Religion und Bildung: Orte, Medien und Experten religiöser Bildung
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In diesem Zusammenhang rücken zwei Fragen in den Vordergrund: Braucht Bildung Religion? Und braucht Religion Bildung? 28 Autorinnen und Autoren aus Gesellschaft, Wissenschaft und Kirche erörtern in diesem Band die Bedeutung von Religion für Erziehung, Bildungspolitik und Wertedebatten und eröffnen Zugangswege, dieses facettenreiche Verhältnis neu zu bedenken: in Lebensräumen, in unterschiedlichen Religionen, im Gottesdienst sowie in den Medien.
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Buchvorschau
Religion und Bildung - Verlag Bertelsmann Stiftung
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Religiöse Bildung in Lebensräumen
Den Anfang schon verpasst? Religiöse Bildung in der Kindheit
Friedrich Schweitzer
Von religiöser Bildung in der Kindheit soll hier in einer doppelten Perspektive die Rede sein. Es geht um die Bedeutung von Religion für das Kind und für die Kindheit, aber auch um die Bedeutung von Kindheit für Religion und religiöse Entwicklung. Warum ist die religiöse Förderung und Begleitung wichtig für ein Kind, und welche Rolle spielt sie für Religion im Jugend- und Erwachsenenalter?
Wer so fragt, stößt rasch auf einen Befund, der zu denken geben muss: Übereinstimmend verweisen theoretische und empirische Erkenntnisse auf die hervorgehobene Bedeutung sowohl von Religion für die kindliche Entwicklung als auch von Kindheit als religiöser Entwicklungszeit; aber zugleich fehlt es in Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft weithin an der Bereitschaft, sich auf die Herausforderungen einzulassen, die mit religiöser Bildung in der Kindheit verbunden sind.
Das Recht des Kindes auf Religion: Selbstwerdung und Wertebildung
Dass Kinder ein Recht auf Religion und religiöse Begleitung haben, ist ihnen im Prinzip seit der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verbrieft. Zumindest die englische und die französische Fassung sprechen mehrfach von der »spirituellen« Entwicklung (in der deutschen Fassung werden verdunkelnde Übersetzungen wie »geistig« oder »seelisch« bevorzugt). Doch soll hier nicht einfach auf einem Recht im juristischen Sinn insistiert, sondern die Bedeutung von Religion für ein umfassend verstandenes Wohl des Kindes hervorgehoben werden. Kinder brauchen Religion, insbesondere für ihre Selbstwerdung sowie zur Wertebildung (Schweitzer 2005; Biesinger 2007).
Während in früherer Zeit etwa die Psychoanalyse (Sigmund Freud) dazu tendierte, Kindheitsreligion als eine Art neurotische Erscheinung zu deuten, und Psychotherapeuten wie Tilmann Moser von der religiösen Erziehung eine »Gottesvergiftung« befürchteten, hat die neuere religionspsychologische Forschung eine andere Sichtweise etabliert: Religion ist eine wesentliche Dimension der kindlichen Entwicklung, deren Anfänge bereits in den Erfahrungen der frühesten Lebenszeit zu suchen sind (Schweitzer 2007; Moser 2003). Die religiöse Entwicklung kann positiv oder negativ verlaufen. Sie kann zur Selbstwerdung beitragen und in ihren Fehlformen die Selbstwerdung behindern. Vor allem aber kann sie verkümmern, sofern sie nicht gefördert und begleitet wird - sogenanntes religiöses Kaspar-Hauser-Syndrom (Schweitzer 2005: 39 ff.). Von religiöser Bildung kann, dem neueren Verständnis gemäß (Schäfer 1995), deshalb gesprochen werden, weil es nicht etwa um bestimmte Wissensbestände oder Verhaltensweisen geht, sondern um die Entwicklung von Person, Persönlichkeit und Identität.
Religion lässt sich nicht auf Moral oder Werte reduzieren, und religiöse Erziehung kann heute nicht mehr als eine - vielleicht sogar besonders autoritäre - Form von Moralerziehung ausgelegt werden. Doch sind religiöse Überzeugungen ein Boden, auf dem Werte wachsen und sich bilden können. Biblische Geschichten beispielsweise thematisieren immer wieder elementare Unterscheidungen zwischen Gut und Böse, und das christliche Verständnis von Mensch und Wirklichkeit begründet die Würde des Menschen ebenso wie die Integrität der Schöpfung, ohne zu übergehen, dass beide immer wieder angetastet und verletzt werden. Dass Kinder ein Recht auf Religion haben, lässt sich deshalb nicht nur religionspädagogisch oder theologisch begründen, sondern auch aus der Sicht anderer Wissenschaften (Biesinger et al. 2005).
Gesellschaftliche Pluralität braucht religiöse Bildung
Inzwischen hat sich weithin die Einsicht Bahn gebrochen, dass ein Zusammenleben in Frieden angesichts der gesellschaftlichen Pluralität nur möglich werden kann, wenn schon Kinder durch eine Bildung zur Pluralitätsfähigkeit darauf vorbereitet werden. In aller Regel vernachlässigen die Ansätze einer interkulturellen Bildung jedoch die religiöse Dimension und tragen deshalb nicht dazu bei, einen kompetenten, toleranten und respektvollen Umgang mit Menschen unterschiedlicher religiöser Überzeugung oder Religionszugehörigkeit zu fördern. Dabei wird übersehen, dass »fremde« Kulturen in Deutschland, wie etwa die türkische Kultur, ohne Berücksichtigung der Prägungen durch den Islam nicht einmal verstanden werden können.
Vielfach wird allerdings auch die Auffassung vertreten, religiöse Bildung müsse in der Kindheit zunächst auf den Erwerb einer religiösen Identität angelegt sein, ehe sie sich später, im Jugend- und Erwachsenenalter, für eine Begegnung verschiedener religiöser Identitäten öffnen könne. Dabei wird jedoch nicht bedacht, dass Kinder heute von früh auf gemeinsam mit anderen Mädchen und Jungen aufwachsen, die etwa aufgrund von Migration andere religiöse oder nicht religiöse Prägungen mitbringen. Der Deutsche Bildungsbericht von 2006 geht im Primarbereich von einem Anteil von 29,2 Prozent und im Elementarbereich sogar von 32,5 Prozent von Kindern mit Migrationshintergrund aus (Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 143). Die seit den PISA-Studien bekannten Defizite in der Förderung von Kindern mit Migrationshintergrund, so kann zugespitzt werden, dürften auch auf eine fehlende Aufmerksamkeit hinsichtlich der religiösen Entwicklung dieser Kinder zurückzuführen sein. Angesichts der multireligiösen Situation schon im Kindergarten sollte mit einer auf Pluralität ausgerichteten religiösen Bildung auf keinen Fall bis zum Jugendalter gewartet werden.
Religion im Kindesalter: Defizite der Forschung
Im schroffen Gegensatz zu den oben erwähnten Anteilen von Kindern mit Migrationshintergrund im Elementar- und Primarbereich stehen die in der Familien-, Kindheits- und Kindertagesstättenforschung verfolgten Richtungen. In keinem dieser Forschungsfelder wird die religiöse Dimension des Aufwachsens berücksichtigt. Religion wird gleichsam als ein Spezial- oder Privatinteresse von Kirchen oder kirchlichen Trägern behandelt oder gar als eine bloß subjektive Chimäre angesehen, auf die sich eine auf Objektivität eingestellte Wissenschaft nicht einlassen kann. So fehlt es heute in Wissenschaft und Politik, aber auch in öffentlichen Bildungseinrichtungen wie dem Kindergarten bereits an elementaren Daten zu Religion und religiöser Erziehung in der Familie.
Wie wenig diese Zurückhaltung in der Forschung berechtigt ist und zu welchen wichtigen Einsichten Untersuchungen tatsächlich führen können, die auf Religion in der Kindheit gerichtet sind, haben wir in mehreren Tübinger Forschungsprojekten nachgewiesen (Biesinger et al. 2005; Schweitzer, Biesinger und Edelbrock 2008). Dabei zeigte sich deutlich, dass die Familie nach wie vor für die religiöse Entwicklung von Kindern eine enorme Bedeutung hat, wobei das Eröffnen von Zugängen zu Religion ebenso gemeint ist wie eine dauerhafte Erschwerung solcher Zugänge. Die in der Familie erlebte Kindheit ist in religiöser Hinsicht zwar nicht immer ein Schicksal, das das gesamte Leben bestimmt, aber in vielen Fällen werden die entscheidenden Weichen durch die Art der religiösen Familienerziehung gestellt (vgl. auch Zinnecker und Silbereisen 1996: 331 ff.).
Für Religion und religiöse Begleitung in Kindertagesstätten verweisen unsere Befunde auf einen deutlichen Nachholbedarf schon bei der Förderung von Kindern aus im weitesten Sinne christlichen Elternhäusern. Viel größer noch sind die Defizite bei der Begleitung muslimischer Kinder sowie bei einer interreligiösen Bildung. Daran haben offenbar auch die in den letzten Jahren in Kraft gesetzten Orientierungs- und Bildungspläne für den Elementarbereich wenig geändert, selbst wenn sie - wie in den meisten Bundesländern - auch Bildungsaufgaben für »Sinn, Werte und Religion« ausweisen. Nicht zuletzt fehlt es an einer Aus- und Fortbildung, die den Erzieherinnen religionspädagogische Kompetenz vermitteln würde.
Praktische Konsequenzen
Wenn Kinder ein Recht auf Religion und religiöse Begleitung haben und die Förderung der religiösen Entwicklung für ihre Selbstwerdung ebenso bedeutsam ist wie für die Wertebildung, muss gewährleistet sein, dass Kinder einer auch in religiöser Hinsicht anregenden Umwelt begegnen. Dazu gehören aufmerksame Erwachsene genauso wie Rituale, Geschichten, Kinderbücher und -lieder sowie die bewusste Auseinandersetzung mit den »großen Fragen«, welche die Kinder immer wieder selber stellen. Eigens hervorzuheben ist die bewusst begleitete Begegnung zwischen Kindern unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit. Die teils noch verbreitete Annahme, religionspädagogische Aufgaben könnten primär nur einem der in der Kindheit bedeutsamen Bereiche zugeordnet werden - also etwa der Familie -, kann heute nicht mehr überzeugen. Das Aufwachsen ist in Zeiten der »Erziehungskatastrophe« vielfach so prekär, dass bestenfalls ein Zusammenwirken der verschiedenen Bereiche Erfolg versprechen kann.
Die Forderung, eine religiös anregende Umwelt zu schaffen, gilt deshalb gleichermaßen für die Familie wie für Kindertagesstätten oder Schulen. Und alle drei dürfen nicht nur mit Forderungen konfrontiert werden, sondern brauchen, auf je eigene Art, die Unterstützung durch Ausbildung, Fortbildung und Modell- beziehungsweise Materialentwicklung. Angebote der Elternbildung, deren Gewicht heute wieder neu erkannt wird, müssen auch die religiöse Dimension einschließen. Die in Kindertagesstätten unternommenen Versuche einer konsequenten Frühförderung dürfen sich nicht auf Sprache oder naturwissenschaftliches Denken beschränken. Erzieherinnen brauchen auch religionspädagogische Kompetenzen, ohne die eine umfassende Förderung der kindlichen Entwicklung nicht möglich ist. Abgesehen vom Religionsunterricht hat sich auch die Grundschule der religiösen Pluralität bisher kaum gestellt. Es fehlt an Modellen für eine pluralitätsfähige Bildung, für die sich die Schulen insgesamt verantwortlich fühlen und fühlen sollten.
Religiöse Bildung in der Kindheit ist ein Zukunftsthema. Wo dies begriffen wird, profitieren an erster Stelle die Kinder selbst, aber auch die Eltern sowie die Einrichtungen, die für die Bildung im Kindesalter einstehen.
Aspekte einer Kindertheologie
Gerhard Büttner
Kind A (3 1/2 Jahre): »Er wohnt in einer kleinen Hütte im Himmel.« Kind B (6 Jahre): »Nein, Gott ist überall (es zeigt mit dem Finger auf das Tischtuch), und er ist auf dem Krümel da.« (lacht) Kind C (8 Jahre): »Damit ist gemeint, er ist in unserem Herzen und in unseren Gedanken und in allem.«
Gespräche wie diese (Hull 1997: 22 f.) haben dazu geführt, dass sich der Begriff der Kindertheologie in der deutschsprachigen Religionspädagogik eingebürgert hat. Solche Dialoge führen Kinder sicher häufiger, als wir ahnen. Es bedarf der Aufmerksamkeit von Erwachsenen, diese Äußerungen wertzuschätzen. Soweit es ihnen gelingt, sie aufzuschreiben, können sie unser Wissen über das kindliche Denken entscheidend bereichern. Vom Gewahrwerden kindlicher Denkprodukte hin zum aktiven Dialog mit den Kindern ist es nur noch ein kleiner Schritt.
Orte kindertheologischer Gespräche
Die Mehrzahl der zahlreichen Beiträge zum theologisch relevanten Nachdenken der Kinder entspringt generationenübergreifenden Gesprächen. Der klassische Ort dieser Dialoge ist die Familie, woher auch die obigen Beispiele stammen. Doch ergeben sich in der Praxis viele Probleme, wenn es darum geht, als Eltern in diese Gespräche einzusteigen und die Gedanken der Kinder zu unterstützen. Dem Kinderphilosophen Gareth Matthews gelingt es beispielsweise mit der Frage, woher die Flöhe der Katze kommen, Gespräche zu initiieren, die zum Anfang aller Dinge führen. In dem Maße jedoch, in dem Eltern religiös relevantes Wissen fehlt, wird es auch unwahrscheinlicher, dass es zu Dialogen im Sinne einer Kindertheologie kommt.
Derzeit versucht man, in der Vorschulerziehung Elemente des theologischen Gesprächs zu etablieren. Doch auch den Erzieherinnen fehlt zumeist die Kompetenz. In der kirchlichen Kinderarbeit beginnt man gerade, sich für gesprächsbasierte Formen zu interessieren. Daher wird man mit einem gewissen Recht sagen können, dass Kindertheologie im deutschsprachigen Raum - anders als in den angelsächsischen Ländern - eher ein Projekt der Schule ist, insbesondere des Religionsunterrichts.
Zwischen Kinderphilosophie und gelebter Religion
Die Zuweisung der kindertheologischen Praxis an den schulischen Religionsunterricht bringt Probleme mit sich. Angesichts der Pluralität der religiösen Landkarte stellt sich auch der Religionsunterricht inzwischen keineswegs mehr einheitlich dar. Gleichwohl lässt sich Kindertheologie durchaus in verschiedener Weise profilieren (Büttner 2007).
Das Konzept eines »Theologisierens mit Kindern« wurde im Anschluss an entsprechende Unternehmungen in der (Kinder-)Philosophie entworfen. Viele Fragen von Kindern streifen nachweisbar metaphysische Problemstellungen. Daher überrascht es nicht, dass eine offene Gesprächskultur auch zu religionsphilosophischen Themen führt. Für die Religionspädagogik ergab sich daraus die Erkenntnis, dass bereits Kinder willens und fähig sind, an offenen Erörterungen religiöser Fragen auf einem Niveau teilzunehmen, das zumindest Affinitäten zu den Themen der klassischen Theologie aufweist.
So führen Überlegungen zur Bedeutung Jesu im biblischen Kontext und zu seiner Bedeutung für uns fast zwangsläufig zu dem theologischen Topos der Zwei-Naturen-Lehre, wonach Jesus wahrer Mensch und/oder wahrer Gott ist. Damit berührt der Philosophieunterricht vor allem mit jüngeren Kindern auch klassische Fragen der Theologie und unterscheidet sich kaum noch von einem Religionsunterricht, der nicht dem konfessionellen Modell folgt. Aber auch dort können klassische theologische Fragestellungen wie freier/unfreier Wille, Schuld/Vergebung/Gnade, Hoffnung über den Tod hinaus unterrichtliche Bedeutung erhalten. Denn sie folgen genuinen Fragen der Kinder, sind aber auch Formen einer Arbeit am kulturellen