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Europa liegt um die Ecke: Kommunale Europaarbeit in NRW
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Europa liegt um die Ecke: Kommunale Europaarbeit in NRW
eBook344 Seiten3 Stunden

Europa liegt um die Ecke: Kommunale Europaarbeit in NRW

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Über dieses E-Book

Die Kommunen in Nordrhein-Westfalen denken und handeln in europäischen Dimensionen. Europa ist immer präsent, ob im Rahmen der Feierlichkeiten einer Städtepartnerschaft oder als bürokratische Direktive aus Brüssel. Und Europa ist immer alles: erheiternd, überraschend, (un-)erträglich, erfreulich.
All diese Aspekte kommen in "Europa liegt um die Ecke" zur Sprache. 40 Geschichten aus Städten, Gemeinden und Kreisen verschiedener Größe in allen nordrhein-westfälischen Landesteilen spiegeln facettenreiche Aktivitäten, Erfahrungen und Überzeugungen. Europa ermöglicht in NRW wirtschaftlichen Wohlstand, kulturelle und menschliche Vielfalt sowie eine friedliche Zukunft. Das zeigen die hier vorgestellten Menschen, Projekte und Best-Practice-Beispiele.
Die Reise geht von Herzogenrath an der niederländischen Grenze über Duisburg, Bocholt und Münster bis zum Kreis Steinfurt im Norden, über Dortmund, Gütersloh und Versmold bis nach Bad Driburg im Osten, über Iserlohn, Essen, den Rhein-Sieg-Kreis in den Süden und nach Köln und Monschau zurück in den Westen bis Aachen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum23. Juli 2015
ISBN9783867936996
Europa liegt um die Ecke: Kommunale Europaarbeit in NRW

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    Buchvorschau

    Europa liegt um die Ecke - Michael Esser

    Einwohner

    Herzogenrath

    »Jeck mullen«, bis Europa kommt

    Eines machen die beiden direkt klar. »Was wir hier tun, hat mit Europazusammenarbeit nichts zu tun. Wir arbeiten hier grenzüberschreitend zusammen. Das ist etwas ganz anderes.« Nix Europa, mehr Grenze, hm. Was die beiden machen, ist offenbar ungewöhnlich. So ungewöhnlich wie ihr Arbeitsplatz mitten auf der deutsch-niederländischen Grenze.

    COR CHUDY UND HANS HOEVER sind ein besonderes Team. Beide sind Verwaltungsfachleute, Familienväter und Fußballfans, Mitte 50 und strahlen eine Mischung aus Gelassenheit und Belastbarkeit aus und sie vermitteln den Eindruck, dass sie hier im Haus schon viel erlebt haben, an Grenzerfahrung und generell. Wer in Herzogenrath und der Aachener Region ein grenzüberschreitendes Problem hat – beispielsweise in den Niederlanden wohnt, in Deutschland arbeitet und dann länger krank wird –, der landet fast unweigerlich bei den beiden. Sie sind Grenzlotsen und Möglichmacher in einem. »Unsere Aufgabe ist, die Grenzlage für die Menschen erträglicher zu machen.« Sie sind die, die für dieses Ziel andere Leute »jeck mullen«. So heißt es hier an der Grenze, wenn man redet, redet und redet, bis das Gegenüber endlich tut, was sinnvoll und angebracht ist.

    Europa in der Praxis ist verwirrend, zumindest hier an der Grenze. Vor dem Business Center liegt ein binationaler Kreisverkehr; der Verkehr auf der Straße rollt so frei, dass wohl kaum ein Autofahrer an Grenzübertritt denkt. Zu Zeiten, als man in nordrhein-westfälischen Kneipen noch Zigaretten paffen durfte, in Kerkrade aber schon nicht mehr, tranken niederländische Raucher ihr Feierabendbier bevorzugt auf deutscher Seite. Fremden erscheinen Herzogenrath und Kerkrade eh als eine gemeinsame Stadt, die kleinen Unterschiede in der Bauweise links und rechts der alten Grenzstraße fallen kaum auf.

    WIRTSCHAFT:

    Glaswerke (Hauptabnehmer Automobilindustrie) • Technologiepark Herzogenrath als Gründerzentrum • Ericsson Forschungszentrum • Firmensitz Aixtron (führender Maschinenbauer für die Chipherstellung) • Cerobear (keramische Wälzlager für Spaceshuttles bis Formel-1-Bremsen)

    Im Business Center, bei der Grenzgängerberatung oder im Grenzinfopunkt, geht es dagegen sehr um die Grenzen durch Vorschriften, Gesetze und Bestimmungen. Hierher kommen Menschen mit Geschichten, die von unsichtbaren Grenzen erzählen, von unbekannten Verboten, überraschenden Anordnungen oder zwangsläufigen Verstrickungen. Denn die Staaten wissen manchmal nicht, was sie tun.

    Hans Hoever: »Die kurioseste Geschichte, die wir je erlebt haben, war die von der alten Dame aus Merkstein. Ist doch so, Cor?« »Ja, schrecklich«, sagt der. Merkstein ist ein Stadtteil von Herzogenrath und die alte Dame war mit einem Niederländer verheiratet. Der Mann bezog Rente aus einer Arbeit als Monteur an der niederländischen Küste, also weit weg. Die Rente blieb jedoch aus, nachdem er gestorben war. Sechs Monate hielt die Frau mithilfe ihrer Kinder finanziell durch, dann fand sie, dass für die Umstellung auf Witwenrente genug Zeit vergangen sei. Sie fragte bei Hans Hoever nach. »Ich habe bei der Rentenstelle in Amsterdam angerufen. Der Kollege dort sagte, ja lebt denn die Frau überhaupt noch? Post und Geld seien immer zurückgekommen.« All die Monate hatten Briefe und Überweisungen die Empfängerin nicht erreicht. Die Ursache lag im unterschiedlichen Namensrecht. Mit dem Todesfall erhielt die Dame für die niederländischen Behörden ihren Geburtsnamen zurück, an den nun alle Schreiben gerichtet wurden. Nach deutschem Namensrecht aber blieb unverändert der Nachname des Mannes. Also stimmte für die Postboten die Adresse nicht und für die Sparkasse nicht die Kontoinhaberin. »Dann haben wir das aufgeklärt und die Frau erhielt fast 17.000 Euro Rente nachgezahlt.« Dass Hans Hoever und Cor Chudy sich über diesen Coup heute noch freuen, ist ihnen deutlich anzusehen.

    Ziehen die Europafahne symbolisch quer durch alle Bürokratievorschriften, Hauptsache die Bürger profitieren: die Europapraktiker Cor Chudy (li.) und Hans Hoever in der Geschäftsstelle des deutsch-niederländischen Eurode-Zweckverhands in Herzogenrath.

    Der deutsche Beamte und der niederländische Verwaltungsfachmann – beide sind von ihren Städten abgeordnet worden für gemeinsame Projekte. Hoever ist eher der pragmatische Typ, Chudy denkt mehr in Strukturen. Eigentlich ist ihre Hauptaufgabe, die Geschäftsstelle für den Eurode-Zweckverband zu leiten. Also Unterlagen und Tagesordnungen vorzubereiten, Expertisen zu schreiben, Informationen zu sammeln. Man hat schnell den Eindruck, dass Verwaltungsarbeit den beiden nicht ausreicht. Auch wenn es sich hier um die wahrscheinlich erste öffentlich-rechtliche Körperschaft zwischen zwei Städten aus verschiedenen Staaten handelt, was ja schon genug der Ehre sein könnte.

    Tatsächlich sehen beide in dem Zweckverband ihr Fundament. »Unser Erfolg ist, dass wir institutionalisiert sind. Arbeit wie unsere steht und fällt sonst mit Personen als treibende Kraft. Aber wenn wir weg sind, müssen andere unsere Arbeit machen.« Die Kontinuität ist gesichert, kein Rotstift kann so einfach die Arbeit aus Kostengründen zusammenstreichen. Die Einrichtung der Geschäftsstelle im Jahr 2000 war eine Bedingung für Fördergelder aus dem EU-InterReg-Programm; wer auch immer in Kerkrade oder Herzogenrath das Sagen hat, muss sich mit »Eurode« beschäftigen. Eurode ist übrigens ein Kunstwort, das eine alte Bezeichnung für das Land um s’Hertogenrode/Kirchrath meint, die gemeinsame Geschichte halt. Hoever und Chudy: »Es ist ein Glücksfall, dass wir ein gemeinsames Büro haben. Wir sitzen uns gegenüber und reden. Wir wären nicht so produktiv, wenn jeder in seiner alten Verwaltung ein Büro hätte. Egal wo, Hauptsache zusammen, das bringt’s.« Ihr Büro auf der Grenze – eine binationale Ideenbrüterei. Querdenken qua Amt.

    VERGANGENHEIT:

    hochmittelalterliche Siedlung mit Abtei (Rolduc) • Stadt im Wiener Kongress 1815 geteilt in einen niederländischen und einen deutschen Part • nach dem 2. Weltkrieg tatsächlich eine Grenzmauer, heute gemeinsame Straße, Grenze kaum noch erkennbar • jahrhundertelang vom Bergbau geprägt • ältester für Kontinentaleuropa bekannter Steinkohlenbergbau beim Stadtteil Kohlscheid

    Mit anderen Worten: Ein Fundament ist das eine, aber darauf muss man aufbauen, sonst fehlt was. Als reine Verwaltungsbeamte verstehen sich die beiden nicht. Eher als Detektivduo, das frühzeitig Probleme aufspürt und Lösungen erarbeitet. Chudy: »Wir können das ein oder andere anstoßen. Aber wir können es nicht umsetzen.« Das müssen die Chefs machen, sprich die Bürgermeister und Räte. Dabei geht es auch ums Bohren dicker Bretter. Hoever: »Aber wir haben die Fähigkeit, die Leute ›jeck zu mullen‹, bis sie das tun, was sinnvoll ist.« Zur Erinnerung: Damit ist eine besondere Form des Informationsinputs in das Gegenüber gemeint, mit der gleichzeitigen Andeutung, dass man das ohne Ende fortsetzen könne und auch wolle.

    Vier Jahre haben die beiden benötigt, um die Grenzgängerberatung auf dauerhaft festen Boden zu stellen. Elf Institutionen beiderseits der Grenze mussten zusammengebracht werden. Monatlich gibt es im Business Center einen Nachmittagstermin, zu dem ein Dutzend Fachleute von Arbeitsagentur, Rentenversicherung, Krankenkassen, Finanzamt usw. aus beiden Staaten anreisen. Auch viele Bürgerinnen und Bürger kommen vorbei, oft aus weiter Entfernung. Einhundert Beratungsgespräche pro Nachmittagstermin sind keine Seltenheit. Im Jahr kommen mehr als 4.000 telefonische und persönliche Anfragen zusammen. Früher wechselten die Berater nach wenigen Jahren mit dem Auslaufen der InterReg-Förderung. Erst 2012 wurde der jetzige Vertrag geschlossen. Auch noch befristet, aber Hoever und Chudy sind sicher, dass niemand hinter den Stand der Dinge zurück kann noch will.

    Schon sind beide wieder bei Geschichten aus dem Beratungsalltag. »Finanzamt Neubrandenburg« ist ein gefürchtetes Stichwort. Dann geht es um Rentenfragen. Irgendwann mal, erzählt Hans Hoever, hat der deutsche Staat gemerkt, dass sich keines seiner Finanzämter so richtig um die Besteuerung der Rentner im Ausland kümmert. Genauer: der Rentenbezüge, die ins Ausland – nach Mallorca, in die Türkei, nach Polen usw. – gezahlt werden. Das ist dann in Neubrandenburg gelandet. Chudy: »2011 hatten wir auf einmal einen Riesenschwung Leute hier stehen. Da waren wohl die Niederlande dran. Viele Nachkommen darunter. Opa oder Vater hatten mal in Deutschland gearbeitet, waren jetzt aber tot, Mutter dement. Die Kinder sollten nun ab 2005 Steuern nachzahlen.«

    Ein deutsches Steuerformular an niederländische Adressaten zu unverständlichen Sachverhalten – den Beratungsbedarf kann man sich vorstellen. Probleme gibt es genug. Doppelbesteuerung, komplizierte Krankheitsgeschichten von Grenzgängern, bei denen der Lohn im Arbeitsland und das Krankengeld im Wohnland gezahlt wird, BAföG-Probleme für Studierende mit ausländischem Wohnsitz und so weiter und so fort. Solche Dinge werden jetzt im Grenzinfopunkt geklärt.

    Von ihrem binationalen Büro aus haben die beiden sich schon durch viele bürokratische Niederungen gekämpft. Beispiel Kindergärtnerinnen. In Deutschland werden sie händeringend gesucht, in den Niederlanden gerade »freigesetzt«, weil der Staat im Sozialen kürzt. Herzogenrath und Kerkrade tauschen die Fachkräfte schon länger aus; das geht über Praktika hinaus und Herzogenrath hat schon etliche eingestellt. Dennoch prüft die Aufsichtsbehörde in Köln weiter in jedem Einzelfall, ob die Ausbildung anerkannt werden kann. Selbst wenn die Zeugnisse von qualifizierten niederländischen Ausbildungsstätten ausgestellt wurden. Wie lange eine Prüfung dauert, ist offen – auf die Dringlichkeit kommt es nicht an.

    Wegen solcher Erfahrungen ist jetzt »mullen wie jeck« angesagt. Siehe oben. Ziel ist ein »euregionales Arbeitsmarktbüro«, eine Art Präsenzschalter oder »front office«, wo Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer schnell alle Fragen und Fakten klären können für die Arbeitsaufnahme im Nachbarland. »Bislang wissen die Stellen links und rechts der Grenze nicht, wer soll mit wem reden? Wer muss welche Informationen bekommen?«, beklagt Cor Chudy. Ein solches »front office« könnte analog zum Grenzinfopunkt dauerhaft eingerichtet werden, der vor allem Sozialversicherungs- und Steuerfragen klärt, aber nicht Arbeitsprobleme. Eine Trägerschaft von elf Institutionen wie schon als Basis für die Grenzgängerberatung hätte auch mehr Durchschlagskraft und Aussicht auf Konstanz. Für die beiden wieder eine Frage der Zeit.

    Interessant ist ihre Reaktion auf die Frage, ob ein Einschalten der Ministerien die Sache nicht beschleunigen könne. Die Frage ist noch nicht ganz ausgesprochen, da schütteln beide schon synchron den Kopf: »Das müssen wir alles vor Ort machen. Ganz konkret Schritt für Schritt. Wie mit dem Busfahrer für die Aachener ASEAG.« Da sind die zuständigen Sachbearbeiter der Arbeitsverwaltungen beider Länder gemeinsam zur ASEAG geschleppt, Pardon eingeladen worden. Ortstermin sozusagen. Und dann wurde jede Frage durchgekaut: Was müssen wir tun, damit der Herr aus den Niederlanden den deutschen Linienbus fahren darf? Nach einer Stunde stand die Lösung. Geht doch. »Minister? Wir machen das zunächst immer bottom-up!« Anschließend wird geschaut, was man an der Lösung verallgemeinern kann. Erst der Trampelpfad, dann die Autobahn.

    Die mittelalterliche Abtei Rolduc in Herzogenraths Schwesterstadt Kerkrade

    Über die Jahre sehen die beiden durchaus Fortschritte. Wurden früher bei den offiziellen Kontakten im Eurode-Zweckverband fast nur Höflichkeiten ausgetauscht, so sagt man sich jetzt schon mal deutlich, was einem nicht gefällt. Die nachwachsende Generation geht eh selbstverständlicher mit den neuen Gegebenheiten um. »Es geht voran, aber langsam«, so Hans Hoever. »Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und wenn es nicht so kommt wie erhofft, dann gehen wir so in Rente.« Das dauert noch ein paar Jahre. Und bis dahin setzen die beiden weiter auf die normative Kraft des Faktischen. Und Taktischen: »Es ist ein bisschen unser Hobby geworden zu testen, was man erreichen kann.« Und dann sagt Cor Chudy doch noch ein wichtiges Wort über ihr Tun: »Europa muss wachsen, da haben wir noch Arbeit ohne Ende.«

    ZUKUNFT:

    Hightechstandort nahe der RWTH Aachen • Wohn- und Schlafort für Aachen mit gutem Schul- und Einkaufsangebot, Gewerbegebieten, Naherholungsqualität

    Auf dem Weg zur binationalen Europastadt

    HERZOGENRATH IST EINE HALBE STADT. Die andere Hälfte heißt Kerkrade und liegt auf niederländischer Seite. Tatsächlich waren beide Städte einst eine. 1815 teilte der Wiener Kongress die Stadt, schlug den westlichen Teil den Niederlanden zu, den östlichen zu Preußen. Lange vor Berlin war s’Hertogenrode/Kirchrath, so alte Namen, geteilt. Jetzt wächst zusammen, was lange Zeit nicht zusammengehörte.

    Im Zuge der beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert wurden sogar Mauern und Stacheldrahtzäune auf der Neustraße/Nieuwstraat errichtet. Das ist eine anderthalb Kilometer lange Straße, die Stadt- und Staatsgrenze zugleich ist. Die Häuser auf deutscher und niederländischer Seite stehen sich so nah gegenüber, dass man die Bebauung für eine einzige Siedlung hält. Heute sieht man von den Grenzsperren kaum noch etwas. Sie wurden peu à peu abgebaut; nach der deutschen Wiedervereinigung entschlossen sich auch Herzogenrath und Kerkrade, noch mehr aufeinander zuzugehen. Fremde vermögen die Unterschiede im Baustil allenfalls auf den zweiten Blick zu erkennen.

    Vielleicht fällt Fremden bei einer Fahrt auf der Neustraße/Nieuwstraat auf, dass die Verkehrsschilder etwas kleiner sind als im Rest Deutschlands. Es fehlen zwei Zentimeter am Durchmesser. Es sind niederländische Schilder, die auch den deutschen Verkehr regeln. Laut deutscher Straßenverkehrsordnung sind sie nicht zulässig. Man wollte die beiden Städte deshalb verpflichten, sowohl deutsche als auch niederländische Schilder anzubringen, aus Gründen der Rechtssicherheit. Das machten die Schwesterstädte aber nicht mit. Sie brachten nur die kleineren und kostengünstigeren Schilder aus den Niederlanden an. Auf die entsprechende Ausnahmegenehmigung wartet man noch heute. Und ist – nebenbei gesagt – stolz auf das Stückchen Anarchie.

    Diesen Freiraum möchte man nicht mehr missen. Ein bisschen erkämpfen, was unmöglich erscheint, ist der heimliche Ehrgeiz aller Eurode-Verantwortlichen links und rechts der Grenze. Am liebsten hätte man Sonderrechte, eine Art »Klein-Liechtenstein«. Gern wäre man die erste echte Europastadt. Lasst uns mal machen, das regeln wir schon, heißt es immer wieder. Da es bislang nicht so gekommen ist, suchen beide Städte halt pragmatisch nach Lösungen im Wirrwarr der binationalen Rechtsvorschriften.

    In Herzogenrath und Kerkrade zusammen wohnen rund 100.000 Menschen. Das ist in der Region eine Größe. Allerdings fehlt noch die entsprechende politische Durchschlagskraft. Beide Kommunen haben sich unter dem Kunstnamen »Eurode« zusammengetan und den gleichnamigen grenzüberschreitenden Zweckverband gegründet. Es ist vermutlich die erste binationale Gebietskörperschaft auf kommunaler Ebene in Europa. Der Zweckverband soll helfen, die Nachteile der Grenzlage für die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Entwicklungen auszugleichen. Gebiets- und Flächenplanungen, Straßenprojekte und ÖPNV-Verbindungen werden jetzt miteinander diskutiert und aufeinander abgestimmt. Der öffentlich-rechtliche Zweckverband gibt der Kooperation eine verbindliche Gestalt, die Zusammenarbeit ist nicht mehr von engagierten Personen abhängig oder von der Beliebigkeit politischer Mehrheitswechsel.

    Vorzeigeprojekt der Zusammenarbeit ist das Eurode Business Center EBC. (Es ist zugleich eine kleine Europawerkstatt für das Miteinander der beiden Halbstädte, wie der vorherige Beitrag zu Herzogenrath zeigt.) Das Dienstleistungszentrum wurde genau auf der deutsch-niederländischen Staatsgrenze gebaut, es liegt quer zum alten Verlauf der Neustraße/Nieuwstraat. Man betritt das Gebäude über eine Drehtür auf der deutschen Seite und verlässt es auf der niederländischen. Bei seinem Bau wurden unterschiedliche Rechtsvorschriften pragmatisch harmonisiert. Weil die Feuerschutzvorschriften in dem einen Land dickere Türen verlangen, hat man nur die stärkeren eingebaut und ist ansonsten bei anderen Problemen ähnlich verfahren. Die Grenze wird durch einen Silberstreifen auf dem Boden angezeigt – und wer nach den Toiletten fragt, hört, dass die Damen in die Niederlande müssen und die Herren nach Deutschland. Welche Geschichten davon hat ein japanisches Fernsehteam wohl daheim erzählt?

    EUROPAPROJEKTE:

    »Europastadt« gemeinsam mit Kerkrade unter dem Kunstnamen »Eurode«, zusammen erreichen die Städte rund 100.000 Einwohner • gemeinsame Gremien fassen Beschlüsse, die noch von den nationalen Räten bestätigt werden müssen • Dienstleistungszentrum Eurode Business Center auf der deutsch-niederländischen Staatsgrenze • Strukturwandel der Zechenareale finanziert mit EU-Hilfe

    Auf den mehr als 3.600 Quadratmetern Nutzfläche im EBC haben sich rund 60 Firmen angesiedelt, die grenzüberschreitende Dienstleistungen anbieten: Anwaltskanzleien, Unternehmensberatungen, Marketingfirmen, Zeitarbeitsagenturen, Tourismusstellen oder Immobilienfirmen. Mit der Adresse Eurode Business Center haben sie eine deutsche wie auch eine niederländische Anschrift und Telefonnummer. In beiden Ländern hat man so quasi ein Heimspiel. Eine Marketingagentur hat das genutzt, um für einen großen deutschen Sportartikelhersteller die gewünschte deutsche Adresse vorweisen zu können.

    Steuerlich können die Unternehmen das Land wählen, das für ihr Geschäft den größten Vorteil bietet, müssen sich dort aber auch mit mindestens 51 Prozent der Geschäftsanteile offiziell niederlassen. Bei den Steuern sind die Staaten nicht so nachsichtig wie bei Verkehrsschildern oder Feuerschutztüren.

    Die Beschlüsse im Euroderat sind rein rechtlich nicht verbindlich. Sie müssen in den jeweiligen Räten bestätigt werden, was in der Regel auch geschieht. Gegenüber den Anfangsjahren, als man bei den Sitzungen vornehmlich Höflichkeiten austauschte, sagt man sich jetzt schon mal die Meinung über die eine oder andere Planung, die einem beim Partner partout nicht gefällt. Die Freundschaft stört das nicht.

    Die Schwesterstädte arbeiten besonders eng

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