermaßen, ob in menschlicher oder wölfischer Gestalt, gefürchtet und verfolgt wie Hexen und Teufel.

    Die vorliegende Sammlung spiegelt das ambivalente Verhältnis von Wolf und Mensch wider. Einerseits wird der Wolf als starkes und überlegenes Tier geachtet, andererseits gilt er als Symbol des Bösen. Er ist ein gefürchteter Räuber, aber auch ein zuverlässiger Helfer des Menschen. Als dummer Wolf wird er übertölpelt und verlacht. Neben dem Fuchs ist der Wolf das einzige Tier, das ein so breites Märchenspektrum aufweist.

    Das Wolfsbild hat sich im Laufe der Jahrtausende gewandelt. An die historische Bedeutung des Wolfes erinnern zahlreiche Orts- und Flurbezeichnungen sowie viele deutsche Vor- und Zunamen. Die Rückkehr des Wolfes nach Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat zu kontroversen Diskussionen über dieses faszinierende Tier geführt. Märchen, Mythen, Sagen und Fabeln gewinnen auf diesem Hintergrund neue Bedeutung.

    Ingrid Jacobsen

    Erschaffung des Wolfes

    Als der liebe Gott die Welt und alle Tiere erschaffen hatte, fragte er den Teufel: »Meinst du wohl auch, dass mein Werk lobenswert sei? Oder glaubst du, dass es noch an einer wichtigen Pflanze oder einem nützlichen Tiere fehlt oder dass die Berge nicht hoch genug und die Gewässer nicht tief genug sind?«

    Diese huldvolle Frage war dem Teufel ganz nach dem Sinn.

    Er fasste sich ein Herz und antwortete: »Tadel verdient dein Werk wohl nicht, aber es will mich doch bedünken, als ob ein Tier noch mangelte.«

    »Welches denn?«, fragte der Schöpfer verwundert.

    »Nun«, sprach der Teufel, »ein Tier, das den Wald schützen und hüten könnte, damit die übermütigen Hirtenknaben nicht die Bäume schälten und die Äste brächen und Hase und Ziege die jungen Triebe nicht benagten.«

    »Hab’ ich denn nicht Bär und Schlange in den Wald gesetzt?«, sprach der Schöpfer.

    »Das hast du freilich«, sprach der Böse, »aber wenn es Winter wird, so schlafen diese Wächter, und dann ist es mir immer leid, wenn ich den Wald wie eine Waise ohne Beschützer sehe.«

    Dabei gedachte aber der Teufel, selbst ein böses Tier zu schaffen, das die wehrlosen Geschöpfe Gottes würgen und überall Arges anstiften sollte.

    »Welch ein Tier fehlt denn deines Bedünkens?«, fragte der Schöpfer.

    »Jenes Tier, das ich selbst erschaffen möchte, wenn du es erlaubst«, sprach der Teufel bittend.

    »Es sei«, sagte der Schöpfer, »und ich will nichts dawider haben.«

    »Aber um etwas bitte ich dich noch!«, sprach der Teufel weiter. »Sieh, ich habe nicht die Macht, meinem Geschöpf das Leben zu verleihen. Wenn du mir dazu einen Spruch gäbest, so würdest du leicht merken, dass mein Geschöpf nicht schlechter geraten wird, als die deinen.«

    »Auch das will ich erfüllen! Wenn du dein Geschöpf fertig hast, und wenn ihm Mund und Augen auf dem rechten Fleck sitzen, so rufe: Steh auf und verschlinge den Teufel!«

    »Oho, damit wird es noch gute Weile haben!«, brummte der Teufel für sich und ging weg in einen tiefen Wald. Hier las er Steine und altes Schuhwerk, Ruten und Moos auf und trug auch noch von der Dorfschmiede zwei glühende Funken und einen Haufen eiserner Nägel herbei.

    Darauf ging er ans Werk. Den Rücken des Tieres schuf er aus einem derben Zaunpfahl und den Kopf aus einem Baumstumpf, flocht die Brust aus Ruten und Schuhleder zusammen und baute die Lenden aus Backsteinen auf. Aus einem Farnwedel machte er dem Tier einen Schweif und aus Erlenklötzen die Füße; in die Brust aber setzte er ihm einen Stein als Herz. Nun bezog er noch den Körper mit Moos und setzte die glühenden Funken als Augen, die Nägel aber als Krallen und Zähne ein. Als er so den Leib des Tieres erschaffen hatte, da freute sich der alte Teufel über alle Maßen und gab ihm den Namen Wolf. Aber eine Seele hatte der Wolf noch nicht. Da fiel dem Meister der Spruch ein und er schrie: »Wolf, stehe auf und verschlinge …« Da erhob der Wolf seinen Kopf und schmatzte mit der Zunge. Darüber bekam der Teufel einen solchen Schreck, dass er kein Wort weiter herausbrachte. Aber bald besann er sich wieder auf sein böses Werk und rief hastig: »Wolf, stehe auf und verschlinge den Herrgott!« Aber der Wolf lag still und rührte nicht einmal seinen Schweif. Wohl sagte der Teufel seinen Spruch zehnmal her, aber der Wolf achtete dessen nicht.

    Nun ging der Teufel zum Schöpfer zurück und rief: »Der Spruch, den du mir gabst, ist nicht der rechte, denn der Wolf will nicht aufstehen!«

    »So?«, sprach der Schöpfer, »hast du denn gerufen: Steh auf und verschlinge den Teufel?«

    Diese Rede hatte der Teufel nicht erwartet, bestürzt konnte er kein Wort antworten und musste in Schanden wieder abziehen.

    Wohl versuchte er es noch ferner und rief: »Wolf, steh auf und verschling den Herrgott!« Aber es half alles nichts.

    Darauf lief er eine weite Strecke von dem Wolf weg und schrie: »Wolf, steh auf!« – und fügte dann ganz leise hinzu: »Verschling den Teufel!«

    Du meine Güte, wie der Wolf jetzt aufsprang! Wie der Wind war er hinter dem Teufel her und hätte ihn gewiss erwürgt, wenn der Teufel nicht unter einen großen Stein geschlüpft wäre.

    Seitdem ist der Wolf des Teufels ärgster Feind und sucht absichtlich alle Gelegenheit, den Bösen zu ängstigen und zu kränken. Sein Rückgrat ist steif, wie ein gerader Zaunpfahl, Krallen und Zähne sind spitz wie Eisennägel, und sein Fell ist mit dichten Haaren bedeckt. Die Augen glühen ihm wie zwei Feuerfunken im Kopfe. Sein Herz ist wie aus Stein, wenn er die unschuldigen Lämmer raubt.

    Estland

    Die Fesselung des Wolfes

    »Auch der Wolf ist freudenlos; gefesselt erwartet er der Asen Untergang.«

    Der Schwertgott Tyr allein hatte den Mut, täglich zum Fenriswolf zu gehen, um ihn zu füttern; und er fürchtete sich nicht. Aber als er sah, dass der Wolf von Tag zu Tag wuchs und immer stärker und reißender wurde, und er dann der Weissagungen gedachte – die denselben zum Verderber der Götter, zu Allvaters Mörder selbst bestimmten – da mochte er nicht länger allein verantwortlich sein für die Sicherheit aller; er ging zu Odin und meldete ihm das immer noch währende Wachsen des Wolfes. Fürsorglich ordnete jener, dass die Götter eine Fessel machen sollten und versuchen, ob sie den Wilden darin fängen?

    Und die Götter machten eine starke Kette von Erz, gingen damit zum Wolf und reizten ihn durch Spott, seine Kraft daran zu versuchen. Willig ließ der Wilde die Glieder sich gürten mit der schwer geschmiedeten Fessel. Aber kaum hatten die Asen die Enden geschlossen, da dehnte er sich wie spielend, die Kette zerbarst und fiel in Trümmern von ihm ab.

    Nun fertigten die Götter eine neue, die war noch einmal so stark wie die erste. Doch als sie mit dieser zum Wolf kamen, erkannte der sogleich ihre verdoppelte Stärke und weigerte sich der neuen Probe. Da versprachen die Asen ihm Weltenruhm, wenn er auch diese Fessel sich anlegen lasse und sie sprenge durch die Gewalt seiner Muskeln. Das lockte den Wolf. Und bedenkend, dass mit ihm auch seine Kraft gewachsen seit jener ersten Probe, bot er wehrlos sich noch einmal seinen Feinden. Schnell umschnürten ihn diese mit der schweren Kette und festigten sie so, dass er kaum atmen konnte; dann traten frohlockend sie zurück und glaubten für immer unschädlich das Ungeheuer. Der Wolf aber schüttelte, reckte und dehnte sich mit Macht, und siehe! Auch diese Kette zersprang – abermals war frei der Gefesselte.

    In Fürchten verwandelte sich schnell das Frohlocken der Götter. Beschämt erkannten sie, dass nimmer wohl ihnen gelänge, was sie zweimal vergeblich versucht. – Zähnefletschend knurrte der Wolf: ha! Nun wollte bald als Meister er allen sich zeigen in Asgard.

    Odin aber hieß Skirnir kommen, den Schwertgesellen und Diener Freirs, der schon einmal bei schwieriger Botschaft sich bewährt hatte, als er für den Reichtum spendenden Ernte-Gott werben sollte um Gerda, die weißarmige, leuchtende Jungfrau.

    Diesen sandte Allvater hinunter zu den Schwarzelfen, ob etwa sie, die Schwarzkunstkundigen, vermöchten zu schmieden eine Kette, die stärker als des Wolfes Kraft. Skirnir ging. Nach neunmal neun Nächten kehrte er zurück und brachte den Göttern ein Band, das die Unterirdischen gewebt von sechserlei Dingen: von den Sehnen der Bären, dem Bart der Weiber, dem Schall der Katzentritte, dem Speichel der Vögel, der Stimme der Fische und den Wurzeln der Berge. – Und das Band war so schlicht und weich wie ein Seidenband, dünn wie von Spinnweben gewirkt erschien es den Staunenden. Aber als einer nach dem anderen seine Kraft daran versuchte und alle es unzerreißbar fanden, da merkten sie wohl, dass ein Zauber darin stecke.

    Und sie traten zum dritten Mal vor den Wolf, zeigten ihm die weiche Fessel und fragten, ob er wolle

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