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Der Krieg, er zieht sich etwas hin
Der Krieg, er zieht sich etwas hin
Der Krieg, er zieht sich etwas hin
eBook316 Seiten4 Stunden

Der Krieg, er zieht sich etwas hin

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Über dieses E-Book

Der Autor Horst Müller, Jahrgang 1929, wird in seinen späten Lebensjahren von Erinnerungen an die Notzeit, die Zeit als Heranwachsender eingeholt.
Die Texte beschreiben zunächst, in „Heimatfront“, seine frühe Prägung durch Hitlers „Jungvolk“, die Zerstörung der Heimat, den Verlust von Vater und Schwester durch den Krieg. Es folgt die Liebesgeschichte von Inge und Hilmar, die von den emotionalen Turbulenzen der frühen Nachkriegszeit verstört werden und daran zugrunde gehen. Danach Erlebnisse als „Ausgebombte“, in der Enge einer Behelfswohnung, mit den kleinbürgerlichen Vermietern. Es folgt die Rechenschaft über den in der Jugendzeit erfahrenen Antisemitismus. Schließlich eine lange, nach der eigentlichen Kriegs- und Krisenzeit geschehene Selbstzerstörung eines ehemaligen Mitschülers, der die atomare Aufrüstung nicht erträgt.
Alle fünf Texte sind vom Stigma nicht enden wollender kriegerischer Bedrohung gezeichnet, deshalb tragen sie als Titel eine Zeile aus dem Lied der „Mutter Courage“:
DER KRIEG, ER ZIEHT SICH ETWAS HIN.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum19. Mai 2016
ISBN9783741203381
Der Krieg, er zieht sich etwas hin
Autor

Horst Müller

Horst Müller, geb. 1929. Aufgewachsen in Kassel bis zur Zerstörung 1943. Abitur 1948 in Hofgeismar. Studium in Göttingen und Freiburg: Germanistik, Geschichte, Philosophie. Staatsexamen 1956, zugleich Promotion. Thema „Zeitkritik im Werke Rilkes“. Ein Jahr Lektorat in Frankreich. Gymnasiallehrer in Kassel bis 1991. In einer Zwischenzeit fünf Jahre an der Deutschen Schule Istanbul. 50 Jahre Theaterarbeit, zunächst mit Schülern, später mit Studenten und älteren Erwachsenen. Elf eigene Bühnentexte.

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    Buchvorschau

    Der Krieg, er zieht sich etwas hin - Horst Müller

    Nebenrolle

    Der Krieg, er zieht sich etwas hin

    Mit seiner Not, seiner Gefahre,

    der Krieg, er zieht sich etwas hin.

    Der Krieg, der dauert hundert Jahre ...

    Es ist das Lied der Mutter Courage in Bertolt Brechts gleichnamigen Stück; so beginnt die letzte Strophe. Und deren zweite Zeile soll mein Titel sein. Die Handlung spielt im Dreißigjährigen Krieg. Die Untertreibung etwas zeigt die Trostlosigkeit des nicht enden wollenden Kriegsgeschehens an.

    Wenn ich zurückdenke an die Jahre 1943, 1944, 1945, 1946, 1947, meine Jungend damals, im Alter von 14 bis 18, dann sehe ich, wie alles vom Krieg durchdrungen war. Er fing schon 1914 an, als die großen Staaten wie Schlafwandler handelten und ihre jungen Männer auf die Schlachtfelder schickten.

    Der Ausdruck Schlafwandler wird von einem heutigen Historiker verwendet für seine Beschreibung des Gesehenes von 1914. Es ließ ein Europa entstehen, das nicht mehr zur Ruhe kommen sollte bis zu der noch größeren Katastrophe von 1939 bis 1945 - und weit darüber hinaus.

    Mein Glück war zunächst, dass ich knapp davonkommen konnte. In den späteren Jahren habe ich noch viel Glück verbraucht. Ich kann nicht klagen, so sagt man dazu. Aber da ist bis heute ein Gefühl geblieben, genährt auch von den unzähligen immer neuen Konflikten in der ganzen Welt, das bedeutet mir:

    Es ist immer noch Nachkriegs-Zeit.

    Ein paar Kapitel von der Heimatfront

    Lieder

    Die Landgrafenstraße ist eine Hauptstraße in unserer Stadt. Sie führt vorbei am Kastellplatz, und diesem gegenüber stand das Hotel Regenbogen. Im Frühsommer 1939 kam Hitler. Ich war zehn und eben ins Jungvolk aufgenommen worden. Wir Pimpfe standen in Uniform die Straße entlang, vor den Reihen der vielen, die am Abend den großen Fackelzug und natürlich den Führer sehen wollten. Auch die BDM-Mädchen in ihren weißen Blusen mit Schartuch und Knoten standen überall zwischen und vor den Erwachsenen. Eigentlich war es zu spät für uns, jetzt im Sommer wurde es spät dunkel, und dunkel musste es ja sein bei einem Fackelzug. Aber uns, den Zehn- bis Vierzehnjährigen, war befohlen worden, Spalier zu stehen, während die eigentliche HJ marschierte. In Sechserreihen, das hatte ich noch nie erlebt!

    Der Zug näherte sich aus der Bremer Straße, so heißt die Verlängerung der Landgrafenstraße nach unten, nach Norden. Vorerst war noch nichts zu sehen, aber Trommeln und Pfeifen waren zu hören. Als der Zug aus einer leichten Biegung auftauchte, setzten die Fanfaren ein. Sie schmetterten hell, wie es in dem sehr bekannten Lied hieß, der Schall kam von den Hauswänden gegenüber laut zurück, die Fanfaren glänzten, von hinten, vom Schein der ersten Fackelreihen angeleuchtet. Sie wurden von den Bläsern schräg nach oben gehalten, alle im gleichen Winkel, bei jedem lag die linke Hand auf der linken Hüfte. An den Instrumenten hingen Hakenkreuzwimpel herunter. Sie spielten nur kurz. Jetzt erschienen die Fackeln, in Sechserreihen getragen, wie schon gesagt.

    Die Reihen waren auseinandergezogen, damit das abschmelzende Pech nicht auf die Träger tropfte, dadurch nahmen sie fast die ganze Straßenbreite ein. Eine gewaltige Kolonne. Erst mal hörte man jetzt nur den Marschtritt, und 20, 25 Reihen zogen vorüber, dann kam ein Block mit riesengroßen Hakenkreuzfahnen, wieder mehrere Reihen, und nun schlugen die Trommler los, auf großen hohen Trommeln, die eher Pauken waren, an ihren Wänden rot-weiß geflammt. Ohrenbetäubend laut, in ganz gleichmäßigem Takt, jeder Schlag von allen Trommeln nur ein einziger. Sie kamen jetzt zu der Stelle, wo ich stand, noch ein ganzes Stück weg vom Hotel Regenbogen. Dort, gegenüber, hatten natürlich alle hin gewollt, das Gedränge der Zuschauer war also da am größten, denn drüben würde sich ja der Führer zeigen, vom Balkon herab. Auch die Pfeifer zogen vorbei, schrill und laut, dann nur noch Fackeln. Und der Zug stand. Noch einmal ein Fanfarensignal, noch einmal ein langer Trommelwirbel, und jetzt leuchteten Scheinwerfer auf, sie tauchten den Balkon über dem Hotel-Portal in helles Licht, und der Führer, der verehrte, vergötterte, sofort bejubelte trat heraus. Links und rechts von ihm, aber weiter hinten, zwei Uniformierte.

    Ich konnte ihn nur ab und zu sehen, wenn ich auf die Zehenspitzen stieg, was nicht lange auszuhalten war. Er hob die Hand, nicht in derselben Art, wie es jedermann befohlen war, nicht mit gerade nach vorn gestrecktem Arm, sondern nach hinten gebogen, den Arm gekrümmt. Ungeheurer Beifall brach aus allen hervor, die da standen und ihn sehen wollten, den Vergötterten und so weiter, und der Beifall wurde nicht geklatscht, sondern geschrien, mit dem Wort Heil, immerfort, immerzu Heil, Heil! Die Gesichter leuchteten im Fackelschein. Der Brandgeruch breitete sich aus. Die Fackeln haltenden Jungen starrten hinauf zu demjenigen, dem sie das Feuer, die Fahnen, die Fanfaren und die Herzen entgegenbrachten. Ein Kommando war zu hören, die Füße wurden auf einen Schlag wieder zum Gleichschritt gesetzt, der Zug marschierte weiter, Hitler da oben stand als sein eigenes Denkmal. Der große Marsch in den leuchtenden Sechserreihen war es, was mich ansaugte und in Aufregung versetzte. Sehr weit ist der Abstand zu meinem zehnjährigen Ich von damals, ich muss mir ein Zitat ausleihen, um jenen Gefühlszustand zu bezeichnen: Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll.... Ich wollte da mittendrin sein in dem Rausch des Marschierens, Fackeltragens, einem Rausch, der auch, seltsam genug, von der Disziplin ausging, vom Funktionieren des machtvollen Schauspiels. Und jetzt setzte das erste Lied ein:

    Wir Jungen tragen die Fahne

    zum Sturme der Jugend vor,

    sie stehe und steige und lohe

    wie Feuer zum Himmel empor.

    Wir sind auf die Fahne vereidigt

    für immer und alle Zeit.

    Wer die Fahne, die Fahne beleidigt,

    der sei vermaledeit!

    Noch zwei Strophen folgten, und weitere Lieder. Von beiden Seiten, von vorn und hinten also, hörte man den verschleppten, sich verschiebenden Schall, es ist ja nicht anders möglich, wenn dieselben Töne auf so langer Strecke zugleich gesungen werden. Ich aber war gerade davon in Bann geschlagen, von diesem endlos weit hingezogenen, in Wellen widerhallenden Singen. Neidisch waren wir alle, die Kleinen, die für diesmal noch nicht mitmachen durften in dem gewaltigen breiten und langen Strom aus brennenden Lichtern, blutroten Fahnen, krachendem Marschtritt und schallenden Liedern.

    Mein Freund und Schulkamerad Limmi stand neben mir. Er fragte eine Frau nach der Uhrzeit, dann zog er mich mit sich: Komm, mein Vater wird schon längst da sein! Der Zug war noch nicht ganz vorbei, aber jetzt marschierten nur noch Jungen ohne Fackeln. Wir schlängelten uns durch bis zur großen Reklame-Uhr, dort stand Limmis Vater; er sah uns und rief: Los, los, es ist schon spät! Komischerweise setzte er noch hinzu: Der Zirkus ist aus, dann ging er schnell vor uns her. Tatsächlich waren wir todmüde. Den langen Heimweg mussten wir laufen; auf eine Straßenbahn zu warten hatte bei der Menschenmenge, die sich jetzt auflöste und zu den Haltestellen drängte, keinen Sinn. Zum Glück war Samstag, wir konnten am anderen Morgen ausschlafen. Das Lied Wir Jungen tragen die Fahne summte mir unterwegs durch den Kopf, vielleicht, weil es etwas getragener im Takt ist als die zackigen anderen, mehr zum Schreiten als zum Marschieren. Schreiten ist feierlicher, deshalb war es wohl das erste, das gesungen worden war, als der Gefeierte noch da oben stand.

    Die Lieder: Einmal habe ich sie alle, die damals gelernten, an den Fingern abgezählt. Im Nu hatte ich fast 30 aus dem Gedächtnis zusammen Nationalsozialistisches Liedgut. Die Melodien kenne ich sowieso noch, von den Texten manchmal mehrere Strophen, manchmal eine, manchmal nur ein paar Zeilen. Es ging so zu, dass beim Jungvolk mittwochs und samstags Dienst war, obendrein jeden Sonntagvormittag. Antreten, Kommandos lernen und befolgen, stillgestanden - rührt euch!, links um, rechts um, Augen links - rechts - geradeaus!, das alles bei jedem Dienst, also endlos oft. Dann lange Märsche.

    Aber ausschließlich exerzieren und marschieren, das war nicht Dienst genug. Die Führer hatten den Auftrag, uns nach und nach alle die Lieder beizubringen, geduldig, in endloser Wiederholung Zeile für Zeile, Strophe für Strophe, draußen an einer ruhigen Ecke, wir saßen als Jungenschaft zu 12 bis 15 auf dem Bordstein, der Jungenschaftsführer sprach vor, sang vor, es ging auch ohne tongebendes Instrument, schließlich hatten es die Ersten intus, dann ein paar mehr, wir konnten beim Marschieren das neu Gelernte singen, immer wieder ging der Ton bei einigen daneben, auch der Text da und dort, aber in dem Alter lernt man schnell auswendig (und merkt es sich über Jahrzehnte), nach und nach sammelten sich immer mehr Lieder in unseren Köpfen an. Worauf ich aber hinauswill, das ist der Inhalt. Der Inhalt war: Kampf. Wir haben gekämpft, wir kämpfen, wir kämpfen gern, wir werden kämpfen müssen, wir wollen kämpfen, wir werden also kämpfen.

    Es gab die Lieder, die noch vom ersten Weltkrieg herrührten, in dem die Väter gekämpft hatten, zum Beispiel Graue Kolonnen ... oder Es klappert der Huf am Stege. Dann diejenigen aus der wörtlich so genannten Kampfzeit, in der die SA, die Hitlerjugend, die militant organisierte nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei, die NSDAP also, erst noch zum Siege hatte geführt werden müssen, allen voran das Lied vom Märtyrer Horst Wessel, geheiligt und zu allen feierlichen Anlässen, auch zum Schuljahrsbeginn und -ende, gleich nach dem Deutschlandlied zu singen: Die Fahne hoch! Die Reihen fest geschlossen!. Außerdem: Ein junges Volk steht auf, zum Sturm bereit oder das drohende Es zittern die morschen Knochen ... und nicht zuletzt das mitreißende "Vorwärts, vorwärts, schmettern die hellen Fanfaren Dann noch Marschlieder für die Wehrmachtsoldaten, in denen überall Mädchennamen vorkamen, ich kann sie abzählen, es sind mindestens neun, einige, zum Beispiel Lore, kommen mehrmals vor.

    Und als der Krieg endlich da war, mussten nacheinander auch die Waffengattungen und die Feldzüge besungen werden, das ältere Denn wir fahren gegen Engelland ... kam von neuem zu Ehren, immer wurde es im Radio gebracht, wenn wieder englische Tonnage versenkt worden war; es gab das Frankreichlied, das Russlandlied, das Lied des Afrika- oder Panzerkorps; die Flieger sangen: Rot scheint die Sonne: Fertiggemacht!, und auch die sehr ruhmreiche Legion Condor, mit der Hitler im spanischen Bürgerkrieg dem Caudillo Franco zu Hilfe gekommen war, hatte ihr Lied, das war mit in unseren großen Vorrat aufgenommen worden.

    Wir sangen, wir plärrten, wir brüllten. Manche Führer hatten empfindliche Ohren und befahlen eine möglichst saubere Intonation. Und Molli, unser Musiklehrer, dessen Lehrplan ihn ebenfalls verpflichtete, seinen Schülern nationales und Soldaten-Liedgut zu vermitteln, hatte unter unseren eher geschrieenen als gesungenen Tönen Schreckliches auszustehen. Wenn er 1940, als ich in der Quinta war, zum Frankreichfeldzug das nagelneue Kamerad, wir marschieren im We-esten ... anstimmen lassen wollte, es am Klavier anschlug und selber sanft modulierend die ersten Takte vorsang, wurde er einfach ausgelacht und reagierte cholerisch, indem er beispielsweise einen von uns, den er für den Brüll-Anstifter hielt, mit dem Stock in der Hand - er leistete sich noch den eigentlich verbotenen Rohrstock - durch die lange Bankreihe und noch weiter durch den Musiksaal jagte, vergeblich natürlich.

    Molli war für die neue Zeit nicht geschaffen, er hieß mit richtigem Namen Heinrich Möller und war eigentlich Kirchenmusiker, mit dem Titel Oberkirchenmusikdirektor. An eine der Kirchen-Musikschulen hätte er gehört, aber die hatten alle schließen müssen. Kampfgebrüll, Kriegs- und Siegesgesänge. Als wäre man ständig mittendrin im Kampfgeschehen. Und so war es ja auch beinahe. In den Grundschulklassen warb unser Lehrer Reinhard für ein kämpferisches Leben. Er zeigte uns auf dem Sportplatz seine tiefe Narbe am Schienbein entlang, von 1916, von einem Granatsplitter in Flandern herrührend. Er zeigte uns im Herbst 1938 die Landkarte der Tschechoslowakei mit ihrer buntfarbigen Einteilung, mit den leuchtend roten Randgebieten der Sudetendeutschen, die heim ins Reich gebracht werden mussten: ein Vielvölkerstaat ohne Existenzberechtigung, eine deutsche Aufgabe, das zu korrigieren. Er war ein guter Lehrer, ein Klarmacher, ein Lernenlasser mit Augenmaß, und alles ging uns Kleinen nur allzu gut ein. Im Klassenzimmer hatte er zwei große Bilder aufhängen lassen. Vom Feldmarschall von Mackensen mit Riesenschnauzbart, buschigen Brauen und Pelzmütze, worauf ein Totenkopf saß, und von Ludendorff. Über beide wusste er Spannendes zu erzählen.

    Und als wir neun waren und in die vierte Klasse gingen, wünschte er dringend, dass wir uns etwas wünschten, nämlich zu Weihnachten von unseren Eltern Die Geschichte von Adolf Hitler. Das war die Jugendfassung des Buches Mein Kampf, Preis 80 Pfennige. Von meiner Mutter, die nicht wagte, sich gegen etwas dringend Empfohlenes, also quasi Verordnetes aufzulehnen, wurde der Wunsch natürlich erfüllt oder befolgt. Nein, gänzlich folgsam gegenüber solchen politisch gefärbten Empfehlungen war sie nun doch nicht. Als sie sich nämlich entschlossen hatte, ihren Sohn auf eine Oberschule zu schicken, musste sie erst einmal standhalten gegenüber einer anderen dringenden Empfehlung des Lehrers Reinhard. Dieser wollte sie nämlich davon überzeugen, dass es für sie als Witwe doch vorteilhaft sei, wenn ihr der Staat alle Fürsorge für den Jungen abnähme, sie auch das Schulgeld sparen könnte, das der Besuch einer Höheren Schule kostete, immerhin 20 Reichsmark im Monat. Das hieß, sie sollte mich auf eine Napola, eine nationalpolitische Lehranstalt geben. Das wollte sie nicht. Später erzählte sie mir, der Reinhard habe sie erstaunt angesehen, als sie ihrer Ablehnung noch hinzugefügt habe: Ach, ich weiß nicht, es kann ja auch mal wieder anders kommen. Das glaube er aber nicht, habe er mit entschiedenem Kopfschütteln entgegnet. (Seine Söhne, Wolfram und Ulli, sind alle beide noch 1945 gefallen, der eine 18, der andere 16 Jahre alt.)

    Zum Dienst beim Jungvolk gehörten im Sommer auch Sportnachmittage und Geländespiele. Zwei von diesen Nachmittagen sind mir in scharfer Erinnerung geblieben, wegen der Blessuren, die ich dabei abkriegte. Auf dem Sportplatzrasen saßen wir in einer Runde, und der Jungzugführer Mailing erklärte, heute sei das Boxen dran. Er zeigte uns keine Haltung, keine Stellung, keine Deckung und keine Technik. Er wusste wohl gar nichts davon, und es kam auch nur darauf an, so draufgängerisch wie möglich sich zu schlagen, allerdings mit richtigen Boxhandschuhen, die, reihum weitergegeben, angeschnallt werden mussten. Die einzige Anweisung lautete: Immer feste druff! Als einzige Kampfregel wurde angesagt: Sobald einer blutet, ist der Kampf zuende, der andere hat gewonnen.

    Bei mir ging es schnell. Die Tränen flossen, ich konnte sie nicht zurückhalten, als meine Nase und meine Unterlippe bluteten. Blind vor Wut, vor allem wegen der Tränen-Schmach, stürzte ich noch einmal auf meinen Gegner zu. Der hatte sich schon abgewandt und wollte sich die Handschuhe abschnallen lassen, er war ja der Sieger. Ich traf ihn über dem Ohr, er fiel um und blieb bewusstlos liegen. Einer von den anderen rief: Hej, Old Shatterhands Jagdhieb! Der Jungzugführer schrie mich an und verurteilte mich zu drei Runden um den ganzen Platz wegen unsportlichen Verhaltens. Jedesmal, wenn ich an der Gruppe vorbeilief, grölten sie: Old Shatter-hand! Der andere stand wieder auf, der Mailing verlangte, dass wir uns die Hand gaben. Umständliche Entschuldigungen waren unbekannt.

    Das Geländespiel war groß angelegt, mit dem ganzen Fähnlein, aufgeteilt in zwei Parteien, die Roten und die Blauen. Jeder bekam entweder ein rotes oder ein blaues Band ums linke Handgelenk gebunden. Wer sein Band im Kampf verlor, war tot und musste ausscheiden. Zu jeder Partei gehörten Ältere und Jüngere in etwa gleicher Verteilung. Die Roten hatten eine Festung in einem sehr steilen Waldstück zu verteidigen. Ich gehörte zu den blauen Angreifern. Aber dem Angriff ging erst noch ein langes Suchen und Aufspüren des Gegners voraus. In der Zwischenzeit hatten sich die Verteidiger aus Ästen eine Burg gebaut, die von unten, über den steilen Hang, kaum zu erstürmen war. Sie hatten sich eine Taktik überlegt, die uns, den Eroberern, schwere Verluste brachte und sich eigentlich mit der Spielregel, nämlich dem Kampf um die farbigen Lebensbändchen, gar nicht vertrug: Die meisten von ihrer Gruppe lauerten weiter oben links und rechts im Dickicht, damit niemand von uns die Festung umging und von oben und hinten angreifen konnte. Die vier größten und stärksten Jungen aber standen bereit, um einen nach dem anderen von den mühsam heraufsteigenden Gegnern an Armen und Beinen zu packen und den steilen, dicht mit Fichten bestandenen Hang hinunterzuwerfen. Die Bäume hatten unten harte kurze abstehende Äste, die schlimme Kratzer verursachten.

    Es nützte nichts, sich in gedrängten Grüppchen zu nähern, um die Feinde so gewissermaßen zu erdrücken, sie waren zu stark, das Herankommen war viel zu schwer, und einer nach dem anderen flogen wir den Abhang hinunter. Einer verlor ein Auge dabei. Ich hatte zerschundene nackte Beine, blutete an einem Ohr und ziemlich stark aus einer Risswunde über dem linken Fußknöchel. Gelobt sei, was hart macht! Das war die Parole. Es ist klar, dass es weniger um wirkliche sportliche Leistungen ging. Darum ging es zwar auch, der Sport stand ja hoch im Kurs, eine Nation von Kämpfern musste auch eine Sportlernation sein. Die 1936er Olympiade hatte den deutschen Teilnehmern eine Menge Medaillen gebracht und dem neuen deutschen Reich großen Ruhm. Aber die Beispiele, die hier beschrieben worden sind, fallen schon in die Kriegszeit, es konnte nur nützen, auch schon mal ein wenig Blutvergießen einzuüben. Wir Jungen waren die Spartiaten, Kampf und Sieg galten als unser Lebens-Sinn, der Tod gehörte als Drittes dazu, der Tod fürs Vaterland, fürs eigene Volk. Er findet sich auch in den Liedern, von denen die Rede war, die Todesbereitschaft darf nicht vergessen werden.

    Die meisten Lieder führten sie mit sich, nirgendwo erscheint sie so inbrünstig wie in den Zeilen: Deutschland, sieh uns, wir weihen /dir den Tod als kleinste Tat, / trifft er einst unsre Reihen / werden wir die große Saat. - Doch, ein Lied ging wohl noch darüber hinaus. Man muss es durchschauen. Das war uns Zehnjährigen, als wir es lernten, noch nicht möglich. Unser Jungstamm trug den Namen Langemarck. Der Stamm war eine höhere Organisationseinheit der Hitlerjugend und des Jungvolks, oberhalb von Jungenschaft, Jungzug und Fähnlein. Der Jungstamm hatte auch ein eigenes Lied, das wir bei Feiern und bei Sportfesten singen mussten: Heißa, junge Mannschaft, / Jungstamm Langemarck, / nie lass dich besiegen, / bleibe fest und stark! Es ist bekannt, dass der Massenselbstmord bei Langemarck damals ohne weiteres im Sinne eines Jugend-Ideals gebraucht und gepriesen wurde, der Ort in Flandern, wo gleich 1914 die kriegsfreiwilligen Studenten und Gymnasiasten mit Hurrageschrei begeistert und ohne Deckung ins MG-Feuer der gut verschanzten Engländer rannten und hingemäht wurden. Man hatte sie zum Sterben erzogen. Bei uns wurde es aufs neue versucht.

    Wir sangen, wir sangen und wir marschierten, aber das schien trotz allem nur ein großes Spiel zu sein, es drang wohl alles Gehörte und Gelernte in uns ein, aber unsere Kinderfröhlichkeit nahm erst einmal keinen Schaden. Vielleicht lag das an den Lehrern. Sie begannen zwar jede Unterrichtsstunde mit dem Hitlergruß, dem befohlenen. Wir hatten ihn zu erwidern. Der Engelmann, der uns in der Sexta ins Englische einführte, schaffte es sogar, sich bei dem fatalen Gruß ein wenig Distanz zu verschaffen. Er sprach nämlich, wenn wir aufgesprungen waren, mit einem ganz und gar gemütlichen Tonfall: Heil Hitler, ihr Männer! In die Partei hatten sie alle eintreten müssen. Ihren Unterricht hielten sie ganz ohne ideologische Einfärbung.

    Mit dem Direktor allerdings verhielt es sich anders. Er liebte es, an nationalen Feiertagen fanatische Reden in der Aula zu halten, auch zuweilen Kriegsberichterstatter für seine älteren Schüler zu Vorträgen einzuladen, durchaus auf Kosten von Unterrichtsstunden. Bei den Feiern gehörte es unbedingt dazu, dass Schüler patriotische Gedichte aufzusagen hatten. Einmal, im Frühjahr 1941, traf es Herbert O. aus meiner Klasse. Er war untersetzt, stark, gutmütig und beliebt. Nun stand er mit Deutscher Glaube von Karl Bröger allein vor den Hunderten von Schülern und Lehrern, in heller kurzer Hose und Braunhemd, und da ging das Lampenfieber mit ihm durch, seine Blase versagte. Wir, die Jüngeren, saßen weit vorne. Ich sah, wie er stand und mit leerem Blick starrte, und ich sah, als er die Überschrift sprach, vorn an seiner Hose einen dunklen Fleck, der wurde immer größer, während er anfing: "Nichts kann uns rauben Er brach ab, sah zur Seite, ob nicht die Aulawand sich für ihn öffnen wollte, dann rannte er durch den Mittelgang weg. Ein Lehrer ging ihm nach. Niemand lachte. Wir litten alle stellvertretend an der furchtbaren Blamage. Aber Dr. Küster, der Direktor, dieser Idiot, hat den Herbert dann noch zusammengestaucht, auch den Eltern einen Brief geschrieben. Es sickerte durch, dass der Vater diesen Brief erbost und mit politisch waghalsigen Vorwürfen erwidert habe.

    Der Schulleiter Küster, von den Schülern furchtsam respektiert, wurde doch zugleich als komische Figur gesehen, wofür sich sein Habitus - dicker Bauch, spiegelblanke Glatze - anbot. Also hieß er bei uns die Mauke. Sein politischer Übereifer wirkte grotesk. Es hieß, er habe sich einmal am Telefon versprochen und ein Gespräch eröffnet mit Heil Küster, hier Hitler! Und später, 1942, als wir mit den Mittelstufenklassen von mehreren anderen Schulen in ein großes Kino befohlen worden waren, um dort von einem Propagandaoffizier einen ganz und gar nicht zündenden, sondern elend trockenen Frontbericht anzuhören, wurde der Ober- oder besser Übernazi mitsamt dem Redner grausam bloßgestellt. Nach dem Vortrag nämlich eilte er nach vorn und hub an: Liebe Schüler, mit atemloser Spannung.... Weiter kam er nicht, die ganze vorher eingeschläferte Schülerversammlung lachte laut und schallend. Dass er mit den Augen Blitze schoss, nützte ihm nichts, die Anonymität in der Masse schützte uns. Nicht einmal sein Freitod am Kriegsende verschaffte ihm posthum Respekt, rief nur Kopfschütteln und Achselzucken hervor.

    Zum Jungvolk gehörten auch Heimnachmittage, die zum Beispiel in größeren Schulräumen abgehalten wurden. Auch dabei wurde gesungen. Außerdem gab es eine Art von Unterricht, für den unsere Führer in Schulungskursen vorbereitet worden waren. Wir hörten von Waffengattungen, militärischen Diensträngen, Schiffs- und Flugzeugtypen, und dass die Deutschen ein Volk ohne Raum seien, in Osteuropa aber genügend Raum zum Erobern bereit liege, denn dort sei einmal Germanenland gewesen, das sollte heißen: deutsches Land. Und als der Krieg im September angefangen hatte, da mussten wir begreifen, dass er durch furchtbare Verbrechen an deutschen Menschen in Polen ausgelöst worden sei.

    An einem solchen Heimnachmittag wurde ein Junge aus unserer Runde aufgefordert, etwas neu Gelerntes aufzusagen. Er konnte nur eins von sich geben. Vom Abschneiden konnte er sprechen. Polen hätten in deutschen Dörfern den Bewohnern die Nasen abgeschnitten, die Ohren abgeschnitten, die Finger abgeschnitten, das Geschlecht abgeschnitten (Er sagte Geschlescht). Es folgte kein Einwand, es genügte. Das konnten sich deutsche Menschen ja auch nicht gefallen lassen, dann musste eben Krieg sein, und es war ein Glück, aber eigentlich auch eine Selbstverständlichkeit, dass unsere tapferen Soldaten jetzt ungeheuer schnell und überall siegreich in dieses Polen hineinstürmten.

    Man musste sich aber vorsehen. Wir standen nun auch mit den alten Feinden von 1914 im Krieg, jedenfalls erst einmal im Westen. Niemand konnte wissen, ob wir, wie damals, nur auf dem Boden des Feindes zu kämpfen hätten, wir mussten auch das eigene Land zur Festung machen, den Westwall fertig stellen, die Keller der Häuser befestigen und Bunker bauen, weil der Himmel über uns jetzt nicht mehr sicher war. Es gab ja die Flieger, der Krieg aus der Luft stand bevor, eine spezielle Artillerie musste die Heimat dagegen schützen, das waren die Flieger-Abwehr-Kanonen, das war die Flak. Weil wir uns aber auch gegen Verräter, gegen die inneren Feinde schützen mussten, hatte man auf seine Worte zu achten, und man wurde ermahnt durch Plakate, auf denen jemand den Finger auf den Mund legte und der Text zu lesen war: Achtung! Feind hört mit! Zwei weitere Plakate tauchten auf und wurden verbreitet. Das eine mahnte zur Energie-Ersparnis, damit die Rüstungs- und vor allem die Stahlindustrie jederzeit genügend Kohle für ihre Schmiedefeuer hatte, und die - alsbald populäre - Gestalt, die da als Schädling angeprangert wurde, war der düstere Kohlenklau, gekrümmt unter einem schweren Sack. Das dritte Plakat sollte die Bürger vom Reisen abhalten, damit der Schienenweg frei war für die Güterzüge und den Transport von Rohstoffen und kriegswichtigem Material. Hier lautete der Text: Räder müssen rollen für den Sieg, und manchmal stand noch die Reimzeile dabei: Unnütze Reisen verlängern den Krieg.

    Alle Übungen der Jugend, alle Vorkehrungen gegen mögliche Kriegsgewalt, vor allem aber das jahrelang schon erzeugte Empfinden: Wir sind bedroht, wir stehen im Kampf, wir müssen siegen, wir müssen auch unser Leben einsetzen - all das beschwor schon frühzeitig eine Vorstellung herauf, für die es später, mitten im Kriege, der schon ganz Europa ergriffen hatte, einen neuen Namen gab: Heimatfront.

    Und trotz allem - die Lieder und die Parolen drangen zwar in unser Gedächtnis ein, nicht aber so ganz ins Bewusstsein, ins Nachdenken. Wir blieben vorerst spielende Kinder, auf Bücherlesen, Basteleien, Straßenspiele und nach der Notwendigkeit auf Hausaufgaben ausgerichtet. So lange, wie uns die Mordmaschinen aus der Luft noch gewähren ließen.

    Böhnchen

    Wolf-Heinrich Bartels war mein Klassenkamerad vom ersten Schuljahr an. Er wurde nur Böhnchen genannt, den Grund weiß ich nicht. Das große Vorstadtviertel, in dem wir beide wohnten, heißt Fasanenhof und liegt am Nordrand der Stadt. Es wird geteilt durch eine breite Straße, die weit hinausführt. Auf meiner Seite sah es einfacher aus, es gab viele Doppel- und Reihenhäuser. Jenseits der Achse waren die Gärten größer, darin standen vielfach villenähnliche Häuser, in denen feinere Leute wohnten. Dort wohnte auch Böhnchen. Sein Vater arbeitete als ein leitender Ingenieur und Konstrukteur in der sehr renommierten Lokomotivenfabrik, die bis zum Kriege in alle Welt lieferte, dann, 1940, auch Panzer und Geschütze in die Produktion

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