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Tirol - Notizen einer Reise durch die Landeseinheit
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eBook288 Seiten3 Stunden

Tirol - Notizen einer Reise durch die Landeseinheit

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Über dieses E-Book

Bis Borghetto, dem kleinen Etschhafen südlich von Ala, reichte einst das Land Tirol - von dort aus begibt sich Hans Karl Peterlini auf eine politisch-literarische Erkundungsreise durch das Land im Gebirge, das meist Land im Gewirre war: von Borghetto bis Kufstein und zurück, zu Stätten Tiroler Vergangenheit und Gegenwart. Es ist eine Reise durch Zeit, Raum und Kulturen, durch ein Land, in dem Sprachen und Missverständnisse fließen.
Die Frage, die Peterlini dabei begleitet: Ist ein gemeinsames Tirol nur Vergangenheit oder hat die Idee der Landeseinheit noch Zukunft? Die Antwort darauf geben die Menschen und Orte, die früher Tirol waren und jetzt so etwas wie Tirol sein könnten. Aber nicht nur von den Helden erzählt Peterlini, sondern auch von den Verlierern und Verirrten, nicht nur von den Abwehrschlachten, sondern auch vom Brückenschlagen und der Offenheit für das Fremde.
So ist Peterlinis Erkundungsreise zugleich eine kritische Liebeserklärung an ein Tirol, dessen Identität abseits von Einheits- und Reinheitsräuschen gerade in seiner Vielfalt und Spannbreite liegt als eine Mischung aus Süd und Nord und einer Prise Ost.
SpracheDeutsch
HerausgeberHaymon Verlag
Erscheinungsdatum15. Apr. 2014
ISBN9783709973967
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    Buchvorschau

    Tirol - Notizen einer Reise durch die Landeseinheit - Hans Karl Peterlini

    sein.

    Protokoll 1: Iginio Rogger

    31.1.2008, Trient, via Carlo Esterle 2, gleich hinter dem Dom. Iginio Rogger lebt und arbeitet hier, Philosoph, Theologe, Kirchenhistoriker, Doctor honoris causa der Rechtswissenschaften, ein Gedächtnisspeicher (nicht nur) Tiroler Geschichte.

    Ach, diese Tirolgeschichte ist eine aufregende Sache für die Gelehrten, da gäbe es viel zu forschen. Das Trentino verleugnet diese Geschichte ein wenig, zu Unrecht, glaube ich, denn es war ein Verdienst Tirols, die frühere bischöfliche Kleinstaaterei in eine stärkere politische Einheit überzuführen. Das Bistum Trient wäre ohne seine Zugehörigkeit zu Tirol eine leichte Beute seiner Veroneser Nachbarn geworden, durch Tirol hat es seine Eigenständigkeit bewahren können. Unter Tirol war „Land" nicht nur ein geographischer Begriff, das bedeutete auch ans Territorium gebundene Rechte, Kompetenzen. Das ist am Nationalismus zerbrochen.

    Iginio Rogger ist 1919 geboren, 89, er sitzt hinter seinem Schreibtisch vor aufgestapelten Büchern, lächelt aus milde gewordenen Augen, sinkt im Laufe des Gesprächs immer tiefer hinter den Bücherstapel.

    Wir müssen uns bemühen, die Jahre ab 1915 nicht zum Maßstab zu nehmen, Krieg kann kein Maßstab sein. Die Trentiner Irredentisten wurden für den italienischen Anspruch auf die Brennergrenze missbraucht, aber Cesare Battisti wollte nicht die Brennergrenze. Was habe ich für Kämpfe erlebt, als ich seine Witwe darin unterstützt habe, dieses sein Vermächtnis öffentlich zu machen! Aber auch Alcide Degasperi wird Unrecht getan, ich weiß, ihr Südtiroler habt da ein Problem, weil er die Autonomie auf das Trentino ausgedehnt hat. Ich habe mit Karl Gruber geredet, der mit Degasperi den Pariser Vertrag geschlossen hat. Er hat mir gesagt, schauen Sie, Degasperi und ich haben uns damals bei der Unterzeichnung angeschaut und wohl dasselbe gedacht: Das eine ist dieser Vertrag, etwas anderes die Umsetzung, auf die wird es ankommen. Und das ist am Anfang leider danebengegangen. Ja, diese Tiroler Geschichte, manchmal frage ich mich schon, welche Antworten Jesus von Nazareth dazu geben würde.

    Tirol ist sehr schön, aber die schönsten Landschaften können uns nicht entzücken bei trüber Witterung und ähnlicher Gemütsstimmung. Diese ist bei mir immer die Folge von jener, und da es draußen regnete, so war auch in mir schlechtes Wetter. Nur dann und wann durfte ich den Kopf zum Wagen hinausstrecken, und dann schaute ich himmelhohe Berge, die mich ernsthaft ansahen und mir mit den ungeheuern Häuptern und langen Wolkenbärten eine glückliche Reise zunickten. (…) Im südlichen Tirol klärte sich das Wetter auf, die Sonne von Italien ließ schon ihre Nähe fühlen, die Berge wurden wärmer und glänzender, ich sah schon Weinreben, die sich daran hinaufrankten, und ich konnte mich schon öfter zum Wagen hinauslehnen.

    (Heinrich Heine, Reisebilder, 1828)

    A 22 – A 13

    Reisen ist flüchtiger geworden seit damals, als Heinrich Heine in der Postkutsche über den Brenner fuhr, ähnlich wie rund 50 Jahre vorher Johann Wolfgang von Goethe, wie überhaupt viele Söhne aus wohlhabenden Familien in England, Frankreich und Deutschland zur letzten Reifung auf Bildungsreise nach Italien aufbrachen oder geschickt wurden. Wohl fluchte auch Goethe darüber, wie er vom Brenner abwärts durch die Orte gebeutelt wurde und ihm kaum Zeit blieb, sich in Sterzing, in Brixen, in Klausen umzusehen, aber er fand Anregung und Muße, Sehnsüchte zu entwickeln und Gedanken zu weben. An Heine holperten das Eisacktal flussabwärts die Häuser vorbei, die er als „niedlich und „nett beschrieb, „auch hübsch bemalt sind diese Häuschen, meistens weiß und grün, als trügen sie ebenfalls die Tiroler Landestracht, grüne Hosenträger über dem weißen Hemde".

    Nüchterner als damals und etwas banal liegt Tirol 2009 diesseits und jenseits des Brenners entlang der Autobahn. Die Landschaft an den Hängen fast noch dieselbe wie ehedem, gespickt mit einigen Häuschen mehr, die in der Regel ein bisschen weniger niedlich und nett sind und selten Landestracht tragen, eher einen Verschnitt davon. Die Talsohle verbaut, expandierende Gewerbegebiete als Ausläufer von Dörfern und Städten.

    Sicher ließe sich Reiseromantik auch hier noch erspüren. Man könnte bei Waidbruck, in diesem zwischen Schiene und Straße und Stromleitung verspannten Dorf im Schatten der Autobahnschlange, anhalten und zur Trostburg wandern, die noch mit einer gewissen Erhabenheit über dem Tal thront, wie alte Burgen es zu tun pflegen, auch wenn sie längst aus der Zeit und aus der Bedeutung gerückt sind. Die Burg war Amtssitz der Richter von Villanders und kam in den Besitz der Herren von Wolkenstein, wenn auch nicht der berühmte Minnesänger und Haudegen Oswald von Wolkenstein sie übernahm, sondern sein Bruder Michael. Von diesem führt eine direkte Linie zu Frau Hofrat Viktoria Stadlmayer, deren Mutter nicht „eine Gräfin Wolkenstein war, wie sie sich über saloppe Biographen ärgern konnte, sondern „die Gräfin Elisabeth Wolkenstein. Viktoria Stadlmayer, 1917 in Brixen geboren, verbrachte als Mädchen im Schloss ihres Onkels viele Sommerfrischen. Erinnerungsbilder davon bewahrte sie sich bis ins hohe Alter: wie die Bauern bei Mondschein aus den umliegenden Höfen zur Burg abstiegen und dort, hinter den sicheren Mauern, verbotene deutsche Lieder sangen, vereint für einige magische Stunden im Trutz gegen die fremde italienische Herrschaft zur Zeit des Faschismus, Graf und Bauer und Knecht für eine Sommernacht die Kluft überwindend, die nicht minder tief und trennend gewesen sein dürfte, als Sprachgrenzen es sind.

    Der Wolkensteiner: Er könnte ein Stammvater tirolischen Bewusstseins sein, raubeinig, sattelfest, verwegen und doch groß im Lieben und Verehren des Schönen, ein musikalischer Avantgardist seiner Zeit, ein Ritter Elvis des späten Mittelalters, hoch zu Ross, Lockenpracht, Hüftschwung und zusammengekniffenes, weil verlorenes Auge als erotische Markenzeichen, bedeutender Recke und Diplomat im Dienste des deutsch-ungarischen Königs Sigmund und auch des Tiroler Herzogs Friedrich IV. mit der leeren Tasche. Kein Bückler, er schloss sich einem Adelsaufstand gegen Friedl an, handelte sich Havarien um Schloss und Besitz ein, verbrachte Jahre der Verzweiflung in Gefangenschaft, im Innsbrucker Vorstadtgefängnis Kräuterburg und auf Schloss Vellenberg in Völs im Inntal. Auch fünf Jahre Haft beugten ihn nicht.

    Und doch verwittert sein Gedächtnis in der gebügelten Glätte Südtiroler und Tiroler Gegenwartsbefindlichkeit, hochgehalten als Standarte bei der nach ihm benannten Reiterveranstaltung im Tourismusdreieck Völs-Seis-Kastelruth am Schlern. Als sich Deutschtirol gegen 1900 als Außenposten des deutschen Nationalismus gegen den italienischen Irredentismus zu begreifen begann, wurde nicht Oswald von Wolkenstein, sondern Walther von der Vogelweide als Denkmal in Bozen in Stellung gebracht – als Symbol „deutschen Freiheitsgefühls und deutscher Machtentfaltung, wie es in der Festschrift zur Denkmalenthüllung 1889 heißt. In Trient wurde 1896 das Dante-Denkmal dagegengestellt, dem „padre, dem Vater der Nation gewidmet. Diesseits und jenseits der von da an immer schärfer gezogenen Sprachgrenze berief man sich nicht auf Trentiner oder Tiroler Geist, sondern auf großdeutsche, auf großitalienische Überstiegenheit, den einen wie den anderen Dichter über Zeit und Geist ihres Wirkens zerrend, verzerrend. So wie der Vogelweider am Bozner Waltherplatz nach Süden blickt, voller Taubendreck, hie und da beschmiert, einmal von Reinhold Messner nächtens mit rotem Schal umwickelt, auf dass er weniger friere in seiner politischen Entfremdung, so starrt der Alighieri auf seinem Platz zwischen Bahnhof und Regionalrat in Trient etwas verdrossen, aber milde nach Norden. Subversiv unterlaufen die Poeten den nationalistischen Missbrauch ihrer vornationalen Dichtung, indem sie zueinander schauen.

    Links von der Autobahn, hoch über dem Tal, taucht Säben auf, noch erhabener als die Trostburg, noch deutlicher aus der Zeit gefallen – oder auch nicht. Auf Säben und in Trient wurden – zwischen 300 und 500 – Tirols erste Bischofssitze eingerichtet, Zentren kirchlicher und weltlicher Macht in der römischen Provinz Aquileia. In Trient, das zum Hochstift aufstieg, wurde – mit einigen Unterbrechungen und einer Verlegung nach Bologna – von 1545 bis 1563 das Tridentiner Konzil abgehalten. Säben wurde 798 dem Erzbistum Salzburg unterstellt, um 900 wurde der Bischofssitz nach Brichsna verlegt. Jetzt ist es ein Memento mori entlang einer beschleunigten, das Leben schnell voran- und gelegentlich um die Ecke bringenden Achse. Leitplanken, Lärmschutzwände, digitale Stauankündigung, Raststätten, Ausfahrten, Einfahrten, Mautstellen, mehr oder weniger automatisiert, regeln das Leben zwischen Trient und Innsbruck, Borghetto und Kufstein, Modena und München, halten es in den vorgesehenen Bahnen, schirmen die Umgebung von der Straße oder die Straße von der Umgebung ab, empfehlen auf Touristenschildern, was es am Straßenrand zu sehen gäbe, hätte man Zeit.

    Auf dieser Seite des Brenners: die Stellagen mit italienischem Autobahn-Raststätten-Firlefanz, den Plastikbehältern mit den ausrangierten CDs zum Wühlen, die lange metallene Theke, auf die von Baristi im Sekundentakt die Espressi gestellt werden, Panini üppig aufgetürmt und fantasievoll mit Namen ausgestattet, frisch ausgebackene Brioches mit Crema, Marmelatta oder Ciocolatta. Auf der anderen Seite des Brenners: die Stellagen mit österreichischem Autobahn-Raststätten-Firlefanz, keine ausrangierten CDs, eine knappe Theke zwischen Registrierkasse und Zapfstellendisplay, einige Barhocker, die Kaffeehausatmosphäre simulieren, abgepackte Hörnchen, eine Glashaube mit Wurst- und Käsesemmeln, das Backrohr mit zwei Laiben angeschmortem Fleischkäse, der Tankwart und Barmann weniger elegant, weniger schnell, aber meistens mit einem trockenen Schmäh.

    Auf der Staatsstraße, auf den alten Landstraßen wären die Akzente vielleicht deutlicher, ließe sich vergleichen die schlichtere und zugleich vornehmere Gasthofarchitektur südlich des Brenners mit der opulenten Wirtshausherrlichkeit Nordtirols. Die Suche nach Gemeinsamkeiten diesseits und jenseits des Brenners hat Generationen überfordert, ermüdet, zu langweilen begonnen. Am ehesten verbindet noch die Suche nach dem Trennenden: Sind die Südtiroler wirklich feiner, eleganter, cooler – oder nur arroganter? Lieben uns nun die Trentiner wieder oder halten sie ein Messer hinterm Rücken, um uns den Autobahnpräsidenten, die Studenten und die Fluggäste wegzunehmen? Und was macht es aus, dass die Nordtiroler, gerade weil sie etwas uncooler sind, irgendwie echter, gar „ehrbarer wirken, wie es Hans Heiss erlebt, tirolerisch sozialisiert durch frühe Autofahrten von Brixen nach Innsbruck. Es sind die 1950er Jahre, das Fahren von Südtirol nach Nordtirol ist beinah ein Bekenntnis, die alte Brennerstraße noch eine Herausforderung, dafür am Bergisel jedes Mal die Belohnung – der Blick auf Innsbruck. Ein halbes Jahrhundert später ist der Anblick immer noch ein Erlebnis: neu die Sprungschanze, unverändert die Weitung der Landschaft, mächtig aufragend die Nordkette, eine Inszenierung, die das Herz aufgehen lässt, mit Fluch bedacht vom faschistischen Senator Ettore Tolomei: „Innsbruck, Stadt meines Hasses, daß der Inn dich überflute; daß das Salz der Haller Salinen deine Felder vergifte; daß die Berge (…) dich zermalmen. Als der junge Hans Heiss das las, wusste er: „Dieser Tolomei muss ein Arsch sein."

    Am Brenner: das fast schon gewohnte Auftauchen von Geschichten aus der Kindheit, der Blick zur großen Uhr am Bahnhofsgebäude, hinter der wir wohnten, als ich geboren wurde, 1961, Bombenzeit. Das Bahnhofsgebäude wurde als mögliches Attentatsziel streng bewacht. Die Kohleschächte zu den Kellern wurden zugemauert, damit keine Sprengsätze durchgeschoben werden konnten. Die Bahnler von hüben und drüben, die Finanzer von hier, die Gendarmen von dort trafen sich trotzdem abwechselnd in der Cafeteria da, im Beisl drüben zum Kartenspielen. Meiner Mutter war der kalte, von Marktbuden und Soldatenaufmarsch belebte Ort an der Grenze eine Heimat. Geschichte hat immer auch diese Seite: die ungestörte, kleine Lebensnische, die sich nicht trüben lässt von den großen Bewegungen und Ereignissen.

    Meine erste Innsbruckfahrt auf eigene Faust entbehrte besonderer Ehrbarkeit, es waren schon die 80er Jahre und uns trieb das Ahnen eines freieren Nachtlebens nach Tirol. Wir waren noch nicht alle 18, einer hatte Führerschein und Auto, der Rauscher in Neumarkt hielt Sperrstunde. Handschlag auf Handschlag wurde beschlossen, nach Innsbruck zu fahren. Wir fuhren durch die Nacht, A22, A13, ein Stück Bundesstraße, sahen die Sprungschanze nicht, kamen zum Bahnhof, schauten uns um, schlenderten durch die schon schlafende und nur gelegentlich durch trunkenes Poltern aufschreckende Stadt, fanden die verrufenen Lokale nicht oder trauten uns gar nicht, sie aufzusuchen – irgendwann saßen wir wieder im Auto und schliefen sitzend ein, suchten am nächsten Tag ein Frühstückslokal und waren verwundert, wie freundlich uns die Bedienung begrüßte, als sie hörte, dass wir Südtiroler seien. Erst da blitzte so etwas wie das Gefühl auf, mit denen hier etwas gemeinsam zu haben. Zu unserer Gegenwartsbefindlichkeit, obwohl durchaus getränkt vom Deutschbleibenmüssen in Südtirol, gehörte Tirol nicht oder höchstens als abstrakte politische Idee ohne Bezug zu Menschen, zu Orten, zu Lebenswelten. Daheim straften die Eltern, als die Kunde umging, wo wir die Nacht verbracht hatten, mit stummem Vorwurf den vermeintlichen Sündenfall, den wir gar nicht begangen hatten. Und jetzt lockt gleich hinter dem Brenner die Sünde mit knalligem Herz die Autofahrer an den Straßenrand: Durchziehender Verkehr war immer ein gutes Geschäft, die ganze Brennerstraße entlang lebte die Bevölkerung über Jahrhunderte davon, Reisende zu bewirten, mit Waren und frischen Pferden zu versorgen, einzuquartieren über Nacht.

    Die Grenze später: für Tolomei noch Inhalt all seines Sehnens und Hassens, über diese Grenze sollte der letzte Deutsche das Land verlassen, bis hierher sollte Italien reichen, emotional aufgeladen für Generationen, denen sie in Familienchronik und Lebenslauf geschnitten war, eine Grenze, an der ein Staat seine Macht gleich präpotent demonstrierte wie ängstlich kontrollierte, oft mit Schikanen an Frauen und Kindern und Geschwistern und Bekannten von Attentätern, die stundenlang Personenkontrolle über sich ergehen lassen mussten, weinende Kinder im Abteil, die Mutter, der Vater in der Wachstube. Die Attentäter selbst, ihre Helfer und Helferinnen fanden trotzdem Wege genug, Sprengstoff und Waffen in das zu befreiende Land zu liefern. Im Kinderwagen wurden Dynamitstäbe über die Grenze geschoben, nette Blondinen in schnittigen Autos lenkten die Finanzer vom Nachschauen im Kofferraum ab. So ranken sich Mythen und Geschichten um eine Grenze, die daraus, dass sie umkämpft war, ihre Kraft bezog.

    Die Grenze jetzt: auf italienischer Seite die letzte Romantik abgetragen mit der Grenzhütte. Ausladend wie ein Riesendampfer hat sich das Einkaufscenter Design Outlet Brennero in den Ort gestemmt, den Ort aufgehoben zugunsten eines Nicht-Ortes von 10.000 Quadratmetern Ladenfläche, erweiterbar auf 13.000 Quadratmeter Ladenfläche und 70 Shops mit einer Grundstücksfläche von 23.000 Quadratmetern – fast das ganze alte Dorf. Wo auch immer ein Ort liegt, was auch immer seine Geschichte ist, ob diesseits oder jenseits der Grenze, gefahren wird von Shoppingmeile zu Shoppingmeile, nicht von Stadt zu Stadt, wenn die Preise stimmen und der Erlebniswert den Benzinpreis übersteigt.

    Hans Heiss gehört als Historiker zum Kreis jener Spezialisten, für die Alttirol noch verbindender Stoff ist, er hat in Innsbruck studiert, ist grüner Abgeordneter mit regen Kontakten zu den Nordtiroler Grünen – sachbezogene, aber offener, inhaltlich reicher wirkende Begegnungen als jene der etwas kühl und professionell kommunizierenden großen Bruderparteien. Die Sympathie für Tirol rührt noch von den Kindheitsgeschichten her, später wurde sie eher gemindert. In den 70er Jahren war Tirol noch uncooler als jetzt, stand im Verdacht von patriotischem Mief. Erst seit die Tiroler Landeseinheit kein Refrain im politischen Vaterunser der Südtiroler mehr ist, findet sich Hans Heiss wieder gern unter den wenigen, die mit Landeseinheit noch irgendetwas verbinden, keine Revolte oder Freistaatgründung, eher Interesse für das viele, was war, und Sympathie für das wenige, was geblieben ist, Forschungsstoff vor allem.

    Unlängst: Vorstellung des zweibändigen Werks von Michael Gehler über Eduard Reut-Nicolussi, die Würdigung einer Persönlichkeit, die Südtirol-Politik mit einer gleich antifaschistischen wie antinazistischen Grundhaltung verband. Herzliche Einladungen an Südtirol, zur Buchpräsentation nach Innsbruck ins Ferdinandeum zu kommen. Es kamen genau zwei: Hans Heiss und Martha Stocker, auch sie eine Spezialistin der Tiroler Beziehungspflege. – Vor zwei Wochen in Südtirol: eine kleine Tagung über die italienischen Militärinternierten in der Zeit der NS-Besetzung Südtirols durch die NS-Verwaltung. Wenig Publikum, aber immerhin aus zwei Ländern des ehemaligen Tirols. – Vorgestern: Präsentation der Regesten-Edition aus dem Bozner Stadtarchiv, neben den Boznern und den Trentinern sind in respektabler Anzahl auch die historisch Interessierten aus Innsbruck gekommen. – Diesmal: Im Ferdinandeum wird die Festschrift zum 65. Geburtstag einer Institution der Gesamttiroler Gedächtnisarbeit vorgestellt: Meinrad Pizzinini, Leiter und Kustos der historischen Sammlungen am Ferdinandeum, in jeder seiner Publikationen um den Blick über die Grenze bemüht. Diesmal sind Hans Heiss und Martha Stocker als Landtagsabgeordnete verhindert, offizieller Vertreter aus Südtirol ist keiner da, der frisch pensionierte Direktor des Südtiroler Landesarchivs Ludwig Nössing vertritt einsam den Nachbarn. In Innsbruck ist man nicht einmal beleidigt, man ist es gewöhnt. Die Reise durch die Landeseinheit verspricht eine Reise der Ernüchterung zu werden.

    Protokoll 2: Robert Gismann

    13.6.2008, Vahrn bei Brixen, Café Voitsberg; ein typischer Ort für Neusüdtirol: Schnittige Baukästen im Stil der Feuerwehrhallen ersetzen das fehlende Dorfzentrum, Blick auf die Autobahn.

    Gesamttirol ist zunehmend eine Fiktion. Man geht bei Vorstellungen für die Zukunft von der Vergangenheit aus, Generäle planen immer vergangene Kriege. Überall, wo es Wiedervereinigungen gegeben hat, war ein starker Wille, ein zwingender Grund da, sonst geht’s nicht. Man hat ja gesehen, wie das Projekt einer Holding, noch nicht einmal einer Fusion, zwischen Hypo Tirol und Südtiroler Sparkasse in die Hose gegangen ist. Und umgekehrt gibt es oft ganz zwanglos wirtschaftliche Zusammenarbeit, gegenseitige Firmenbeteiligungen, Ärzte und Rechtsanwälte, die über den Brenner hin- und herarbeiten. Im Weiterbildungsbetrieb gibt es auch einen regen Austausch.

    Robert Gismann war Leiter des aufgelösten Südtirol-Referats der Tiroler Landesregierung, in Nordtirol wohnt er in Völs, in Vahrn ist das Haus der Familie seiner Frau ein neues Rückzugsgebiet, Gismann pflegt den Garten, kümmert sich um Ausbesserungsarbeiten.

    Mit dem Vahrner Alpenverein machen wir auch Touren in Nordtirol und im Trentino, sowieso. Nordtiroler kennen sich in Südtirol meist viel besser aus als umgekehrt. Auch das hat etwas zu sagen: Was rede ich von einer Europaregion, wenn ich nie im Ferdinandeum war, nie in Mariahilf, rede ich da nur von einer abstrakten Idee, weil’s halt schön wär, oder habe ich wirklich einen Bezug? Das Referat „S" wurde geschlossen, und deswegen brennt der Hut nicht, obwohl viele Dinge nicht mehr geschehen, weil sie in keiner Agenda mehr vorkommen. Eine vertane Chance war die Universitätsgründung in Südtirol, nicht, weil die Südtiroler keine Universität haben sollen, sondern weil man da wirklich etwas Gemeinsames schaffen hätte können, auch mit dem Trentino. Aber ich möchte schon auch sagen: nix ist irreversibel.

    Ein Lastkahn legt gerade an. Der Steuermann ist ein alter Portener. Da der Lastkahn an der Staatsgrenze entlang über die Etsch gleitet, steht die Bootsladung unter der direkten Kontrolle der österreichischen und italienischen Zollwache. Auf der Mole jenseits der Landungsbrücke sieht man verschiedene halbbearbeitete Baumstämme, die wahrscheinlich von einem großen Kahn vor kurzem dort ausgeladen und aufgestapelt worden sind. Im letzten noch warmen Sonnenschein plaudern zwei Klatschtanten.

    (Texttafel zu einem Wandbild von Augusto Corradini in Borghetto, 1906)

    Borghetto – barbari

    Ein Grenzstein ist nicht zu finden, wohl aber ein Wandgemälde. Zwei Grenzbeamte, der eine in österreichischer, der andere in italienischer Uniform, begleiten ein Floß über die Etsch, die Fracht besteht aus ein paar Kisten, ein Fahrgast hält sein Fahrrad, am Kai Hafenszenerie. Im Bild ist die Kraft zu spüren, die es brauchte, um einen Frachtkahn sanft anlegen zu lassen, die Spannung der übers Wasser verlaufenden Grenze wird aufgehoben von der friedlichen Naivität der Darstellung – eine in ihrer Unschuld wohl unfreiwillige Metapher für die Zweideutigkeit der Lebensgefühle in Welschtirol, schwankend zwischen der Nationalisierung des öffentlichen Lebens und

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