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Lernen und Macht: Prozesse der Bildung zwischen Autonomie und Abhängigkeit
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eBook773 Seiten9 Stunden

Lernen und Macht: Prozesse der Bildung zwischen Autonomie und Abhängigkeit

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Über dieses E-Book

Der vorliegende Band untersucht LERNEN UND MACHT in ihren Wechselwirkungen mit besonderer Berücksichtigung der Schule. Bildungsprozesse sind keine autonomen Akte: Sie geschehen in einem unentwirrbaren Austausch zwischen politischen und individuellen Subjekten, die ihrerseits im Austausch untereinander und mit der Welt stehen. Dementsprechend werden in diesem Buch Lehren und Lernen in der Schule nicht isoliert und auf didaktische Kniffe reduziert betrachtet, sondern auf BILDUNGSPROZESSE IN KULTUR UND POLITIK hin untersucht, die auf Schule einwirken, die in der Schule reproduziert, teilweise dort aber auch produziert werden.
Dazu werden Texte aus anderen pädagogischen Lernkontexten und Feldern im weiteren Sinne in ein Gespräch gebracht mit Vignetten aus eigener Lern- und Schulforschung. Dabei soll ersichtlich werden, wie sich Lernen in Schule, in Kultur(en) und Politik zeigen kann, welchen Bedingungen der Macht und welchen PARADIGMATA DER BILDUNG es unterworfen ist und welche Ermächtigungen wiederum das Lernen stiften kann.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum5. Feb. 2016
ISBN9783706558143
Lernen und Macht: Prozesse der Bildung zwischen Autonomie und Abhängigkeit

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    Buchvorschau

    Lernen und Macht - Hans Karl Peterlini

    Westfall-Greiter

    Abstract

    Diese Arbeit, die als kumulative Habilitationsschrift an der Leopold-Franzens-Universität eingereicht wurde, untersucht Lernen und Macht in ihren Wechselwirkungen mit einer besonderen Berücksichtigung der Schule und den dort gegebenen oder erschwerten Möglichkeiten, Ermöglichungen und Ermächtigungen im Lehren und Lernen. Das Lernen in der Schule wird nicht isoliert und auf didaktische Kniffe reduziert betrachtet, sondern auf Bedingungen für Bildung auch in Kultur und Politik hin untersucht, die auf Schule einwirken, die in der Schule reproduziert, teilweise dort aber auch produziert werden.

    Dazu werden Explorationen auch aus schulfremden und schulfernen Feldern von Pädagogik im weiteren Sinne einer neuerlichen phänomenologischen Betrachtung unterzogen und mit Vignetten und Lektüren (vgl. Schratz/Schwarz/Westfall-Greiter 2012, Baur/Peterlini 2016) aus dem Forschungsprojekt „Personale Bildungsprozesse in heterogenen Lerngruppen" (Universität Innsbruck und Freie Universität Bozen, Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen) zu Schule in Beziehung gesetzt. So wird über den kumulativen Charakter der Arbeit hinaus der Versuch neuer Erkenntnisgewinnung anhand der forschungsleitenden Fragestellung unternommen, wie sich Lernen in Schule, in Kultur(en) und Politik zeigen kann, welchen Bedingungen durch Macht und welchen Paradigmata der Bildung es unterworfen ist, welche Ermächtigungen es stiften kann, wie das Lernen Macht verändern, wie Macht das Lernen verändern kann.

    Aus dem Zwiegespräch früherer Explorationen und jüngerer Forschungszusammenhänge entstehen Erörterungen zu Erscheinungsformen des Lernens mit folgenden thematischen Schwerpunkten:

    - Schule als „Lebens- und Erfahrungsraum"

    - Schule als Zerrgut der Nationalismen

    - Sprachliches Sperrgebiet Südtirol – Schule und Zweitsprache

    - Interkultura – Bildung unter kulturellem Diktat

    - Spurensuche im Vergangenen – verbaute Lernwege

    - Die Macht der Mythen oder die Betäubung der kritischen Wahrnehmung

    - Diskurse und Sprachen der Macht – die Einbahn(ung) von Bildungsprozessen

    - Der Lebenslauf als Ermächtigungs- und Bildungsraum. Oder auch nicht

    - Lernen und Verlernen – Ein Exkurs zur politischen Bildung

    Anstelle von Festlegungen als Fazit folgt eine Präsentation von weiteren elf ­Vignetten (siehe Kapitel „Fliegenfangen in Erfahrungsräumen des Lernens") u. a. zu den thematischen Schwerpunkten Raum und Zeit, Leiblichkeit, Wettbewerb, Lebensweltlichkeit, Kontrolle und Bewertung, bezogen auf Lernen und Macht.

    In „Rücküberlegungen" auf die Arbeit wird diese noch einmal auf ihre wesentlichen Fragestellungen hin reflektiert und zur Diskussion gestellt.

    Vorüberlegung

    Diese Publikation untersucht die Frage der Macht in Zusammenhängen, die im engeren und im weitesten Sinne als Felder der Pädagogik verstanden werden. Sie unterzieht dazu vorwiegend eigene Explorationen, die in unterschiedlichen Zeiten sowie mit unterschiedlichen Ansätzen entstanden sind, einer phänomenologischen Re-Lektüre und kritischen Re-Vision. Sie stellen in ihrer – nicht nahtlosen und nur durch narrativ-reflexive Brücken herstellbaren – Gesamtheit gewissermaßen meine bisherige Forschungsbiographie dar, die ich als kumulative Habilitationsschrift an der Universität Innsbruck vorgelegt und für diese Publikation noch einmal (leicht) überarbeitet habe.

    In der Zusammenfügung von Bausteinen des Denkens, Erörterns, Erforschens und Lernens habe ich dabei weder Hierarchien der wissenschaftlichen Zuordnung noch der zeitlichen Ordnung befolgt. Sie wären in etwa so willkürlich oder berechtigt wie jene von Jorge Luis Borges zitierte chinesische Enzyklopädie (Borges 1966: 212), die Michel Foucault an den Beginn seines Werkes „Die Ordnung der Dinge stellt (Foucault 1971: 17). Darin werden die Tiere folgendermaßen gruppiert: „a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, c)  Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen, eine Ordnung, die für Foucault an „die Grenze unseres Denkens führt (ebd.) und auf ein Nebeneinander verweist, das nicht möglich ist „außer auf der Buchseite, die sie wiedergibt [...], außer in der Ortlosigkeit der Sprache (ebd. 19).

    Diese Begabung der Sprache, die Wirklichkeit zu erschaffen, von der sie spricht, die Ordnungen zu verlassen, die uns gegeben scheinen, die vermeintliche Natur der Zusammenhänge zu überwinden und neue Zusammenhänge einer ebenso vermeintlichen Kultur zu erstellen, die somit ihrerseits wieder der Dekonstruktion bedürfen, ist die Linse, durch die in der vorliegenden Analyse Macht betrachtet wird. Macht als Frage der Pädagogik wird daraufhin untersucht, ob und wie Menschen im Kontinuum zwischen Macht und Ohnmacht „sprechen" können, wie sie Interessen wahrnehmen, artikulieren, aushandeln und durchsetzen können. Gayatri Chakravorty Spivaks (2008) gleich einfache wie radikale Frage, ob Subalterne sprechen können, weist über das Sprechen als Kommunikation von A nach B hinaus, es nimmt Kommunikation wörtlich als Mit-Teilung, als Teilhabe: Es meint die Macht, natürliche und kulturelle, ökonomische und soziale, private und politische Ordnungen umzustellen, zu verändern, neu zu gestalten, nach eigenen Bedürfnissen auszurichten (vgl. Peterlini 2013a). Sprache wird in diesem Sinne verstanden als Befähigung der Aneignung und Gestaltung von Welt, als Medium des Lernens, Verlernens, Umlernens, Neulernens.

    So werden die Explorationen und die darin erörterten Themen in Vor- und Rückwärtsbewegungen, in „Zirkel- und „Zickzack-Schritten angeordnet sein, wie es Edmund Husserl (2007b: 266) für die phänomenologische Methode als notwendig beschrieb: „Im Wechselspiel muß eins dem andern helfen (ebd.), um das jeweils „einseitig (Husserl 2010c: 172) gegebene Ding in seinen „Wahrnehmungsmannigfaltigkeiten, die, kontinuierlich ineinander übergehend, sich zur Einheit einer Wahrnehmung zusammenschließen (ebd.), von immer neuen „Seiten (ebd.) zu erfassen, ohne dass es je ganz erfasst werden könnte. Die zurück- und vorwärtsschreitende, umkreisende und durchkreuzende Reflexionsbewegung entlang und innerhalb von Texten findet ebenso Parallelen in der hermeneutischen Methode, ob als „Hineinversetzen, Nachbilden, Nacherleben" im Sinne Diltheys (1982: 213–216), ob als verstehende Vermittlung von Vergangenheit mit der Gegenwart nach Gadamer (1986: 316), im Sinne eines wirkungsgeschichtlichen Bewusstseins (ebd. 285), das sich als verstehende und vergegenwärtigende Applikation zeigt (ebd. 323).

    Aufgrund der unterschiedlichen methodischen und theoretischen Zugänge, die in den einzelnen Explorationen zur Anwendung kommen, ist in ihrer Bündelung, Neu- und Umordnung kein theoretischer und methodischer Purismus möglich. Zum möglichen Vorwurf eines beliebigen Eklektizismus wird auf die Betrachtung der Texte aus der Perspektive eines neu formulierten Erkenntnisinteresses hingewiesen, die jenseits des jeweils verwendeten Modells einen gemeinsamen Nenner der Erkenntnisfindung und -konstruktion erkennen lässt. Ein solcher Versuch ließe sich als Weg des Erkennens durch Schreiben und Beschreiben definieren, eine Essayistik des Erkundens und Forschens, die ihre Wissenschaftlichkeit durch die Sorgfalt der Vorgangsweise, durch die Behutsamkeit der Annäherung an die Sache, durch Reflexions- und Revisionsbereitschaft sowie durch eine rigorose Bescheidenheitshaltung gegenüber dem Anspruch sicheren Wissens behauptet. Sie orientiert sich im Ansatz an Hannah Arendts Postulat, dass Wirklichkeit sich über keine noch so umfassende Sammlung objektiver Daten erfassen und verstehen lässt: „Wer es unternimmt, zu sagen, was ist, kann nicht umhin, eine Geschichte zu erzählen, und in dieser Geschichte verlieren die Fakten bereits ihre ursprüngliche Beliebigkeit und erlangen eine Bedeutung, die menschlich sinnvoll ist (Arendt 2000: 367). Den gleichen Gedanken führt Arendt in einer Legitimation von „Berichterstattung aus, denn insofern diese „zum Geschichtenerzählen wird, leistet sie jene Versöhnung mit der Wirklichkeit, von der Hegel sagt, dass sie ‚das letzte Ziel und Interesse der Philosophie ist‘, und die in der Tat der geheime Motor aller Geschichtsschreibung ist, die über bloße Gelehrsamkeit hinausgeht" (ebd.).

    Reflektierendes Schreiben als Methode der Erkenntnis ist ohne große Kunstgriffe anknüpfbar an Heinrich Kleists berühmten Aufsatz „Ueber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (1986: 722). Kleist bezog sich auf ein Schärfen bereits vage im Kopf kreisender Ideen durch Dialog und kommunikativen Austausch, den er teilweise als einseitiges Monologisieren schildert; im Schreiben findet ein solcher Austausch mit dem gedachten Gegenüber als Leser/in statt, klären oder transformieren sich Gedanken, brechen Sätze durch, die zuvor nicht gedacht waren. Friedrich Nietzsche erhebt die literarische Spekulation in bewusstem Bruch mit der philosophischen Tradition seiner Zeit zur Methode (Keupp 2005: 10) und beeinflusst damit wesentlich Bert Brechts „Philosophieren als Theater (Šubik 2000: 23); Roland Barthes wird sich für seine literarischen Texte auf Nietzsche berufen (Brune 2003: 29), im Sinne von „Schreiben als Ausloten und Erproben des Sagbaren (Kolesch: 11). Für die Psychoanalyse, der einige der gesammelten Texte verpflichtet sind, ist Sigmund Freud repräsentativer Exponent eines Verfahrens, das Dietmar Larcher (1996: 23) ein „narrativ voranschreitendes nennt; für Jacques Lacan, den Dekonstrukteur und Neuinterpreten der Freud’schen Psychoanalyse, ist die Sprache – hier verknappt dargelegt – der Text, auf den unser Dasein gründet (vgl. Lacan 1991b: 117). Konzepte beschreibender Exploration (Geertz 1990; 2002) und einer „narrativen Empirie (Larcher/Larcher 2006) finden gerade in der Pädagogik wertvolle Anknüpfungspunkte: zur auto-biographischen Erzählung bei Duccio Demetrio (1998; Anzaldi/Demetrio et al. 1999), zur „Pädagogischen Geschichte nach Dieter Sinhart-Pallin (2000: 40) und zu den „pädagogischen Fallgeschichten" nach Michael Schratz und Josef Thonhauser (1996) bis hin zur extremen Verdichtung von (miterfahrenen) Erfahrungen des Lernens in Form der Vignette (Schratz/Schwarz/Westfall-Greiter 2012).

    Bietet die Vignette in ihrer kunstvollen Dichte einen „trächtigen und überschüssigen Reichtum (Meyer-Drawe 2012: 14) für die pädagogische Reflexion von individuellen und interaktionalen Lernmomenten, erlaubt weiters die narrative Fallstudie das Verstehen von zeitlich begrenzten Entwicklungen und Bildungsverläufen, so öffnet sich einem schreibenden, beschreibenden Ansatz der Lebenslauf als „Medium der Bildung (Luhmann 1977: 26) oder, noch weiter gefasst, als „Medium der Humanontogenese (Lenzen 1977: 228 ff). Der Bogen der hier angebotenen Texte spannt sich somit von einer narrativen Miniatur des Lernens, wie die Vignette sie darstellt, über individuelle Fallgeschichten und biographische Erzählungen bis hin zu historischen Re-/Konstruktionen des Lernens in Gruppen, Gesellschaften, zwischen Staat und Minderheit, exemplarisch vertieft am Beispiel der jüngeren Südtiroler Zeit- und Bildungsgeschichte. So werden auch Explorationen präsentiert, die – im Sinne Arendts – teilweise auch „Berichterstattung sind. Die Weite dieses Bogens macht sich, gemessen an abgrenzbaren und abgegrenzten Paradigmata und Praktiken des Forschens, angreifbar als Inkohärenz in Stilmitteln, wissenschaftlichen und textlichen Genres, Themenfeldern; er ist gespannt zwischen Pädagogik und Politik, Philosophie und Praxis. Der Bogen rechtfertigt sich durch die Sehne, die seine Extreme verbindet – es ist die durchgehende Sehne der Macht, die zum Lernen befähigt, die das Lernen erschwert, die es möglich macht, die es verunmöglicht, es ist die durchgehende Sehne der Ohnmacht, die zum Lernen zwingt, die vom Lernen bezwungen werden kann, die nach der Macht greift oder an ihr versagt. Momente solcher Erfahrungen oder Widerfahrnisse des Lernens (vgl. Meyer-Drawe 2010: u. a. 8) im engeren pädagogischen Feld der Schule werden in Form von Vignetten und Lektüren eine Verbindung suchen mit den unterschiedlichen Themenbereichen und Textsorten der früheren Explorationen in anderen Feldern.

    Der narrative Ansatz in vielen der angebotenen Texte ist dabei nicht nur Methode der Wahl des Schreibens, sondern stellt über die Textform auch einen Gegenstand inhaltlicher Reflexion dar: Dass das Erzählen Leid (mit-)teilbar und damit leichter zu ertragen macht, ist eine Grundfigur der psychoanalytischen Lehre, von Breuers und Freuds (1990: 23) Anfängen der „Redekur" bis hin zu Theorien kollektiver Konfliktbewältigung durch Trauerarbeit, für den deutschen Sprachraum repräsentiert vor allem durch Alexander und Margarethe Mitscherlich (1991) und Thea Bauriedl (1988). Für Hannah Arendt lässt das Geschichtenerzählen – vielfach auch als storytelling zitiert (vgl. Saavedra 1987: 50) – nicht nur das Leid, sondern auch die Freude „für Menschen erst erträglich und sinnvoll werden (Arendt 2000: 367). Diese Aussage geht über die von der Psychoanalyse erkannte heilende Wirkung des Erzählens hinaus und verweist auf Sinn- und Weltstiftung überhaupt. Für den Versuch, „Perspektiven einer narrativen Pädagogik (Peterlini 2011a: 169) zu skizzieren, eröffnet dies Möglichkeiten einer zu vertiefenden Reflexion.

    1. Theoretische Hinführung

    1.1 Abschattungen der Macht – eine begriffliche Annäherung

    Als flüssig und flüchtig, dem Foucault’schen Panoptikum totaler Kontrolle entwichen, beschreibt Zygmunt Bauman (2003: 18) die Macht in der Postmoderne, und ebenso schemen- und wechselhaft zeigt sich auch ihre Begriffsgeschichte bis in die Gegenwart. „Der Selbstverständlichkeit des Phänomens steht eine totale Unklarheit des Begriffes gegenüber", so leitet Byung-Chul Han (2005a: 7) seine Studie zur Macht ein – genauer müsste man wohl von der vermeintlichen Selbstverständlichkeit eines Phänomens sprechen, dessen Bedeutungen zwischen Unterdrückung und Freiheit, zwischen destruktiver Gewalt und produktiver Kreativität schwanken (ebd.). Zwar finden sich in den allermeisten Definitionen von Macht auch konstruktive Aspekte, meist aber allein schon semantisch ins Negative gewendet. Für Niklas Luhmann kann Macht zwar Entwicklungen beschleunigen und wie ein „Katalysator wirken (1975: 12), zugleich aber beschreibt er ihre Funktion so, dass „es für den Unterworfenen gerade sinnlos [ist], überhaupt einen Willen zu haben; Macht stelle „mögliche Wirkungsketten sicher unabhängig vom Willen des machtunterworfenen Handelnden – ob er will oder nicht (ebd. 11f). Das knüpft an Max Weber an, der Macht zwar von Herrschaft abgrenzt und als „soziologisch amorph definiert, weil „alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen [...] jemanden in die Lage versetzen [können], seinen Willen in der gegebenen Situation durchzusetzen, während Herrschaft präziser die Chance bedeute, „für einen Befehl Fügsamkeit zu finden (Weber 1921: 28f). Webers Definition von Macht hebt sich dann aber nur in Nuancierungen von Herrschaft ab: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht(ebd. 28). Macht bietet also diese „Chance, erlegt freilich jenen, die sie nutzen wollen, die Aufgabe der Durchsetzung auf – letztlich ein offener Kampf, dessen Ausgang von der Ausstattung oder auch Mobilisierungsfähigkeit der Macht abhängt. In der Herrschaft ist dagegen schon klargestellt, „für einen bestimmten Befehl bestimmten Inhalts bei angehbaren Personen Gehorsam zu finden (ebd.). Disziplin steht, als dritte Kategorie bei Weber, im Dienste der Herrschaft, „soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung für einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angehbaren Vielfalt von Menschen zu finden (ebd.).

    Das Dilemma, dass Macht einerseits produktiv zu sein scheint, andererseits immer wieder als Macht gegen jemanden verstanden wird, hat zu einer Reihe dichotomer Definitionen geführt, im Sinne einer „Janusköpfigkeit der Macht (Hailer 2006: 154). Stellvertretend genannt seien das Modell der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) nach Marshall B. Rosenberg (2009) und die Unterscheidung in „instruktive Macht und „destruktive Macht bei Björn Kraus (2011: 97), wobei die positiv besetzte Definition auf die Möglichkeit verweist, andere Menschen im Denken und Handeln zu beeinflussen, während die negative Form der Macht auf die Reduktion des Anderen abzielt (ebd. 105). Rosenberg geht von strafender und beschützender Anwendung der Macht aus: Erstere stellt bei Verstößen gegen herrschende Regeln die Ordnung wieder her, die zweite schafft – auch mittels des Bemühens um gewaltfreie Kommunikation – Konsens, Zustimmung und Frieden (ebd. 118). Das prinzipielle Problem dichotomer Unterscheidungen ist, dass die Frage, welche der Machttypologien nun jeweils zur Anwendung kommt, vom guten Willen jener abhängt, die über die Macht verfügen. Die Asymmetrie der Machtachse bleibt unverändert: Wenn A die Macht hat, kann B nur hoffen, dass A sorgsam damit umgeht (etwa mit „Soft Power nach Nye 2004) oder, im noch günstigeren Falle, genau das will, was B sowieso auch möchte.

    Diese Latenz der Macht, dass sie aufrichtend sein kann oder zerstörerisch, ist für Georg Picht – vor allem bekannt für seinen Alarmruf von der deutschen Bildungskatastrophe (Picht 1964) – ihr eigentliches Substrat: „Macht ist am stärksten, wenn sie latent und eingeschränkt zur Disposition steht [...], wo sie latent bleibt, aber droht. (Picht 1981: 300) In der Ambivalenz der Erscheinungsformen von Macht erkennt Picht das Muster der göttlichen Allmacht, die für den gläubigen Menschen jederzeit vernichtend auf ihn hereinbrechen oder ihn mit Gnade erfüllen konnte – Macht sei „von solchem Glanz umgeben, dass die Menschen immer in Versuchung waren, sie als Manifestation des Göttlichen zu bestaunen (ebd. 301).

    Es ist Friedrich Nietzsche, der mit seinem Aufbegehren zum Willen zur Macht die Dichotomie zerbricht. Schon im Zarathustra (Nietzsche 2010) entwirft Nietzsche sein Programm, das von da an immer aufs Neue in sein Werk gestreut ist und auf der Grundlage vieler Skizzen im fragmentarischen Teil des Nachlasses noch einmal aufgegriffen wird (vgl. Nietzsche 1988, KSA 7–12). Der Wille ist eng mit dem Übermenschen verbunden. „Der Übermensch ist der Sinn der Erde", lässt Nietzsche Zarathustra schon in der Vorrede proklamieren, um dann zu präzisieren: „Euer Wille sage: der Übermensch sei der Sinn der Erde!" (Nietzsche 2010: 12)¹ Das Bekenntnis zum „Willen ist eine Aufkündigung des Gehorsams: „Welches ist der große Drache, den der Geist nicht mehr Herr und Gott heißen mag? ‚Du-sollst‘ heißt der große Drache. Aber der Geist des Löwen sagt ‚Ich will‘. (ebd. 23) Zur Verdichtung des Gedankens kommt es im Abschnitt „Von der Selbst-Überwindung, in dem Zarathustra nicht spricht, sondern singt: „Das ist euer ganzer Wille, ihr Weisesten, als ein Wille zur Macht (ebd. 94); und weiter: „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein." (ebd. 95)

    Nietzsches „Polemologie (Han 2005a: 41) ist zum einen von Schopenhauers Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung (2006) inspiriert, auf das er fast wörtlich Bezug nimmt, um darüber hinauszugehen. Spricht Schopenhauer vom „Willen zum Leben (ebd. 291), den er am stärksten in der Tierwelt, etwas gehemmt beim Menschen wahrnimmt, begnügt sich Nietzsche nicht mit dem Leben allein: „Nur, wo Leben ist, da ist auch der Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht! (Nietzsche 2010: 96) Zum anderen greift Nietzsche mit dem Verweis auf den Dienenden, der den Willen zum Herr-Sein hat, zumindest indirekt das Gleichnis von Herr und Knecht auf, mit dem Friedrich W. Hegel seine Phänomenologie der Macht begründet. Wo Hegel den Knecht auf den Kampf verzichten lässt, postuliert Nietzsche den Willen zur Befreiung.

    Die Begegnung von Herr und Knecht bei Hegel ist eine „Bewegung des Anerkennens (Hegel 1986a: 146), die Hegel als Metapher für die Not des „Selbstbewusstseins dient, „ein Anderes (ebd. 145) vorauszusetzen, um die eigene Existenz zu begründen – dadurch gerät es „außer sich (ebd. 146), es ex-sistiert. Dieses Außer-sich-Sein des Bewusstseins als Voraussetzung, um sich selbst zu erkennen und über sich selbst zu reflektieren, führt für Hegel in eine doppelte Verstrickung des Selbstbewusstseins: „erstlich, es hat sich selbst verloren, denn es findet sich als ein anderes Wesen; zweitens, es hat damit das Andere aufgehoben, denn es sieht auch nicht das Andere als Wesen, sondern sich selbst im Anderen" (ebd.). Um sich seiner selbst vergewissern zu können, muss es das Andere aufheben, was aber bedeutet, „sich selbst aufzuheben, denn dies Andere ist es selbst (ebd.) – ein unlösbares Dilemma, das Jean-Paul Sartre (1995) „Hegels Scheitern nennt, weil er die Spiegelung des „Ich im „Anderen als Gleichheit setzt und damit auf eine Identitätsbeziehung reduziert (ebd. 434).

    Aber selbst wenn Hegel sich, nach Sartre, in seiner eigenen Metapher verfangen hat, führt das philosophische Problem des Selbstbewusstseins, sich überhaupt erst durch die Annahme eines Anderen erkennen und konstituieren zu können, zu einer produktiven Urstiftung für die Frage der Machtverteilung. Hegel verteilt an die „zwei entgegengesetzte[n] Gestalten des Bewusstseins" zwei unterschiedliche Rollen: „die eine das selbständige, welchem das Fürsichsein, die andere das unselbstständige, dem das Leben oder das Sein für ein Anderes das Wesen ist; jenes ist der Herr, dies der Knecht (Hegel 1986a: 150). Entschieden wurde die Rollenverteilung nicht durch Kampf, sondern dadurch, dass der Herr seine „Begierde (ebd.) behauptet hat, während der Knecht den Kampf scheute, weil er „um sein ganzes Wesen" fürchtete (ebd. 153). Die Gefangenheit des Selbstbewusstsein, das sich behauptet hat, und des Anderen, das sich untergeordnet hat, ist damit aber nicht aufgelöst: Der Herr ist auf die Anerkennung durch den Knecht angewiesen, es ist dieser, der ihm – durch sein Dienen, durch seine Arbeit – den Status sichert; der Knecht bezieht aus seiner „freien Unterwerfung" (Han 2005a: 82), wenn auch dienend, ebenfalls sein Dasein.

    Von einer Unterwerfung, die nicht erst in historischen Verteilungskämpfen entsteht, sondern im Menschen verinnerlicht ist, ja eigentlich mit dem Menschen entsteht und diesen hervorbringt, geht auch Foucault aus (1976: 42). Ebenso wie Hegel ist Foucaults Sichtweise der Macht nicht a priori und nicht ausschließlich negativ geprägt, wenngleich Foucaults „drei Technologien der Macht (ebd. 170) dies zunächst suggerieren könnten: die Souveränitätsmacht, die sich mit dem Schwert, dem Krieg, der Todesstrafe, der Folter durchsetzt (ebd. 175f), jene des Gesetzbuches, die – mit dem Griffel – über die Zeichen herrscht und die Deutungshoheit über das Recht innehat; diese Technologie reicht weit in das Private hinein und kontrolliert die Vorstellungen der Menschen, wie sie zu leben haben, was sie für richtig oder falsch zu halten haben, wie ihre Körper sein sollen (ebd. 129–131); und als dritte Technologie jene der Disziplinarmacht, die am tiefsten ins Subjekt eindringt, indem sie ihren Einfluss hinter vermeintlicher Alltäglichkeit und über etablierte Gewohnheiten ausübt; sie erfasst den gesamten Körper, führt zur Selbstdisziplinierung und Anpassung des „Gehorsamssubjekts (ebd. 167). Trotz seiner Kritik an Institutionen der Macht wie dem Gefängnis, der Anstalt, der Kaserne, dem Strafapparat des Staates, birgt Macht für Foucault „strategischen Reichtum und [...] Positivität (ebd. 106). Macht sieht er nicht als Besitzstand, der einseitig verortet und gebunden wäre, sondern als „Vielfältigkeit von Kräfteverhältnissen; sie wirkt „in der ganzen Dicke und auf der ganzen Oberfläche des sozialen Feldes gemäß einem System von Relais, Konnexionen, Transmissionen, Distributionen etc. (ebd. 113f), deren Ineinandergreifen er auch „Dispositive (Foucault 1978) nennt. Trotz der von Foucault unermüdlich aufgezeigten Übergriffe von Macht, auf direkte und subtile Weise, wehrt er sich (beinahe vergeblich) dagegen, „die Wirkungen der Macht immer nur negativ zu beschreiben, als ob sie nur ‚ausschließen‘, ‚unterdrücken‘, ‚verdrängen‘, ‚zensieren‘, ‚abstrahieren‘, ‚maskieren‘, ‚verschleiern‘ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv und sie produziert Wirklichkeit (Foucault 1976: 250). Ihr hohes Maß an Durchsetzung führt Foucault darauf zurück, dass „sie Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt (Foucault 1978: 35). Ohne Macht gäbe es keine Lust, kein Wissen, keine Möglichkeit der Selbstsorge, keine Gestaltung des eigenen Lebens.

    Ist bei Hegel durch sein Herr-Knecht-Gleichnis die Dualität zwischen einem Selbstbewusstsein und einem Anderen personifiziert, lösen sich bei Foucault die Subjekte der Macht ähnlich auf, wie er es in seinem Schlusssatz von Die Ordnung der Dinge für den Menschen prophezeit: „daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht am Sand" (Foucault 1974: 462). Durch die – weitgehende – Entsubjektivierung von Macht befreit Foucault den Machtdiskurs aus jener Dichotomie, die bei Hegel noch eine Unausweichlichkeit ergibt – das Eigene und das Andere in ewigem Konflikt und unlösbarem Abhängigkeitsverhältnis. Macht wird zum Wirkungsverhältnis, das für Unterdrückung, Kontrolle und Disziplinierung missbraucht, aber auch positiv genutzt werden kann. Letztlich verdankt sich die Macht der Zustimmung des Unterworfenen: Solange dieser Ja oder Nein sagen kann, unterscheidet sich für Foucault die Macht von der Gewalt. Selbst ein Sklave stehe zum Herrn in einer Macht- und nicht in einer Gewaltbeziehung, sofern er prinzipiell die Möglichkeit der Flucht hat (vgl. Foucault 1994: 255f). Han dreht das Beispiel, mit kritischem Kommentar über die teilweise zu spielerische Konzeption der Macht bei Foucault, um eine dramatische Nuance weiter: Stringent gedacht, würde es sich in Foucaults Logik noch um eine Machtbeziehung handeln, wenn der Sklave die Möglichkeit hätte, Nein zu sagen zur Sklaverei, auch um den Preis, getötet zu werden (vgl. Han 2005a: 125f). Solange der Sklave die Möglichkeit habe, den Befehl zu verweigern und anstelle des Gehorsams seinen Tod zu provozieren, wäre er nicht machtlos. Es ist letztlich eine Rückkehr in das Gleichnis von Herr und Knecht in Nietzscheanischer Heroik: nicht der Wille zum Leben macht die Freiheit aus, sondern der Wille zur Macht auch um den Preis des Todes.

    Eine Zuordnung der Macht zum sozialen Feld, in dem sich „soziale Akteure bewegen, findet sich bei Pierre Bourdieu, dessen soziologisches Habitus-Modell auf subtile Mechanismen der Macht verweist und dadurch an die freiwillige Unterwerfung von Hegels Gleichnis anknüpft. So „verabscheuenswert und empörend die soziale Ungleichheit für Bourdieu auch immer ist, haftet den „Beherrschten trotzdem eine „hingenommene Komplizenschaft mit ihrer eigenen Benachteiligung an (Bourdieu 1989: 52). Über den Habitus als Inkorporation von Zugehörigkeitsmerkmalen, Werten, Stilen und Ausdrucksformen erfolgt eine teilweise unbewusste Einpassung in die herrschende Ordnung, die – dies ist ein Berührungspunkt mit Foucault – nicht nur in Kleidung, Auftreten, Haltung übergeht, sondern sich auch in den Körper einprägt (ebd. 43). Wohl sind Exklusionsmechanismen – über die ungleiche Verteilung nicht nur von ökonomischem und sozialem, sondern auch von kulturellem und symbolischem Kapital (1992: 50 ff) – am Werk, doch die Ausgeschlossenen und Zurückversetzten stilisieren ihren Status als „aus freier Wahl geborenen Geschmack (1989: 42). Gerade dadurch, dass die von Bourdieu wahrgenommenen Ausschlussmechanismen vielfach jeder Gewalt entbehren (es sei denn einer verborgenen strukturellen Gewalt), ja sogar die „Illusion der Chancengleichheit (Bourdieu/Passeron 1971) anbieten und die Benachteiligten auf diese Weise blenden, wird die Macht unangreifbar.

    So klingt es zunächst beinahe zynisch, wenn Han in seiner bestechenden Dekonstruktion westlich geprägter Theoriemodelle der Macht schon einleitend vorwegnimmt, worin sich die absolute Macht äußert – nicht in der gewaltsamen Unterwerfung, die auf eine schwache Macht, ja sogar auf Ohnmacht verweist, sondern im Zusammenfallen von Freiheit und Unterwerfung (vgl. Han 2005a: 14). Ein solches Moment macht Han schon bei Hegel aus, wo es noch im „Geist" angesiedelt ist, der durch Vermittlung „ein Wir, eine Gemeinsamkeit, eine Kontinuität des All-Gemeinen" stiftet (ebd. 101). Unterdrückung und Gewalt stellen „nur eine bestimmte, nämlich eine vermittlungsarme oder vermittlungslose Form der Macht dar (ebd. 44). Aber was ist unter Vermittlung zu verstehen? Wäre damit allein die Verschleierung der Machtmechanismen, die Gewinnung der Übervorteilten für die Mechanismen der Übervorteilung gemeint, dann liefe auch das Konzept der „Vermittlung auf Manipulation hinaus, auf Täuschungsmanöver und Listenreichtum der Machtausübenden. Für Han tut sich in der Vermittlung die Idee einer Macht auf, die sich selbst vermittelt und dadurch zur „Freundlichkeit" gelangt (Han 2005b: 135). Darin bestünde, was zu vertiefen sein wird, ein Handlungsspielraum, der besonders auch für die Reflexion pädagogischer Haltungen von Bedeutung wäre. Es geht um nichts weniger als um die Frage, ob und, wenn ja, wie Herr und Knecht einen Ausweg aus ihrer Verstrickung finden.

    Brücken zur Vorstellung einer freundlichen oder zumindest politisch emanzipatorisch gestaltbaren Macht haben Jürgen Habermas und Hannah Arendt in je unterschiedlichen, aber sich berührenden Konzepten geschlagen. In seiner Theorie des kommunikativen Handelns (1981a) analysiert Habermas strategische Machteingriffe aus der Systemebene auf die Lebenswelt, wodurch er deren Befähigung zum kommunikativen Handeln einer „Kolonialisierung (ebd. 9) ausgesetzt sieht. So stehen sich die strategische Kommunikation auf der Ebene der Systeme und das kommunikative Handeln in der Lebenswelt, mit der Bürger/innen auf eine Problematisierung ihrer Lebenswelt aktiv reagieren können, weitgehend ­dichotom gegenüber. In der Ausarbeitung seines kommunikativen Machtbegriffs greift Habermas auf einen gedanklichen Entwurf von Arendt zurück, der zunächst in einem Akt zivilgesellschaftlicher Selbstbestimmung besteht: „An emanzipatorischen Bewegungen interessiert sie, schreibt er zu Arendts Vita activa (1981), „die Macht der gemeinsamen Überzeugung: die Aufkündigung des Gehorsams gegenüber Institutionen, die ihre Legitimation eingebüßt haben; die Konfrontation der durch freien Zusammenschluß erzeugten Macht mit den physischen Zwangsmitteln eines gewaltsamen, aber ohnmächtigen Staatsapparates; der Entstehungsakt einer neuen politischen Ordnung und der Versuch, das Pathos des neuen Anfangs, die revolutionäre Ausgangssituation festzuhalten, die kommunikative Erzeugung der Macht institutionell auf Dauer zu stellen." (Habermas 1981b: 238) Es findet sich darin ein zweifacher Gedanke: jener des Zusammenschlusses der Knechte, die den Kampf aufnehmen und den Gehorsam verweigern, wobei dafür die Bedingung gilt, dass die angestrebte Macht kommunikativ ausgehandelt wird. So zeigt sich in Arendts Überlegung ein Ausweg auch für die bei Habermas leicht als ausweglos deutbare Gegenüberstellung mächtiger Systeme mit einer kolonialisierten Lebenswelt – durch den Zusammenschluss der Vielen in der Zivilgesellschaft tritt ein neuer Akteur als Dritter im Diskurs um die Macht auf.

    Theoretisch bedeutungsvoll ist an Arendts kommunikativem Programm, dass sie die Macht in einem „Zwischen" ansiedelt, das sowohl sozialräumlich-öffentlich als auch zwischenmenschlich zu verstehen ist. Dieses Zwischen, das auf einen zwischenmenschlichen, sozialen Raum pädagogischen Handelns und Verantwortens verweist, ist nicht von vornherein gegeben, kann aber geschaffen werden: „Macht besitzt eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusammen handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreuen (Arendt 1981: 194). Im Zusammenschluss und im kooperativen Aushandeln von Menschen entsteht ein „Erscheinungsraum, der „als ein Zwischen jedesmal aufleuchtet, wenn Menschen handelnd und sprechend beieinander sind (ebd. 192). Wiewohl in dieser Vision die Sprache des Evangeliums anklingt („Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen, Mt. 18,20), setzt Arendt damit der Resignation oder einer rein aggressiven Auflehnung ein Konzept praktizierbarer Hoffnung entgegen. Über die Teilhabe an der Macht durch Menschen, die sich zusammentun und ihre Bedürfnisse, Vorstellungen, Wünsche, Interessen aushandeln, werden für Arendt „Lebensgefühl und „Wirklichkeitsgefühl belebt (ebd.).

    In seiner theoretischen Ausführung zur kommunikativen Macht greift Habermas den Diskurs-Begriff auf, nuanciert ihn aber anders als Foucault. Diskurse bei Foucault sind, wenngleich sich auch bei ihm der Begriff wandelt, weitgehend hegemonial definiert, der Diskurs bestimmt, was gesprochen werden kann (Foucault 2004: 164f). Habermas erkennt eine Chance darin, dass Diskurse auch aus kommunikativer Praxis heraus entstehen können und wieder in die Praxis zurückwirken (vgl. Høibraaten 2001: 160). Kommunikative Macht unterscheidet sich von Herrschaft oder auch nur von strategischer Kommunikation durch das Aushandeln sozialer Regeln und Normen; auf diesem Wege könnten sich Einsichten über einen „eigentümlich zwanglosen Zwang durchsetzen (Habermas 1981b: 231). So schafft die kommunikative Aushandlung Macht, indem sie sich auf Diskursethik, Regeln und Normen stützt, die nicht über den Druck von Sanktionen wirken, sondern weil sie auf dem im Diskurs erzielten Konsens beruhen. In einer vielleicht utopischen Gegenbewegung zur realen Utopielosigkeit von Clausewitz, wonach der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei, die Macht ergo zur Gewalt greifen könne, definiert Habermas „den Diskurs als eine Fortsetzung des kommunikativen Handelns mit anderen Mitteln (1981a: 137).

    1.2 Vom Wollen, Können, Dürfen – Regungen der Ermächtigung

    Vom Wortklang her und auch von der etymologischen Verwandtschaft klingt Macht an machen an, dem althochdeutschen mahhòn. Schon im Althochdeutschen hat es aber eine eigene Wortwurzel, maht, die in Richtung mögen, vermögen weist (Duden 2007: 498f). Der Vergleich von Macht und Machen zeigt, trotz der begrifflichen Nähe, überraschende Abweichungen. Das Kurze Deutsche Wörterbuch von 1837 (Schmitthenner: 289) weist machen folgende Bedeutungen zu: „kräftig sein, Kraft äußern, verursachen; 2) Kraft in der Gestaltung von etwas äußern, verfertigen; als Derivate werden „die Mache, der Macher, der Hutmacher, die Macherei, machbar genannt, schließlich „das Gemächt. Verweisen damalige Ableitungen wie „Mache, Macher, Macherei, ja auch Hutmacher durchaus auf jene dynamische und produktive Qualität der Macht u. a. nach Foucault, so ist die als ursprünglich angenommene Bedeutung der „Kraft und des „kräftig sein eher ein Hinweis auf etwas, das man hat oder nicht hat, nicht auf etwas, woran man teilhaben kann, das man erwerben oder erkämpfen könnte: Machen wäre also – im Wortgebrauch, nicht in einem essentialistischen Sinne – eher Besitzstand, Macht, ein Wunsch danach, ein Mögen, auch ein Mögen-Können im Sinne von vermögen (als Verb, das freilich in der substantivierten Form wieder auf den Besitzstand verweist). Während die beiden fast 180 Jahre auseinander liegenden Herkunftswörterbücher in der Definition von Macht weitgehend übereinstimmen, ist Machen im jüngeren Duden nahezu kastriert. Die vermutete Herkunft ist dieselbe, nun aber verweist mahhòn nicht mehr in die Richtung von „kräftig sein, sondern von „kneten, streichen, abbilden, was ein sehr praktisches, häusliches, privates Machen darstellt, durchaus auch im Sinne von Lehmkneten für den Hausbau (Duden 2007: 498). Das Gemächt dagegen wird, mit eigenem Eintrag, nicht mehr dem Machen, sondern der Macht zugewiesen (ebd. 264).

    Als phallisches Symbol (vgl. Freud 1900: 84 ff; 112 ff)² würde das Gemächt auf eine männliche Macht des Eroberns, Unterwerfens und Zeugens verweisen, wie es bei Nietzsche anklingt: „Auch im Erkennen fühle ich nur meines Willens Zeuge- und Werde-Lust; und wenn Unschuld in meiner Erkenntnis ist, so geschieht dies, weil Wille zur Zeugung in ihr ist." (1999: 96) Darin zeigt sich eine Dimension von Macht, die Nietzsche sehr genau erkennt, aber in seiner Denktradition männlich-triebhaft vergeistigt und in ihrem emotionalen Gehalt als weiblich abwertet: Es geht dabei um die Verbindung von Macht und Erkenntnis, was bei Foucault Macht und Wissen wäre, die sich gegenseitig bedingen und ermöglichen, lustbesetzt und dadurch produktiv sind, zeugen können. Das hebräische Wort für Erkenntnis ist dasselbe wie jenes für Liebe im umfassendsten Sinne, es drückt das Erkennen, die Liebe und den (zeugenden) Geschlechtsakt aus, bildhaft verdichtet im verbotenen Apfel vom Baum der Erkenntnis.

    Es ist dieser Griff nach dem höchsten Wissen und nach der höchsten Macht, der die Menschen aus dem Paradies wirft, ihnen zwar die Liebe und die Zeugung lässt sowie die Erkenntnissuche als Forschungsdrang und Weltaneignung mit auf den Weg gibt, aber die ursprüngliche paradiesische Aufgehobenheit raubt (Gen 2,16–4,20, vgl. Peterlini 2010a: 44). Ein ähnlicher Bestrafungsmythos findet sich in Platons Gastmahl: Zeus teilte die ganzheitlich-dreigeschlechtlichen Kugelmenschen entzwei, als „sie es unternahmen, den Himmel zu ersteigen (Platon: 1979: 56). Die so entstandene Dualität von Mann und Frau führt im Mythos zu einer Rollen- und Aufgabenteilung der Liebe: hier die heterosexuelle Liebe als Paarung zum Zwecke der Fortpflanzung, dort die höhere Form der Liebe als Eros und Königspfad zur Erkenntnis, die den Männern vorbehalten ist (ebd. 77, vgl. Peterlini 2011a: 51). Nietzsche behält, wie sich zeigen wird, diese Rollenteilung bei. So geht er in seiner Erörterung der Freundschaft zunächst von der Frage nach Herrschaft und Knechtschaft aus: „Bist du ein Sklave? So kannst du nicht Freund sein. Bist du ein Tyrann? So kannst du nicht Freunde haben (Nietzsche 1999: 49). Bezogen auf Macht, reicht diese Unterscheidung, dass Freundschaft einerseits der Macht bedarf, andererseits durch Gewaltherrschaft verunmöglicht wird, an Konzeptionen von Freundschaft und Macht bei Foucault und Han. Foucault sieht in den „sexuellen Verhältnissen eine unvermeidbare Asymmetrie der Macht, die letztlich auf Unterwerfungspraktiken hinausläuft, während Freundschaft auf Gegenseitigkeit beruhe: „Freundschaft ist wechselseitig, und sexuelle Verhältnisse sind das nicht: in sexuellen Verhältnissen penetriert man oder man wird penetriert (Foucault 1994: 269f, vgl. Foucault 1986).

    Daraus würde für Machtbeziehungen eine Aufhebung der Herr-Knecht-Dualität in der Freundschaft folgen, nahe dem Konzept der Freundlichkeit bei Han als einer sich vermittelnden statt unterwerfenden Macht. Freundlichkeit ist nach Han keine „intrinsische Eigenschaft der Macht. Die Macht wird vielmehr von etwas berührt sein müssen, das nicht sie selbst ist, damit sie über die ihr mögliche Vermittlung hinaus vermittelt. Die Freundlichkeit ist auch eine Vermittlung, eine intensive Form der Vermittlung sogar. Aber ihr fehlt die Intentionalität der Macht, nämlich die ‚Spitze‘ der Subjektivität (Han 2005a: 141). Die Subjekthaftigkeit von Herr und Knecht, von Mann und Frau mit ihren asymmetrischen Konsequenzen wäre – eine Spekulation – in der Freundlichkeit wenn nicht aufgehoben, so doch um die „Spitze gebracht, besänftigt. Bei Nietzsche ist das Verdikt über die Machtverteilung zwischen Mann und Frau noch eindeutig. Wenn der Sklave nicht Freund sein kann, wenn der Tyrann keine Freunde haben kann, so ist Freundschaft der Frau in einem zweifachen Sinne verwehrt, denn sie repräsentiert für Nietzsche noch beides: „Allzulange war im Weibe ein Sklave und ein Tyrann versteckt. Deshalb ist das Weib noch nicht der Freundschaft fähig: es kennt nur die Liebe. (Nietzsche 1999: 49) Darin findet sich, ähnlich wie bei Foucault, die Depotenzierung von Liebe als Qualität der Macht. Denn sofern Macht als Befähigung zum Erkennen und Weltaneignen verstanden ist, ist ihr die Liebe geradezu abträglich. Die Liebe (des Weibes bei Nietzsche) ist keine hilfreiche Eigenschaft für den Willen zur Macht, sie ist behaftet von „Ungerechtigkeit und Blindheit gegen alles, was es nicht liebt. Und auch in der wissenden Liebe des Weibes ist immer noch Überfall und Blitz und Nacht neben dem Lichte (ebd.). Bei aller genüsslichen Abqualifizierung des Weibes als „Katzen [...], und Vögel. Oder, besten Falles, Kühe (ebd.) weicht Nietzsche im nächsten Satz aber auch einen Schritt zurück von der gar zu sicheren Annahme, dass dagegen der Mann reif sei für die einzig freundschaftsfähige Position zwischen Sklave und Tyrann: „Aber sagt mir, ihr Männer, wer von euch ist denn fähig der Freundschaft? (ebd.).

    So sehr Nietzsche zuspitzt, polarisiert, seine Sätze ins Schmerzhafte und Grausame treibt, so sehr eröffnet er durch das Konzept der Freundschaft als Mittelposition zwischen Sklave und Tyrann eine Idee von Macht, die wohl in der Befreiung zu suchen, nicht aber in der Unterdrückung zu finden ist. Was zu überwinden ist, um zu Macht zu gelangen, ist die Ohnmacht. Die Frage ist, wie dies gelingen kann, wenn der Aufstand des Knechts nicht nur zu einem Rollentausch führen soll, zur Unterwerfung des Herrn durch den Knecht, der dann selbst Herr wäre. Ist Macht – außer in idealtypisch gedachten Zwischenzuständen wie Freundschaft, in entsubjektivierten Vermittlungsformen wie Freundlichkeit – überhaupt so zu denken, dass sie nicht doch wieder Befehlende und Gehorchende hervorbringt? Kann – positiv gesprochen – die Wippschaukel alternierender Asymmetrien je wirklich in Balance gehalten werden?

    Während im englischen power, ähnlich dem französischen pouvoir, Kraft, Macht, Vermögen und, in fallweisen Anwendungen, auch Herrschaft vereint sind, hat die deutsche Sprache für Macht einen exklusiven Begriff, der diesen zugleich verschwimmen lässt: Macht ist nicht Herrschaft und ist nicht Gewalt, kann aber – zumindest im Sprachgebrauch – beides sein. Man könnte es so formulieren, dass Macht auch in Herrschaftssituationen und in Gewaltsituationen zur Geltung kommt, aber nicht zwingend auf Gewalt und Herrschaftsausübung angewiesen ist. Für Hannah Arendt führt die irrige Annahme, „daß Gewalt nichts weiter ist als die eklanteste Form von Macht (Arendt 2014: 36), zu einer Vernachlässigung der Analyse von Gewalt. Während Macht für Arendt nicht denkbar ist ohne Ermächtigung durch andere, in ihrem Namen zu handeln, ist Gewalt auch einem Einzelnen allein möglich, da Gewalt nicht auf zahlenmäßige Stärke und zwischenmenschliche oder gesellschaftliche Legitimation vertraut, sondern allein auf die Werkzeuge (vgl. ebd. 45), mit denen sie ihre Ziele durchsetzt. In der Gewaltherrschaft wird die Gesellschaft geradezu entmachtet, „die Tyrannis erzeugt die Ohnmacht (ebd. 56). So sind für Arendt Macht und Gewalt nicht nur nicht dasselbe, „sie sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr gerät; überlässt man sie den ihr innewohnenden Gesetzen, so ist das Endziel, ihr Ziel und Ende, das Verschwinden von Macht" (ebd. 57). So wäre Macht per definitionem nur in jenem gewalt- und herrschaftsfreien Zustand denkbar, den Han jener sich vermittelnden und daher vollkommenen Macht zuschreibt, die sich der Herrschaftsausübung und Gewalttätigkeit enthält. Solche Macht aber entzieht sich zugleich der Greifbarkeit. Was ist sie nun, wie kommt sie zur Geltung, wie zeigt sie sich?

    Macht, so betrachtet, wird zu einem mysteriösen Fluidum, das nicht zum Greifen/Begreifen ist. Die fernöstliche Denktradition eröffnet für Han (2007) den Ausweg der Abwesenheit, des „Abwesen", das im Unterschied zur (latent fortdauernden) Wesensbezogenheit westlicher Philosophie auf den Zugriff zur Sache, auf deren Begriff verzichten kann: „Das Wesen ist unterscheidend, bringt Differenzen hervor. Das aktivisch zu verstehende Abwesen macht aus der Differenz eine In-Differenz. Es nichtet die Differenz. (ebd. 153) Das Anwesen verweist auf Besitzstand, auf Haus, – aus Lehm gemacht, auf bleibende, fixierbare und damit auch zu umkämpfende Formen der Macht. Das Abwesen hält die Leere aus. Von diesem Gedanken ausgehend nimmt Han nun auch Position zu Liebe und Freundschaft, geht aber zu beiden auf Distanz: „Das Abwesen lässt keine Parteilichkeit zu. Jede Bevorzugung des Einen wäre bereits eine Benachteiligung des Anderen. Eine Zuneigung bringt eine Abneigung mit sich. (ebd. 35) Weder Liebe noch Freundschaft bringen die Wippschaukel in die Balance, sondern beide „setzen Unterscheidung und Parteilichkeit voraus. Sie beruhen auf Appetition. [...] Die Liebe insistiert. Und die Freundschaft erzeugt Bindungen (ebd.). Was bleibt dann? Der völlige Rückzug eines Weisen von der Welt in die Teilnahmslosigkeit, erkennt Han, setzt schließlich ja doch wieder „ein geschlossenes Subjekt des Interesses voraus, dem die Welt gleichgültig geworden ist (ebd.). Der Ausweg liegt in der Haltung des Abwesen, am besten verstehbar als Wesensenthaltung: „Das Abwesen entleert die Liebe und Freundschaft nicht zur Gleichgültigkeit, sondern zu einer grenzen-losen Freundlichkeit, die darin besteht, ohne jede Parteilichkeit alles gleichmäßig zu umfangen." (ebd.) Wäre eine solche Enthaltung als Haltung, sofern sie möglich ist, die pädagogische Antwort auf die Frage der Macht? Oder würden damit Beziehungsverhältnisse des produktiven Werts von Macht beraubt, die ja im Sinne Foucaults in jedes Handeln eingelassen ist, ja dieses überhaupt erst ermöglicht?

    Wenn vom Wesen der Macht abgelassen wird, was den westlichen Denktraditionen trotz aller Bemühungen um Abstreifung ihrer metaphysischen Gewichtigkeit nicht leicht fällt (vgl. Meyer-Drawe 2000: 9), stellt sich immer noch die Frage ihres Erscheinens in den Zusammenhängen zwischen Menschen, zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Tier, zwischen Mensch und Dingwelt, zwischen Mensch und Kultur, zwischen Kulturen …, um einige Beispiele für eine endlose Kette möglicher Machtbeziehungen zu nennen, die natürlich ihrerseits nicht der hier wieder durchscheinenden sprachlichen Dualitätskonstruktion gehorchen, sondern in unauflösbarer, höchstens reduzierbarer Komplexität untereinander verstrickt sind. Für Herrschaft, Gewalt, ja auch für deren passives Erleiden lassen sich leicht Beispiele finden, historische, gegenwärtige, öffentliche, private. Macht dagegen, die nicht Herrschaft und Gewalt ist, entzieht sich einer einfachen, sachbezogenen Beschreibung, sie ist unsichtbar, was eine seltsame Eigenschaft für ein Phänomen ist, das eher mit Sichtbarkeit in Verbindung gebracht wird, mit Insignien, Symbolen, Präsenz, Sieges- und Mahnmalen, Baulichkeiten und Arsenalen der Bedrohung und Bestrafung, mit Glanz und Glorie. Beschreiben und benennen lassen sich Träger/innen von Macht, Machthaber (seltener Machthaberinnen), Mächtige, Machtmenschen ebenso wie Opfer von Macht, Unterdrückte, Ausgebeutete, Ausgegrenzte, Benachteiligte – aber dies verweist wiederum nicht auf eine freundliche Macht, sondern auf Formen der unterdrückenden, gewalttätigen oder auch kapitulierenden Machtausübung von Machtmissbrauch bis Machtverlust, etwa dem Rücktritt von der Macht, mit dem zwar ein Mächtiger verschwinden kann, nicht aber die Macht.

    Ist Macht da, wo Menschen etwas „machen, etwas „können, etwas „vermögen"? Das italienische Wort für Macht rührt, ähnlich wie das französische pouvoir, nicht von machen her (fare), sondern von können. Potere bedeutet als Substantiv Macht, als Verb bedeutet es können und dürfen; mit Potenz teilt es sich auch im Deutschen die gemeinsame lateinische Herkunft. Macht lässt sich, wenn nicht auf die Sprachwurzel zurückgegriffen wird, nicht in ein Zeitwort umsetzen, man kann Macht haben oder ausüben, man kann nicht „mächtigen oder „mächteln; für power galt bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Ähnliches, erst in jüngerer Zeit kann man to empower/to be empowered sowie to power verwenden (aber nicht to be powered). Potere, als Hauptwort grammatikalisch männlich, ist Substantiv und Verb, Besitzstand und Handlung, die Macht und das Tun der Macht, das können und dürfen. Letzteres ist wohl eine der schwächsten Tunformen der Macht, das Dürfen ist auf Erlaubnis angewiesen, muss also darum fragen („darf ich austreten?) und kann abgelehnt werden (vgl. Vignette Holger, 3. 8. 2. 1). „Mögen hätt’ ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut!, lautet der berühmte Kalauer von Karl Valentin (Bachmaier 1990). Eine stärkere Form des Dürfens ist, im Deutschen, die Ermächtigung, was nun wieder im englischen empowerment eine Korrespondenz findet. Dies ist für Arendt das Moment von Legitimation der Macht, diese bedürfe nicht der Rechtfertigung, da sie – ein ähnliches Konzept wie jenes von Foucault – „allen menschlichen Gemeinschaften immer schon inhärent ist" (Arendt 2014: 53); sondern Macht entstehe da, wo Menschen sich zum Handeln legitimieren, letztlich eine soziale Konstitution von Macht, die dem Einzelnen – im Unterschied zur Gewalt – gar nicht möglich ist.

    So ist auch Valentins verzagter Mensch letztlich machtlos, da er einer Ermächtigung bedürfte, die von innen heraus nicht zu haben ist. In seinem Stoßseufzer klingt dabei etwas an, was noch vor dem Dürfen liegt, es ist das Mögen als Wunsch nach Macht, für die es nach Nietzsche mehr als das Mögen braucht, nämlich, was Nietzsche fordert: das Wollen, den Willen zur Macht. Den Wunsch hätte Valentins verzagter Mensch schon gehabt, sogar wollen hätte er das Mögen, aber es fehlte ihm der Mut zum Dürfen. Das ist kein Nonsens. Es führt zurück zu Spivaks Frage, ob Subalterne sprechen können, verstanden als das Artikulieren von Ansprüchen, als das Sich-Trauen des Willens zur Macht. Wenn Macht etwas ist, wozu ich das Können des Sprechens brauche, um mir die Erlaubnis zu sprechen zuzutrauen, wozu ich aber vorher den Mut brauche, sprechen zu wollen, um sprechen zu können, dann schließt sich eine Zirkularität, die an einem dieser Übergänge durchbrochen oder überwunden werden muss, da sie sonst ein ausweglos geschlossenes System darstellt. Arendt unterbricht den Kreis der Ohnmacht durch den „Machtursprung, der mit der Gründung einer Gruppe zusammenfällt (ebd.), sodass Macht einerseits soziales Handeln in einer Gruppe konstituiert und zugleich überhaupt erst durch die Bildung einer solchen Gruppe entstehen und wirksam werden kann. Nietzsche setzt in individualistischer Heroik den Willen an den Anfang, aber vorher begründet er den Willen – aber nicht aus einem geistigen Akt heraus, wie vermutet werden könnte, sondern in seinem Leib: „Den Verächtern des Leibes will ich ein Wort sagen. Dass sie verachten, das macht ihr Achten. Was ist es, das Achten und Verachten und Werth und Willen schuf? Das schaffende Selbst schuf sich Achten und Verachten, es schuf sich Lust und schuf sich Weh. Der schaffende Leib schuf sich den Geist als eine Hand seines Willens (Nietzsche 1999: 30). Heidegger wird daran anknüpfen, wenn er den Intellekt nicht zuallererst und nicht im Kopf allein entstehen lässt, sondern vorrangig über die Hand, mit der die Welt begriffen wird, mit der wir begreifend die Begriffe bilden (vgl. Derrida 1990). Allerdings gerät über Heideggers begriffsbildende Hand, die sich der Leib bei Nietzsche als „Geist" erschaffen hat und über die sich die Welt erschließt, doch wieder der Kopf in den Vordergrund, während der gesamte Leib, den Nietzsche in den Diskurs über das Denken eingefügt hatte, wieder aus dem Blick rückt.

    1.3 Die Mitsprache des Leibes

    Den Machtakt, sich mit dem Geist ein Werkzeug des Willens zu verschaffen, vollbringt der Leib bei Nietzsche nicht aus reiner Lust, sondern aus existenzieller Not: „Glaubt es mir, meine Brüder! Der Leib war’s, der am Leibe verzweifelte – der tastete mit den Fingern des betörten Geistes an die letzten Wände. Glaubt es mir, meine Brüder! Der Leib war’s, der an der Erde verzweifelte – der hörte den Bauch des Seins zu sich reden. (Nietzsche 1999: 27) Am Leib greift Nietzsche noch einmal Hegels Dilemma der Verdoppelung auf, hinter dem Sinn, hinter dem Geist, hinter dem Ich „liegt noch das Selbst [...]; es vergleicht, bezwingt, erobert, zerstört. Es herrscht und ist auch des Ichs Beherrschers (ebd. 30). Die Dualität zwischen Ich und Selbst hebt Nietzsche nicht zugunsten eines über den Leib herrschenden Geistes auf, sondern er dreht die Hierarchie um: „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heißt Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er. Es ist mehr Vernunft in deinem Leibe, als in deiner besten Weisheit." (ebd.)

    In den Theorien zur Macht steht der Leib vielfach als deren Objekt dar, er wird diszipliniert, beeinflusst, verändert, angepasst. Zwar sind Schmerz und Lust an ihn gebunden, wodurch er den Geist beglücken, verwirren oder quälen kann, aber der Schmerz wird ihm entweder (etwa durch Gewalt) zugefügt oder (etwa durch medikamentöse Fürsorge) soweit wie möglich betäubt, die Lust nur bedingt zugestanden. Bei Foucault ist der Leib „Ort der Herkunft" und trägt „das Stigma der vergangenen Ereignisse (Foucault 1993a: 75), er wird verändert und manipuliert durch „eine Politik der Zwänge (Foucault 1976: 176) und die dadurch notwendigen Technologien des Selbst (vgl. Foucault 1983b). Bei Bourdieu ist der Leib Abbild sozialer Anpassung, er übernimmt durch Einverleibung die „zu Körpern gemachten Werte" (Bourdieu 1979: 200) und trägt sie im Habitus zur Schau. Allerdings ist der Leib dabei nicht nur passiv: „Der Körper, postuliert Bourdieu, „denkt immer. (ebd. 199) Jüngere, vor allem gender- und queer-orientierte Forschungsansätze, prominent vertreten durch Judith Butler, versuchen „dem Leib eine ‚Selbstautorisierung‘ zuzuschreiben, um ihn den Machtinstanzen zu entziehen (Iwawaki-Riebel 2004: 64, Fußnote mit Verweis auf Biti 2001: 483). So spricht Butler vom „Körper als einem gelebten Ort der Möglichkeit, dem Körper als einem Ort für eine Reihe sich kulturell erweiternder Möglichkeiten (Butler 1995: 11).

    Eine konsequente Wende vollzieht Maurice Merleau-Ponty (1966; 1976; 1986/2004) in seiner Leibphänomenologie mit dem gleich einfachen wie radikalen Satz „Ich bin mein Leib" (2004: 181). Im deutschen Sprachraum wurde die Leibphänomenologie vor allem von Käte Meyer-Drawe (1987; 1988; 1996; 2000; 2010; 2012a/b) und Bernhard Waldenfels (1987; 1990; 1997; 2000; 2002; 2004) weiterentwickelt, die Innsbrucker Vignettenforschung um Michael Schratz (Schratz/Schwarz/Westfall-Greiter 2012) griff sie als innovative Methode der Lernforschung auf. Über den Leib erfährt der Mensch die Welt, über den Leib widerfährt sie ihm, als „Verflochtenheit von geistigem und körperlichem Sein (Meyer-Drawe 2000: 55), in der es nicht mehr möglich ist, die Sinnstiftung nur dem Geist zuzuschreiben, weshalb Merleau-Ponty auch nicht von Körper, sondern von Leib spricht (ebd.). Der Leib stellt für den Menschen nicht nur die „Verankerung in der Welt dar (Merleau-Ponty 1966: 174), sondern ist „unser Mittel, überhaupt eine Welt zu haben, der „Durchgangspunkt meiner beständigen Bewegung auf die Welt [zu] (ebd. 176). Die Existenz des Subjektes wird durch den Leib konstituiert, da sie „eins ist mit meiner Existenz als Leib" (ebd. 463). Natur und Kultur lassen sich, weitergedacht, ebenso wenig trennen.

    Bei Hegel klafft noch das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Leib und Geist als Präformation für den Zugang zur Welt und zum Anderen. Die Natur ist ihm tote, unfreie, ohnmächtige Masse, die nur Wiederholungen hervorruft, einzig der Geist kann Neues schaffen (vgl. Han 2005b: 12f). Durch den Verzehr des Anderen eignet sich das begehrende Subjekt lediglich ein Objekt an, das „etwas zu seinem eigenen Wesen Gehöriges und dennoch ihm Fehlendes darstellt, weshalb es sich seiner bemächtigt und „durch Verzehrung desselben sich befriedigt (Hegel 1986b: 217). Han leitet davon zu einer machtlogischen Bejahung der Assimilation des Anderen über, um dieses „allmählich zur Identität mit sich zu bringen" (Han 2005b: 55). Die Macht besteht darin, das Andere mit sich zu vereinigen, um die „Einseitigkeit der Subjektivität und

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