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Das Tal Irminsul
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eBook311 Seiten4 Stunden

Das Tal Irminsul

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Über dieses E-Book

Es gibt sie noch die Übergänge zwischen den Welten - auch wenn sie rarer werden. Durch Zufall stößt Gregor Bold auf einen dieser Übergänge. Er findet sich im Tal Irminsul wieder und muss erkennen, dass man ihn dort schon sehnlichst erwartet hat. Denn es bedarf eines Menschen, um die Welten zu retten.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum21. Dez. 2015
ISBN9783739285078
Das Tal Irminsul
Autor

Martin Welsch

Martin Welsch ist ein Pseudonym des Autors Roland Reiner. Roland Reiner, Jahrgang 1956 ist in Bayern wohnhaft. Von ihm stammt die Kriminalreihe um Samuel Dreher. Davon sind bisher neun Romane erschienen. Die Reihe um das Tal Irminsul umfasst aktuell vier Erzählungen.

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    Buchvorschau

    Das Tal Irminsul - Martin Welsch

    40

    1

    Gregor Bold blieb stehen und wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn. Sein Blick fiel dabei auf seine Armbanduhr. Nachdenklich sah er nach vorne auf das Ende der schmalen urwüchsigen Schlucht in die er gestern hinuntergestiegen war. Das Ende dieses kleinen wilden Bergeinschnitts würde er heute wahrscheinlich nicht mehr erreichen. Er musste also eine Nacht hier in der Einsamkeit der Alpen verbringen. Dabei war er sich nicht einmal sicher, ob es einen begehbaren Weg gab der aus der Schlucht wieder hinausführte, oder ob er an deren Ende vor einer unüberwindbaren Felsenwand stehen würde. Falls dies der Fall war, müsste er wieder umkehren, die kleine Schlucht verlassen und seinen ursprünglichen Weg fortsetzen.

    Es gab sie tatsächlich noch, die kleinen weißen Flecken auf der Landkarte. Zwar sollte man meinen, dass in der heutigen Zeit mit ihren unzähligen Geosatelliten und Googlemaps bereits jeder Quadratzentimeter der Erde erfasst und katalogisiert war. Tatsächlich war es aber so, dass es immer noch etliche unerforschte und unbekannte Orte auf diesem Planeten gab, die bisher noch kein Mensch betreten hatte. Verschiedene Urwaldgebiete, das Innere von Vulkanen, die Gegenden in denen die Gletscher aufgrund des Klimawandels verschwanden und Schluchten und Täler freilegten.

    Und überraschender Weise gab es solche Orte auch noch in Europa. Gregor Bold war von Beruf Naturfotograf und suchte solche Gegenden. Wenn möglich wollte er sie in von Menschen noch unberührtem Zustand betreten. Dort ließen sich nämlich noch Fotoaufnahmen machen die unverfälscht die ursprüngliche Natur zeigten. Gregor Bold hatte trotz seines noch jugendlichen Alters von gerade 31 Jahren bereits mehrere Fotobücher und Artikel in renommierten Zeitschriften wie National Geographic, Natur, Trecking, Globetrotter oder GEO veröffentlicht.

    Zurzeit streifte er wieder einmal ziellos in den Alpen umher. Wobei dies bedeutete, dass er sich einfach von seinem Gefühl treiben ließ und Gegenden aufsuchte und durchwanderte, die nicht in den offiziellen Wanderkarten verzeichnet waren. Es waren nicht mehr viele Flecken Erde die in dieser Gegend noch nicht erschlossen waren, aber es gab noch einige davon.

    Kleine winzige Seitentäler, die aufgrund ihrer Größe bisher von einer Besiedelung durch Menschen verschont geblieben waren und aufgrund ihrer Lage auch nicht als Viehweiden genutzt werden konnten waren sein bevorzugtes Ziel. Man fand an diesen geschützten Stellen oft noch eine völlig intakte, weil von Menschen unberührte Flora und Fauna vor.

    Heute hatte er neben der typischen Alpenflora mit Edelweiß, Enzian-Arten, Alpenrosen auch einige äußerst seltene Frauenschuhexemplare gesehen. Diese waren leicht mit Tautropfen bedeckt gewesen, in denen sich das Licht spiegelte. Es würden deshalb äußerst attraktive Aufnahmen darunter sein. Gregor Bold hatte auch einige Fotos einer Alpen-Weide gemacht. Er war sich nicht sicher, aber diese Abart galt soweit er wusste bei Experten als äußerst selten, wenn nicht sogar als ausgestorben. Er würde sich nach seiner Rückkehr entsprechend darüber informieren.

    Am meisten hatte Gregor Bold sich aber an diesem Tag über die Entdeckung einer Kröte gefreut. Schon allein die Tatsache in dieser Höhe einem solchem Tier überhaupt zu begegnen war eine Überraschung gewesen. Der Naturfotograf kannte selbstverständlich die Fauna der Alpenwelt. Gämse, Murmeltiere, Steinböcke oder Bergsalamander. Er hatte sie alle bereits mehrmals abgelichtet. Aber eine Kröte war in dieser Höhe noch nicht darunter gewesen.

    Und vor allem eine solche Kröte! Er hatte das wunderschöne Tier fast eine Stunde lang fasziniert beobachtet. Das Tier hatte tatsächlich fast die Größe einer Aga-Kröte.¹

    Gregor Bold hatte vor einigen Jahren bei einem seiner seltenen Auslandsaufenthalte einen Bericht über die katastrophale Auswirkung auf die Fauna und Flora von Ländern berichtet, wenn der Mensch in deren natürliche Entwicklung eingriff. Aga-Kröten waren wegen ihrer natürlichen Fressgier in mehreren Ländern als natürlicher Feind von Insekten ausgesetzt worden. Dabei wurde leider nicht beachtet, wie vermehrungsfreudig diese Kröten waren und, dass sie auch andere Tiere wie kleine Vogelarten, Echsen, Schlangen fraßen. Die Aussetzung der Aga-Kröte sorgte dann prompt für das örtliche Verschwinden anderer Tierarten die keine entsprechende Nahrung mehr fanden. So reduzierte sich die Anzahl der Bienenvölker in den Aga Verbreitungsgebieten rapide. Der Landwirtschaft fehlte damit ein wertvoller Pflanzenbestäuber.

    Eine so tiefblaue Kröte hatte Gregor Bold noch nie gesehen. Und dazu diese intensiv grün leuchtende Augenfarbe, die man jedes Mal sah, sobald das Tier für kurze Zeit seine Augenlider öffnete.

    Eine blaue Kröte mit grünen Augen! Gregor Bold hatte noch nie von so einer Kreatur gehört. Er knipste voller Aufregung sofort mehrere Fotos von dem geheimnisvollen Wesen. Es würden gute Aufnahmen werden, davon war er jetzt schon überzeugt. Im Hintergrund der Wechsel von Licht und Schatten, den es in den Bergen so oft gab und im Vordergrund dieses sonderbare bläulich schimmernde Tier. Die Wechselwirkung der verschiedenen Farben würde seine zukünftigen Betrachter sicherlich in den Bann ziehen. Zuhause konnte er dann anhand der Fotos auch genauer nachsehen zu welcher Art dieses geheimnisvolle Tier gehörte. Eine Kröte in den Alpen, in dieser Höhe, das war schon eine kleine Sensation.

    Erneut öffnete das Tier seine Lider. Diesmal hob es dabei seinen Kopf und Gregor Bold hatte für kurze Zeit das merkwürdige Gefühl, als würde in die Kröte intensiv mustern. Doch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, hatte das Tier seinen Kopf bereits wieder gesenkt und zog sich kurze Zeit später in einen Felsspalt zurück.

    Gregor Bold wich einigen großen Felsbrocken aus und wollte schon umkehren, nachdem ihm immer mehr Steine und Felsen den Weg versperrten und ein gefahrfreies Weiterkommen fraglich war. Anscheinend hatte er bereits das Ende der kleinen Schlucht erreicht. Er musterte nachdenklich die vor ihm liegende Gegend. Eigentlich hatte er gedacht noch an die vierzig bis fünfzig Meter vor sich zu haben. Sehr oft ergab sich auf so einer Strecke dann plötzlich ein Einstieg in eine weitere Schlucht, oder in eine kleine Senke. Hier war es anders. Große Felsbrocken versperrten nicht nur die genaue Sicht auf die vor ihm liegende Gegend, sondern wirkten auch … Gregor Bold schluckte … abweisend, bedrohlich und irgendwie arrangiert. Gerade so, als hätte nicht der natürliche Zufall, sondern Jemand sie hier mit Bedacht als Wächter aufgestellt. Versteinerte Monster, Gargoyles² um jeden Menschen, der sich zufällig in dieses Gebiet verirrte eindringlich vor dem Weitergehen zu warnen. Die Felsbrocken waren nicht behauen. Trotzdem glichen sie aufgrund ihrer Anzahl einer steinernen Armee, die nur darauf zu warten schien wieder aufzuwachen und zuzuschlagen.

    „Es wird höchste Zeit, dass ich wieder unter Menschen komme, murmelte Gregor Bold vor sich hin. „Ich sehe schon Gespenster. Bold war im Grunde kein ängstlicher Typ, dazu hatte er schon viel zu viele Tage und Nächte allein in der freien Natur verbracht. Oft unter widrigen und auch gefährlichen Umständen. Aber der Fotograf hatte sich angewöhnt in fremder Umgebung, oder in gefährlichen Situationen intuitiv zu handeln. Er hörte dann stets auf seine innere Stimme. Wenn er das Gefühl hatte, dass ihm Gefahr drohen könnte, kehrte er auf seinem eingeschlagenen Weg um und wählte eine andere Route. Diese Vorgehensweise hatte sich bisher stets bewährt. Auch Umwege brachten einen schließlich irgendwann ans Ziel.

    Gregor Bold drehte sich nach einem letzten Blick auf die eigenartigen Felsen um und machte sich daran, den Weg der in hierher geführt hatte, wieder zurückzugehen. Nach wenigen Schritten blieb er stehen. Eine eigenartige Empfindung bemächtigte sich seiner. Er hatte das Gefühl, als befände sich Jemand in seinem Rücken und würde ihn lauernd beobachten. Er spürte die scharfen Blicke die seine Gestalt fixierten fast schon körperlich. Gregor Bold begann zu schwitzen, sein Herzschlag beschleunigte sich.

    „Nein!, stieß er mit zusammengepressten Lippen aus und verzog gleichzeitig voller dunkler Vorahnung qualvoll sein Gesicht, „nicht jetzt! Bold kannte diese körperlichen Anzeichen, zu oft hatte er sie schon erlebt. Er wusste, dass ihn in Kürze eine Panikattacke heimsuchen würde und versuchte die aufkommende Lähmung mit aller Gewalt zurückzudrängen. Jahrelang hatte er unter diesen schrecklichen Anfällen gelitten, war aber nach einer Psychotherapie die letzten Monate davon verschont geblieben.

    Gregor Bold versuchte umgehend die Tricks die er während der Psychotherapie erlernt hatte anzuwenden. Er wusste, dass die Attacke in Kürze wieder abklingen würde, das war sie schließlich immer. Ihm würde nichts passieren, es war lediglich eine psychologische Ausnahmesituation die er aushalten musste. Es galt nur den qualvollen Zeitraum während der Panikattacke so rational wie nur irgendwie möglich heil zu überstehen. Die wenigen Minuten die während einer Panikattacke tatsächlich vergingen, dehnten sich für die Betroffenen wie ihn zu einem nicht messbaren unglaublich langen belastenden Zeitraum aus.

    Anschließend würde Gregor Bold wie so viele Male vorher physisch und psychisch völlig ausgelaugt sein, aber sein Gefühlsleben würde wieder im Gleichgewicht sein. So hoffte er – zumindest war das bisher immer der Fall gewesen. Es galt einfach die nächsten Minuten heil zu überstehen. Mit dem Rest an verbliebenen rationellen Verstand versuchte er deshalb mit aller Gewalt Gelassenheit zu bewahren und die fürchterlichen Ängste die sich seiner bemächtigen wollten unter allen Umständen unter Kontrolle zu halten, um auf keinen Fall die Herrschaft über seinen Körper und Verstand zu verlieren.

    Es kostete Gregor Bold eine fast übermenschliche Willensanstrengung um vor lauter panischer Angst die sich seiner immer mehr bemächtigen wollte nicht einfach planlos loszurennen, wie er es früher schon öfter getan hatte. Die Verletzungsgefahr war in dieser einsamen Gegend aber enorm. Erdlöcher, Bodenunebenheiten, Steine, Felsen; wenn er sich in dieser abgelegen Gegend verletzte konnte das seinen Tod bedeuten.

    Bold schwitzte, er spürte seinen Herzschlag laut und heftig in der Brust, wie die Hammerschläge eines Schmieds. Langsam ließ er sich an einen Felsen gelehnt zu Boden gleiten. Irgendwie schaffte er es mit zitternden Fingern sogar seinen großen Treckingrucksack von den Schultern zu streifen. Am Boden rollte er sich zusammen wie ein kleines Kind und presste die Augen zusammen.

    Trotz mehrmaliger Versuche gelang es Gregor Bold nicht die erlernten Atemtechniken die ihm helfen sollten sich zu entspannen anzuwenden. Die Attacke war diesmal unglaublich heftig. Büßte er für die vergangenen Wochen in denen er beschwerdefrei gewesen war? Manchmal hatte sich in ihm der hoffnungsvolle Gedanke breit gemacht, dass er niemals wieder in seinem Leben eine solche Attacke erleben würde. Das wäre sehr schön gewesen. Aber sein Therapeut hatte ihn eindringlich gewarnt. Die nächste Attacke würde kommen. Irgendwann und wahrscheinlich zu einem völlig ungünstigen Zeitraum. Das einzige was er selbst machen konnte war sich vorzubereiten und dann so weit es ihm möglich war rational und vernünftig zu handeln.

    Gregor Bold versuchte seine Gedanken mit etwas anderem zu beschäftigen – nur nicht mit der aktuellen Situation. Ablenken – auf etwas konzentrieren das nicht mit seiner jetzigen Lage zu tun hatte. Er musste seine Gedanken auf etwas fokussieren, dass ihm helfen würde den physischen Ausnahmezustand zu überwinden. In seinem Zustand eine unglaublich schwere Aufgabe. Auch dies im Übrigen einer der Tricks, die ihm sein Therapeut beigebracht hatte. Je intensiver sich sein Gehirn mit etwas anderem als der lähmenden Angst beschäftigte, desto eher konnte er die geistige Blockade die versuchte sich seiner zu bemächtigen wieder lösen.

    Wie hatte sein Therapeut eigentlich geheißen? Robert Quinn! Er war ein älterer Hippie mit einer schlohweißen Haarmähne gewesen. Gregor Bold hatte nach der ersten Sitzung, die lediglich dem gegenseitigen Kennenlernen gedient hatte, eigentlich nicht mehr zu dem Therapeut gehen wollen. Quinn und sein esoterisches Gehabe waren ihm zunächst zutiefst suspekt gewesen. Bold war selbst viel zu sehr Kopfmensch um sich einfach damit abzufinden, dass er ein psychisches Problem haben sollte. Er wollte, dass ihm die Ärzte irgendwelche Pillen verschrieben die ihm halfen endlich wieder normal zu funktionieren. Eine psychische Erkrankung war etwas, was er nur sehr schwer akzeptieren konnte. Aber nach einer erneuten starken Panikattacke im Aufzug seines Verlages war er schließlich an einem Punkt angelangt, der ihn trotz aller Vorbehalte pünktlich zum nächsten vereinbarten Termin bei Robert Quinn zwang.

    Der Therapeut musterte Gregor Bold und sagte ihm dann ohne Umschweife ins Gesicht, dass es ihm verdammt schlecht gehen musste, wenn er ihn trotz seiner kaum verhohlenen persönlichen Abneigung bei der ersten Sitzung tatsächlich wieder aufsuchte.

    Gregor Bold war beeindruckt von der Ehrlichkeit und den deutlichen Worten des Therapeuten und beschloss der Psychotherapie eine Chance zu geben. Schließlich hatte er nichts mehr zu verlieren. Die wiederkehrenden Panikattacken belasteten ihn enorm und auch Jenny bestand aus Sorge um ihn darauf, dass er endlich professionelle Hilfe annahm.

    Jenny - seine frühere Freundin, Partnerin, Vertraute, Geliebte und vor allem Seelenverwandte. Bold hatte Jennifer Hahms bei einer Bergwanderung kennengelernt, sie hatten sich innerhalb weniger Tage in einander verliebt.

    Es hatte alle Personen welche die beiden kannten sehr überrascht, als Jennifer Hahms und Gregor Bold plötzlich wieder getrennte Wege gingen. Fast alle Freunde und Bekannte der beiden hatten eher mit einer baldigen Heirat gerechnet. Gregor Bold wusste bis heute selbst nicht so genau, an was ihre Beziehung letztendlich gescheitert war. Er musste sehr oft an Jennifer Hahms denken.

    Vielleicht waren es einfach ihre unterschiedlichen Ansichten gewesen, wenn es um die Planung der gemeinsamen Zukunft gegangen war. Jenny wollte und musste möglichst viel von der Welt sehen und plante eine Fernreise nach der anderen. Das hing einerseits mit ihrer Tätigkeit als Vorsitzende der OEF Stiftung³ zusammen, andererseits auch mit einer persönlichen Sehnsucht nach der Entdeckung von noch unberührten und ursprünglichen Gegenden auf der Erde.

    Gregor Bold genügte die Einsamkeit in den hiesigen Bergen, um für Wochen beschäftigt zu sein. Sicherlich wollte auch er die Schönheiten fremder Länder sehen. Aber solange ihn ein eiskalter und klarer Sonnenaufgang auf einem heimatlichen Berggipfel so tief in seiner Seele berührte wie bisher, sah er keinen Grund dasselbe in irgendeinem fremden Land zu suchen. Außerdem hatte er genügend Erfolg in seinem Beruf und war glücklich mit seinem derzeitigen Leben. Für Jennifer Hahms war Gregor Bold für sein Alter bereits zu sesshaft. Er sei phlegmatisch wie ein alter Mann, hatte sie ihm bitter vorgeworfen.

    Seit der Trennung hatte Bold nur noch zwei Fotobücher veröffentlicht. Er vermisste seine frühere Freundin sehr und erlebte einige Monate lang sogar eine depressive Phase. In dieser Zeit brachte er nicht die Kraft auf um sich neue Motive und Bilder zu erwandern. Er hatte die Tage in seiner Wohnung verbracht und seine überquellende Fotosammlung sortiert. Nur sehr langsam hatte er die Trennung überwunden. Schließlich war es eines Tages dann doch soweit, dass er wieder mit beiden Beinen auf der Erde stand.

    Er plante ein neues Buch. Zu Fuß kreuz und quer durch die Alpen, abseits der eingetragenen Wanderrouten. „Neue Wege" hieß der Arbeitstitel des Buches. Seit drei Wochen war er nun tatsächlich unterwegs und hatte vor zwei Tagen, nachdem er ein wenig planlos herumgeirrt war, dieses kleine winzige Tal entdeckt. Fast hätte er den Zugang nicht gesehen. Mit der Kamera war er einem aufgeregten Vogel gefolgt. Die Drossel flog nicht weg, sondern hüpfte und flatterte nur immer vor Gregor Bold auf und ab. Anscheinend wollte sie ihn von ihrem Nest weglocken. Vielleicht ergab sich ein gutes Motiv? Gregor Bold folgte dem Tier, das dann plötzlich verschwunden war. Es dauerte einige Zeit bis Bold die Felsenenge entdeckt hatte die in diese Schlucht führte. Es konnte sich gut vorstellen, dass er vermutlich der erste Mensch war der dort hineinstieg.

    Allmählich atmete Gregor Bold wieder ruhiger. Sein Puls verringerte sich langsam aber stetig. Es war ihm tatsächlich gelungen, dadurch dass er seine Gedanken auf die Vergangenheit gelenkt hatte, sich aus der mentalen Umklammerung der Panikattacke zu befreien. Er fühlte wie ihn jetzt eine bleierne Müdigkeit ergriff. Das war das übliche Zeichen seines Körpers, dass die Attacke für diesmal überstanden war. Er würde in Kürze vor Erschöpfung in einen tiefen ohnmachtsgleichen Schlaf fallen und in ausgelaugten, aber psychisch normalen Zustand wieder aufwachen. – So hoffte er zumindest!

    Es konnten nur noch wenige Augenblicke dauern. Eine bleierne Müdigkeit ergriff ihn bereits. Erschöpft fielen ihm die Augen zu. Dann riss er sie sofort wieder auf. Hatte er sich geirrt, hatte ihn sein Bewusstsein einen Streich gespielt, oder hatte er gerade erneut die blauschimmernde Kröte gesehen? Die war doch vor einigen Minuten verschwunden … es war alles so seltsam hier.

    Mit großer Willensanstrengung öffnete Gregor Bold nochmals seine Augen und blickte erstaunt auf zwei schemenhafte Gestalten. Täuschte er sich, oder hatten die beiden tatsächlich eine grüne Hautfarbe? Er versuchte sich mit Gewalt zu konzentrieren und seine bleierne Müdigkeit abzustreifen, dann spürte er einen leichten Schlag an seiner Schläfe und sackte übergangslos in sich zusammen.


    ¹ Aga / Riesenkröte (natürliches Verbreitungsgebiet Süd- und Mittelamerika) Körperlänge 20 – 22 Zentimeter

    ² Steinerne dämonische Figuren, Beschützer, oft an Kirchen zu sehen

    Internet: Bildersuche: Gargoyles

    ³ The Originate Earth for the Future

    Die ursprüngliche Erde für die Zukunft

    2

    Noch zwei Stunden - dann würde ihr Flugzeug in Richtung Rio de Janeiro abheben. Von dort aus würde sie über Madrid nach München fliegen. Anschließend noch zwei Stunden Fahrt mit dem Taxi und dann würde sie wieder einmal für ein paar Tage daheim sein.

    Jennifer Hahms Blick wanderte von ihrer Armbanduhr in den Spiegel der sich in der Damentoilette des Flughafens von Guayaquil⁴ befand.

    Sie kramte aus der Tasche ihrer Jeans eine Packung Papiertücher hervor, nahm eines der Tücher befeuchtete es mit etwas Wasser und wischte sich damit ein paarmal über ihr verschwitztes Gesicht. Das was sie anschließend im Spiegel sah nickte sie zufrieden ab. Wettergegerbtes Gesicht, grüne Augen und lange schwarze Haare, welche die Freiheit hatten so wachsen zu dürfen wie sie wollten. Alles in allem ein Anblick für den sich mancher Mann schon mal umdrehte. Und das auch bevor er wusste, dass die dreißigjährige Jennifer Hahms Alleinerbin der Hahms Holding war und ein umfangreiches Aktienpaket mit Beteiligungen an vielen führenden Industrieunternehmen in Europa und USA besaß.

    Jennifer Hahms verließ die Toilette, holte sich aus einem Automaten einen gekühlten Energy-Drink und ging in den Wartebereich des Flughafens. Sie setzte sich die Sennheiser-Kopfhörer auf, die bisher lässig auf ihrer Brust herumgebaumelt waren. Wie üblich hörte sie sich Musik von Loreena McKennitt⁵ an. Die Lieder der Sängerin mit ihren mystischen Texten und der Musik mit traditionellen Instrumenten sprachen sie einfach an. Momentan hörte sie Bonny Portmore aus dem Album The Visit. Jennifer Hahms nahm einen tiefen Schluck des kalten Energy-Drinks und schloss dann müde ihre Augen. Langsam ließ sie die Geschehnisse der letzten Monate vor ihrem geistigen Auge nochmals Revue passieren. Eigentlich hätte ihr Auslandsaufenthalt diesmal gar nicht so lange dauern sollen. Aber manchmal dauerten Verhandlungen einfach länger, vor allem dann, wenn sie zu einem Vertrag führten der für alle Beteiligten von Vorteil sein sollte.

    Vor zwei Monaten war Jennifer Hahms in den Osten von Ecuador aufgebrochen. Dort in den dicht bewaldeten Ausläufern der Anden, mit drei großen Vulkanen⁶ und noch viel unberührter Natur wollte sie sich mit Vertretern der Ureinwohner und der Regierung von Ecuador treffen. Jennifer Hahms war Vorsitzende der OEF-Stiftung. Diese Organisation hatte es sich zur Aufgabe gemacht, für die Erhaltung der Natur in ihrer ursprünglichen Form zu sorgen. Die Vorgehensweise der Stiftung war, dass sie möglichst große Flächen noch weitgehend unberührten Lands erwarb und dieses anschließend unter ihren Schutz stellte. In der Satzung der Stiftung war der Grundsatz verankert, dass ein erworbenes Stück Land von der Stiftung für zukünftige Generationen erhalten werden musste, aber selbstverständlich weiterhin im Besitz seiner ursprünglichen Bevölkerung blieb. Diese konnten das Land dann weiterhin wie ihre Vorfahren nutzen. Mit der Vertragsunterzeichnung war für die Zukunft jeglicher Eingriff in die bestehende Natur ausgeschlossen. Für viele Eingeborene in den wenig verbliebenen Urwäldern der Erde war dies die einzige Möglichkeit um als Volk weiterexistieren zu können und ihre Identität nicht zu verlieren. Vor Wilderern, verbrecherischer Rodung, Enteignung schützte sie nun die Stiftung. Und die OEF verfügte über ausreichend Geldmittel und großen politischen Einfluss um für mögliche Widersacher einen mächtigen und ernstzunehmenden Gegenpart darzustellen. Selbst große Industrieimperien hielten sich in der Zwischenzeit an ihre Verträge mit den Eingeborenen, - sobald diese von der OEF Stiftung unterstützt wurden.

    Jennifer Hahms Standpunkt war, dass man Land, genauso wie Luft nicht besitzen konnte. Allenfalls hatte man das glückliche Privileg es für den kurzen Zeitabschnitt eines menschlichen Lebens nutzen zu dürfen. Land, Landschaft, die ganze Natur war Allgemeingut und auch als solches zu behandeln.

    Bereits als Jugendliche war Jennifer Hahms in verschiedenen Umweltorganisationen aktiv gewesen. Irgendwann musste sie sich dann aber entscheiden. Sie war schließlich das einzige Kind von Kurt Hahms und ihr Vater erwartete natürlich, dass sie eines Tages seine Nachfolge antreten würde. Er ließ nie einen Zweifel daran, dass seine Tochter selbstverständlich seine Nachfolgerin im Vorsitz der Hahms Holding werden würde.

    Jennifer Hahms studierte deshalb Jura. Eine Tortur für die junge aktive Frau. Viel lieber hielt sie sich in der freien Natur auf. Sie suchte immer wieder die Herausforderung bei sportlichen Events, oder schloss sich Expeditionen in die wenigen noch unerschlossenen Gegenden der Erde an. Kurt Hahms war klug genug, um zu erkennen, dass seine Tochter mit der aktuellen Situation nicht zufrieden war. Das Verhältnis zwischen Vater und Tochter war, nachdem die Mutter von Jennifer bereits vor vielen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, ein

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