Lob des Irrtums und der Fehler: Produktive und sinnvolle Missgeschicke in der Geschichte der Wissenschaft, Kultur und Küche
Von Dirk Müller
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Über dieses E-Book
Auch Genies irren manchmal. Doch erweisen sich ihre Fehler manchmal als nützlich. Und selbst normale Menschen haben in der Geschichte mit ihren Irrtümern Brauchbares geschaffen.
Aus dem Inhalt:
Was Genies und Regenwürmer gemeinsam haben
Fehler? Wie lecker! – Kartoffelchips und Blumenkohl
Im Wein ist Irrtum
Kopernikus oder: eine rundere Rundung
Nur relativ richtige Annahmen: Relativitätstheorie
Kandinsky oder: der richtige falsche Blick
Amerika entdecken mit Aristoteles
El Dorado
Kreative Missverständnisse in der Literatur
Schlamperei rettet Millionen das Leben
Können falsche Prophezeiungen nützlich sein?
Dirk Müller
Dirk Müller berichtete als Korrespondent für renommierte überregionale Medien aus der Bundespolitik. Mehrere Buchpublikationen zu zeitgeschichtlichen und historischen Themen, darunter Biographien über Bismarck und Angela Merkel sowie den Philosophie-Fachbestseller »Nützliche Irrtümer«.
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Buchvorschau
Lob des Irrtums und der Fehler - Dirk Müller
Produktive und sinnvolle Missgeschicke in der Geschichte der Wissenschaft, Kultur und Küche
Dirk Müller
idb, 2013
2. Aufl. 2016
ISBN 978-3-96150-179-3
Inhalt
Einleitung
Nur negative Irrtümer?
Irren als Programm? Trial and error oder: Was Genies und Regenwürmer gemeinsam haben
Fehler? Wie lecker! – Kartoffelchips und Blumenkohl
Die missratenen Bratkartoffeln
Käse, Tofu, Wein & Co.
Mehr Küchenlatein: Blumenkohl und was danach kommt
Im Wein ist Irrtum
Kopernikus oder: eine rundere Rundung
… und Kepler
Amerika entdecken mit Aristoteles
El Dorado: die Fata Morgana der Gier
Traum, Lüge und Literatur: Schliemann
Kreative Missverständnisse in der Literatur
Kandinsky oder: der richtige falsche Blick
Nur relativ richtige Annahmen: Relativitätstheorie
Der Fehlversuch als Meisterleistung: das Michelson-Morley-Experiment
Ein bisschen Theorie über den Irrtum
Schlamperei rettet Millionen das Leben
Können falsche Prophezeiungen nützlich sein?
Schluss
Literatur
Einleitung
Irren ist menschlich – das ist eine Binsenweisheit.
Irren ist nützlich – was soll das bitte heißen?
Der erste Satz stimmt offensichtlich. Der zweite nur manchmal. Dennoch ist an ihm mehr Wahres, als man gewöhnlich denkt. Davon handelt dieses Buch: vom im Boden herumirrenden Regenwurm, von im Regenwald herumirrenden Eroberer, vom im Dschungel der Theorien herumirrenden Wissenschaftler. Nicht alle finden am Ende ihr Ziel, manche wissen nicht einmal so recht, wonach sie suchen sollen. Doch alle haben etwas gemeinsam: Am Ende steht irgendein Nutzen für irgendwen – nicht immer für den (Herum)Irrenden selbst, oft für einzelne Gruppen, manchmal jedoch für die gesamte Menschheit.
Die Wahrheit ist oft genug gerühmt worden. Es ist an der Zeit, endlich auch einmal den Irrtum zu loben. Und das ist – anders als bei Erasmus von Rotterdams berühmtem „Lob der Torheit" – gar nicht immer so ironisch gemeint.
Ich bin nicht der Erste, der sich auf dieses eigenartige Terrain wagt. So veröffentlichte der Berliner Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Jürgen Mittelstraß einen Aufsatz mit dem Titel „Vom Nutzen des Irrtums in der Wissenschaft". Ich verdanke ihm wesentliche Anregungen und einige Beispiele. Mir geht es jedoch zum einen um eine möglichst allgemeinverständliche Darstellung. Darüber hinaus möchte ich zeigen, an welch unterschiedlichen Stellen, auch fernab der Wissenschaft, produktive Fehler und Missverständnisse zu finden sind.
Einer chronologischen Ordnung folgt dieses Buch ebenso wenig wie einer Systematik nach Wissensgebieten. Vielmehr setzt es auf einen Mix aus anschaulichen und komplizierteren Themen, ergänzt um einige grundsätzliche Gedanken. Manchmal bewegen wir uns im Krebsgang von einer späteren zu einer früheren Erkenntnis. Das ist beabsichtigt. Wir reisen durch einen Dschungel des Wissens und kreativen Nichtwissens. Unser Kompass sei der Irrtum, seine vielfältigen Auswirkungen die Landkarte.
Nur negative Irrtümer?
Verführerisch funkeln die glatten, schwarzen Kugeln dem erschöpften Anführer Hork im Nachmittagslicht entgegen: dunkel glänzende Früchte an einem üppigen Strauch. Tagelang hatten er und seine Sippe auf ihrer Wanderung zu den neuen Jagdgründen nur knorrige Wurzeln gegessen. Doch nun: ein Festmahl! Er ruft seine Familie zu sich und beginnt, sich so richtig satt zu essen.
Seine Frau Ondu jedoch zögert. Irgendetwas ist ihr unheimlich an dieser unbekannten Frucht – so glänzend und so dunkel zugleich, wie von Geistern verzaubert … Und diese fünf Blütenblätter rund um jede Frucht, wie Krallen, die jeden packen wollen, der der Pflanze ihre Pracht nimmt …
Kurze Zeit später windet sich Hork in Fieberkrämpfen, fantasiert von Monstern und Dämonen, die ihn verfolgen. Er fällt in ein Koma, aus dem er nicht mehr erwacht. Die Dosis der Alkaloide in den Früchten der Schwarzen Tollkirsche war tödlich. Seine Familie jedoch sollte überleben – vielleicht gehört sie zu unseren Vorfahren.
Es gibt Irrtümer, die für denjenigen, der sie begeht, ausschließlich negative Wirkung haben: zum Beispiel der Verzehr einer tödlich giftigen Pflanze durch einen Menschen der Steinzeit. Für die Hinterbliebenen des Toten war die missglückte Mahlzeit jedoch schon nicht nur negativ: Zwar verlieren sie einerseits einen Angehörigen. Andererseits sind sie davor gefeit, den gleichen Fehler zu machen – vorausgesetzt, das Gift wirkt schnell genug, um eindeutig zugeordnet werden zu können. Schleichende Vergiftungen hingegen können über Jahrhunderte hinweg unbemerkt bleiben: Schon die alten Römer pflegten ihren Wein mit Bleiacetat (früher wegen seiner Geschmackswirkung Bleizucker genannt) zu „veredeln". Das Gift wirkte so langsam, dass die Ursache nicht erkannt wurde. Noch der Weinliebhaber Ludwig van Beethoven ist vermutlich an einer solchen Bleivergiftung gestorben.
Allerdings müssen wir uns über eines klar sein: Unser heutiges, umfangreiches medizinisches Wissen basiert zu einem nicht geringen Teil auf den oftmals tödlichen negativen Erfahrungen, die unsere Altvorderen gemacht haben. Umgekehrt werden künftige Generationen vermutlich von so manchen Irrtümern profitieren, die wir heute begehen – sofern sie lernfähig bleiben.
Solche Irrtümer sind also für andere nützlich. Der Mensch erzielt dabei Vorteile aus seiner einzigartigen Fähigkeit, kulturelles Wissen über viele Generationen aufzubewahren, zu vererben. Doch die Natur kennt in gewisser Weise ähnliche Techniken, davon später mehr.
Findige Leser haben es übrigens vielleicht bemerkt: In gewisser Weise enthält die Geschichte von Hork einen weiteren Irrtum, sogar einen doppelten, aber einen, der der Irrenden selbst nützt. Denn auch Horks Frau sitzt einem Irrtum auf, dem Glauben, man könne aus Farben und Formen der Natur auf Geister und Dämonen schließen und daraus wiederum, unmittelbar, ohne Prüfung, Gefahren vorhersagen. In diesem einen Fall hat Ondu zwar recht behalten. Insofern ist der Irrtum sehr nützlich, weil er ihr und ihren Kindern das Leben rettet. Wenn Ondu – oder ihre Sippe – jetzt jedoch glauben