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Chaos im Kessel: Roman
Chaos im Kessel: Roman
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eBook292 Seiten4 Stunden

Chaos im Kessel: Roman

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Über dieses E-Book

Seitdem der Otto und der Jakob im letzten Sommer den Mord an ihrem Kumpel aufgeklärt haben, ist für Otto einiges den Bach runtergegangen: Er hat kein Dach mehr überm Kopf, seine Ausbildung abgebrochen, kriegt Ärger mit der Polizei, und die Lorelei, die Liebe seines Lebens, ist stinksauer auf ihn, weil er ständig high ist. Zeit, sich am Riemen zu reißen!
Die Wende kommt mit einer Wette: Schafft der Otto den Entzug, winkt endlich die Gunst seiner Traumfrau. Das motiviert. Die Wette verselbständigt sich aber bald und der Freundeskreis teilt sich in ungebetene Helfer - darunter ein Hund - und aufdringliche Wettbetrüger - wie sein bester Freund Jakob -, die den Otto allesamt in den Wahnsinn treiben. Und dabei darf keiner wissen: Der Entzug hat Nebenwirkungen für den Otto, nämlich nicht ganz unwillkommene drogenrauschähnliche Halluzinationen!
Darüber hinaus kriegen der Jakob und der Otto als stadtbekannte Verbrecherjäger jetzt einen "Fall" nach dem andern aufgehalst. Fahrraddiebstähle und Karnickel-Entführungen weisen die zwei Vollprofis natürlich zurück, das ist unter ihrer Würde. Doch plötzlich verschwindet die Margot spurlos. Da stellt sich heraus, dass die Erfahrungen bei ihrem ersten Fall den Otto und den Jakob zu Angsthasen gemacht haben und sie schnell merken, dass so etwas eine Kragenweite zu groß für sie ist. Jetzt brauchen die beiden Chaoten eine richtig gute Ausrede, um sich vor einer neuen Verbrecherjagd zu drücken …
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. März 2014
ISBN9783842516229
Chaos im Kessel: Roman

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    Buchvorschau

    Chaos im Kessel - Melanie Fritz

    23

    1

    Das Schlechte an der Linie ist: Die ist mit Smack gestreckt, aber das merkt der Otto nicht und wird es auch nie erfahren. Das Gute an der Linie ist: Das war seine letzte. Von jetzt an heißt’s die Kurve kriegen.

    Das Einzige, woran der Otto sich erinnern kann, als er am nächsten Morgen aufwacht, ist, dass er auf dem Nachhauseweg vom Gewitter überrascht worden und notbehelfsmäßig irgendwo untergekrochen ist. Ob er da liegen geblieben ist und wo genau dieses Irgendwo ist, wird er garantiert gleich rausfinden. Hoffentlich nicht wieder in einem von den Springbrunnen am Schloßplatz.

    Er hebt den Kopf, und sofort sticht’s ihm saumäßig in den Nacken. Sein Kreuz fühlt sich an wie das von einem Fakir. Er liegt auf einem Haufen Bauschutt, und obwohl diese Unterlage sich im Laufe der Nacht seinem Körper formgerecht angepasst hat, fühlt er sich, als hätt er auf einem Grillrost über heißen Kohlen geschlafen. Er lässt schnell den Kopf zurückfallen, was noch mehr wehtut, weil da verdammt harte Steine rumliegen.

    Augen aufmachen ist wie Weltmeisterschaft im Gewichtheben gewinnen. Nachdem der Otto mit Ach und Krach die Lider hochgestemmt hat, muss er feststellen, dass er in einem abbruchreifen, müffelnden Bahnschuppen übernachtet hat. Die Tür liegt vorm Eingang, die Fenster sind eingeschlagen, die Wände sind mit Schimpfwörtern in vier verschiedenen Sprachen besprüht, das Dach ist undicht, und links neben ihm wächst sogar ein kleiner Baum aus dem Schutt. Ansonsten ist der Schuppen leer. Draußen weht ein laues Frühlingslüftchen und die Wände wiegen sich im Wind.

    Der Otto ächzt, grunzt, zieht die Nase hoch und speit einen Haufen Schleim Richtung Baum. Der kann das bestimmt brauchen jetzt im Frühling. Da stecken sicher viele wichtige Nährstoffe drin. Für eine ganze Weile widmet der Otto dem Bäumchen seine volle Aufmerksamkeit. Schwer beeindruckt kuckt er ihm beim Wachsen zu – abnormal rasant. Als Nächstes versucht der Otto zu schätzen, wie lang er brauchen wird, bis er sich zumindest auf Händen und Knien fortbewegen kann. Geht garantiert nicht ganz so rasant. Aber man muss ja auch nichts überstürzen. Hier drin hat man immerhin ausreichend Privatsphäre.

    Der Otto pfeift ein Lied. Dann pfeift er ein andres. Hilft vielleicht gegen den Druck auf dem Ohr. Er wundert sich, warum er gar nicht so dringend aufs Klo muss, und hofft, dass er nicht in die Hose gemacht hat.

    Der Bauschutt ist doch nicht ganz so unbequem. Er hat schon schlechter genächtigt – im Springbrunnen zum Beispiel. Dabei war der damals nicht mal an. Und die Nacht im Wilhelma-Bauernhof war auch ziemlich unruhig. Die Kühe haben ihn einfach nicht in Ruhe gelassen.

    Der Otto pfeift immer leiser. Irgendwie hat er das Gefühl, dass er hier nicht allein ist. Irgendwas verletzt jetzt doch seine Privatsphäre. Er schiebt’s auf den Baum, der aufrecht und stramm neben ihm steht, der Angeber. Genervt streckt der Otto den Arm aus und drückt das dünne Stämmchen zu Boden.

    Jetzt hat er seinen eigenen Schleim an der Jacke.

    Er dreht stöhnend den Kopf auf die andere Seite und schaut in zwei halb geschlossene braune Augen.

    Der Otto schafft es nicht, sich zu erschrecken. Jetzt versteht er, warum er sich beobachtet fühlt, warum seine rechte Achsel triefend nass ist und es nach totem Fisch riecht. Zwischen seinem Arm und seinem Oberkörper, die Nase im Otto seiner Achselhöhle vergraben, liegt ein Hund und schneckelt sich hoffnungsvoll an ihn. Als ihre Blicke sich kreuzen, hebt das Vieh den Kopf, öffnet das Maul und atmet einen Schwall Moder aus.

    Der Otto dreht den Kopf wieder weg und kuckt lieber dem Baum beim Wiederaufrichten zu. Der Hund an seiner Seite steckt die Nase in die Achsel vom Otto zurück und rührt sich nicht vom Fleck.

    Der Otto ärgert sich. Das hat man davon, wenn man im Suff ungewollte Freundschaften schließt. Stinkende, sabbernde, sklavisch ergebene Freunde fürs Leben. Apropos: Ob der Rudi und der Klaus immer noch in dem alten Wohnwagen bei den Schlachthöfen wohnen?

    Der Otto nimmt das zum Anlass, doch ein bisschen zügiger auf die Beine zu kommen. Die Wand vom Schuppen knirscht bedrohlich, als er sich am Fensterrahmen hochzieht und Richtung Tür hangelt. Vor ihm liegt der Dschungel vom Cannstatter Güterbahnhof in der Morgensonne. Irgendwie sieht’s gar nicht so aus, als ob’s letzte Nacht gewittert hätt. Vielleicht hat er sich das auch bloß eingebildet.

    Dass er sich doch in die Hose gemacht hat, bildet er sich wohl leider nicht ein. Tapfer stößt er sich vom Schuppen ab und stolpert übers Gleisgeröll in Richtung Heimat.

    In der Daimlerstraße angekommen, zwängt er sich durch den Bauzaun, schließt die Haustür auf und steigt hoch zu seiner alten Wohnung. Seit die Dachterrasse eingestürzt ist, haben Unbefugte hier eigentlich keinen Zutritt. Aber wenn die die Schlösser nicht austauschen …

    Außerdem ist der Otto kein richtiger Unbefugter. Sein ganzes Zeug war ja noch da, als er im Herbst zum ersten Mal wieder hier hochgestiegen ist, um nach seiner Vorratsdose zu suchen. Jetzt ist es Anfang April, und weil es schon sehr mild ist, hat der Otto sich in seinem alten Zimmer wieder halbwegs häuslich eingerichtet. Auch wenn von der Zimmerdecke nicht viel übrig ist und es keinen Strom und außer Regenwasser kein fließendes Wasser gibt. Und obwohl jeden Tag die Abrissbirne anrücken kann. Aber die trifft bestimmt nicht gleich den vierten Stock.

    Der Otto führt sich erst mal seinen Wecker vor Augen und nimmt zur Kenntnis, dass es acht Uhr morgens und Montag ist. Er stellt das Ding auf sechs Uhr abends, damit er das Fußballtraining nicht verpasst, und vergisst auch nicht die Unterhose zu wechseln. Dann kümmert Dr. Otto Doolittle sich um den Hund, der geduldig neben ihm steht: Er desinfiziert mit Wodka die Bisswunden, die das Vieh an Kopf, Schulter und Hinterlauf hat, füttert es mit ein paar alten Keksen, lupft es aufs Bett und legt sich daneben.

    Als der Otto abends mit dem Hund im Schlepptau am Sportplatz ankommt, tickt die ganze Mannschaft aus, wie wenn er ein dressiertes Brathähnchen dabeihätt.

    »Boah! Wo hasch ’n des Flohtaxi her?«

    »Nemm den Ködr weg!«

    »Hasch Schiss, Gerki?« Der Otto grinst.

    »Vor ma Mopps? Desch doch en Mopps, oddr?«

    Aber der Michi weiß besser Bescheid. »Des? Bisch blind, Mann? Desch koin Mopps, des siehd nach ma englischa Staffordshire aus. Mei Brudr had au so oin, bloss en amrikanischa.«

    Der Otto kuckt runter zu dem Tier, das er fälschlich für einen Schoßhund gehalten hat, weil es ihm nicht mal bis zum Knie reicht. Tadelnd blickt der Kleine zu ihm hoch. Der hat einen flachen, massigen Kopf mit einer kurzen, breiten Schnauze, einen genauso flachen, massigen Körper und ein kastanienbraunes Fell mit weißem Latz und frischen Bissspuren.

    »Wie heißd ’r, Mann?«, fragt der Jurij.

    Der Otto zuckt mit den Schultern. »Woiß i doch ed. Der schwätzd ja nix.«

    Sofort folgen jede Menge Tipps zur Namensgebung. Rambo, Rocky, Hektor oder Hassan entpuppen sich als Spitzenfavoriten.

    »Wie wär’s mid Donald?«, schlägt der Jakob vor, und erklärt: »Passd zur Deisi.«

    »Awa!«, brummt der Otto. »Der krigd koin Nama, der gherd ja ed mal mir. Komm, Grübbl«, sagt er zum Hund. »Da hoggsch de na on wardesch.«

    Und das macht er. Der Trainer, der Piet, ist wie erwartet gar nicht begeistert über den haarigen Zuschauer. Aber das Viech bleibt das ganze Training über auf derselben Stelle hocken, und das Einzige, was sich an dem bewegt, ist seine hechelnde Zunge.

    Beim Otto ist das fast genauso. Und das regt den Piet noch viel mehr auf.

    »I glaub, dir breng e ’s nägsch Mal d’ Gehhilfe vo meinr Omma mid«, schnauzt er den Otto an, als die Kerle nach dem Training Richtung Umkleide traben.

    Der Otto lacht bloß blöd.

    »Wo warsch ’n geschdrn?«, fragt der Jakob, als sie unter der Dusche stehen.

    Der Otto zuckt mit den Schultern.

    »Woiß i nemme. Wo e uffgwachd benn, hann e den Grübbl da em Arm ghed.« Er nickt Richtung Schließfächer, wo der Staffordshire ihn sehnsüchtig erwartet.

    »Der guggd au scho ganz vrgnalld«, bemerkt der Jakob.

    »Na brauchd ’r au en schwulr Name!«, schreit der Peppo.

    »Peppo!«, schreit der Jurij.

    Dafür spritzt der Peppo dem Jurij jede Menge Duschdas an den Kopf und gibt eine Salve unflätiger Sprüche von sich. Die Fliesen vibrieren unter dem Gewieher von den Kerlen.

    Der Otto muss sich mit einer Hand am Duschkopf festhalten. Das Lachen ist ungeheuer anstrengend – als würd er Nachkommen aus seiner Lunge pressen statt bloß Luft – aber er kann nicht einfach auf Befehl aufhören.

    »He, Oddo. Alls glar?«, fragt der Moritz.

    Der Jakob dreht sich zum Otto um und kriegt grad noch mit, wie dem der Duschkopf aus der Hand rutscht und der Bursche mit einem gewaltigen Rumms längs der Wand zu Boden geht.

    »Scheiße«, sagt der Jakob und kuckt erst mal Richtung Umkleide, der Piet kann jeden Moment reinkommen.

    Dann kniet er sich zum Otto runter und rüttelt ihn kräftig an der Schulter. »Scheiße, Oddo. Komm, schdand uff«, sagt er, aber der Otto hat grad einen kompletten Stromausfall und sieht höchstens halb so intelligent aus wie sonst.

    »Schbritz em a bissle Wassr ens Gsichd«, sagt der Moritz.

    »Michl, schdand mal Schmiere, falls dr Pie’ kommd«, sagt der Jakob und dreht den Kaltwasserhahn auf.

    Die Wassertemperatur würd einen Yeti unterkühlen, aber der Otto reagiert nicht sofort. Es dauert ein paar Augenblicke, bevor er das Gesicht verzieht, den Arm hebt und das Wasser wegwedelt. Als er’s geschafft hat, mit Hilfe seiner Handflächen den Sturzbach umzuleiten, dreht der Jakob den Hahn zu und haut dem Otto ein paarmal auf die Backe, damit er endlich die Augen aufmacht.

    »Auf jetz, schdand uff, du Sagg«, grunzt der Jakob. »Oddr willsch da naggad schdragga bleiba, bis d’ Butzfrau kommd?«

    Der Otto kuckt sich hektisch um – der hat keine Ahnung, warum er in der Dusche liegt. Er kommt auf die Füße wie ein neugeborenes Lamm und stiert blökend in die Landschaft. Man kann jeden Wassertropfen einzeln runterplatschen hören, und das, obwohl fünfzehn Kerle um ihn rumstehen. Alle sind nass und nackig und versuchen angestrengt, woanders hinzukucken.

    Der Otto hat sich die Augenbraue und die Unterlippe aufgeschlagen und steht noch schiefer da als sonst mit seinem krummen Schlüsselbein und seinem lahmen Arm. So, wie’s den grad hingeschlagen hat, wird der morgen grün und blau sein.

    »Koi Word faih zom Pied«, sagt der Jakob und die Kerle nicken. Schon klar. »Komm, Oddo, zieg dr was a.«

    Der Otto setzt sich mechanisch in Bewegung und murmelt: »Brauchsch ed bloß zu mir sa.«

    Der Otto schafft’s, dem Piet beim Rausgehen bloß sein heiles Profil zu zeigen. Wenn der Piet dem Otto seine Fresse zu sehen gekriegt hätt, dann hätt er den Otto wahrscheinlich mitsamt der Gehhilfe von seiner Omma in eine sozialpädagogisch betreute Gummizelle gesteckt. Da kann der Otto dann stundenlang mit seinem Wägelchen gegen die Wand laufen.

    Statt dem Piet übernimmt zum Glück der Jakob das Ruder und verfrachtet den Otto samt Haustier auf den Rücksitz von seiner Karre. Wie so oft nimmt er ihn heute mit heim. Der Pappa ist eh grad auf Geschäftsreise und die Mamma gibt montagabends Yoga, die wird frühestens morgen merken, dass sie mal wieder einen Obdachlosen beherbergt.

    Als sie bei den Layhs daheim ankommen, schauen die Lorelei und den Layhs ihr Rottweiler, die Daisy, im Wohnzimmer fern. Und zum ersten Mal, seit sie sich kennen, hat die Daisy keine Augen für den Otto. Sie steht auf und schleicht mit ihrer Dich-fress-ich-roh-Haltung auf den Staffordshire zu. Die Daisy duldet nämlich keine Eindringlinge in ihrem kleinen Königreich. Aber sie merkt wahrscheinlich, dass der Kollege verletzt und ziemlich am Ende ist. Der Staffie wedelt schwach mit dem Schwanz, schmiert ihr Schleim ums Maul und winselt ein bisschen. Die Daisy steht da und blickt mit majestätischer Miene auf ihn herab.

    Untertanen sind immer willkommen.

    Beim Otto und der Lorelei ist das nicht ganz so einfach. Vor allem nicht, weil man dem Otto schon von Weitem ansieht, dass er an seinem Zustand völlig selber schuld ist. Und je schlechter dieser Zustand, desto widerlicher findet das die Lorelei.

    »He, Lo«, murmelt der Otto unterwürfigst und macht an seinem Kragen rum.

    Das Äquivalent von Schwanzwedeln, Schleim und Gewinsel. Er weiß nicht, was er sonst sagen oder machen soll. Vor zwei Monaten hat er sie das letzte Mal gesehen, weil die Lorelei erst gestern von einem Studienaufenthalt in Paris zurückgekommen ist. Da ist er jetzt halt ein bisschen schüchtern. Die Lorelei starrt ihn bloß kurz an. Länger kann sie nicht hinkucken. Ist ja nicht so, dass sie den Otto zum ersten Mal so sieht: das Gesicht verschrammt und blass, der Mund sperrangelweit offen wie bei einem Karpfen in trüben Gewässern, der Blick nichtssagend. Aber womöglich hat sie insgeheim gehofft, dass er versuchen würd, sie bei ihrer Rückkehr aus Frankreich positiv zu überraschen.

    Das kann sie sich abschminken, merkt sie grad. Der hat wahrscheinlich nicht mal mitgekriegt, dass sie wieder da ist, so wie der gegen die Wand gefahren ist. Wütend wendet sie sich ab, macht den Fernseher aus und verzieht sich nach oben. Der Otto starrt bloß weiter auf die Stelle, wo sie grad gesessen hat, und glänzt mit so was wie einem Gesichtsausdruck.

    »Scho vrschissa«, sagt der Jakob und klopft dem Otto aufs Kreuz. »Hasch heid scho was gässa?«

    »Noi.«

    »Hann e mr denggd. Na brauchsch de au ed wondra, wenn de zammaglappsch. Komm.«

    Der Jakob füttert den Otto und den Staffie mit Hundefutter und Spaghetti Bolognese. Dann sperrt er die beiden ins Gästezimmer. Für die ist der Tag gelaufen.

    Am nächsten Morgen wacht der Otto auf, weil ihm jemand mit einem Metallrohr das Schlüsselbein einschlägt. Er dreht sich hektisch weg und landet ziemlich unsanft auf dem Bettvorleger.

    Abgesehen von den üblichen Phantomschmerzen tut ihm heute sehr reell die ganze linke Seite weh: Schädel, Schulter, Ellbogen, Rippen, Hüfte, Oberschenkel und Knie. Der mit dem Metallrohr muss seine Knochen als Xylophon benutzt haben, um einen Calypso zu spielen. An seinen kleinen Unfall in der Dusche kann der Otto sich nicht mehr erinnern.

    Hastig kuckt er sich um. Von dem Typ, der ihn angegriffen hat, ist zum Glück nichts mehr zu sehen. Bloß der Hund kuckt ihn verdutzt an.

    »He, Mopps«, stöhnt der Otto.

    Der Hund schaut aus, als wüsst er nicht, ob er sich angesprochen fühlen soll. Nach kurzem Zögern steht er auf, humpelt zum Otto rüber und schnüffelt an seinem Gesicht. Dann schleckt er ihm fürsorglich über Mund und Nase und zieht eine Schleimspur vom Kinn bis zum Ohr.

    Vielleicht hat der ja den Typ mit dem Metallrohr vertrieben? Jetzt ist es auf einmal der Otto, der den Staffie verliebt anschaut. Mit so einem tierischen Beschützer an seiner Seite kann der Otto vielleicht sogar mal auf seine pflanzlichen Beschützer verzichten.

    »Dangge, Mann«, murmelt der Otto. Dann sollt er sich wohl doch einen Namen für das Vieh überlegen.

    Er kommt auf die Füße und steht verloren im Raum. Draußen ist es noch dunkel. Der Druck auf dem Ohr, den der Otto seit gestern Morgen spürt, hat immer noch nicht nachgelassen. Fühlt sich an wie … Ozeanrauschen. Krachende, erderschütternde Wellenbrecher, die sich mit ruhiger, unaufhaltsamer Gewalt aufbauen und ihn mitnehmen. Wie Treibholz auf einer Odyssee durchs Reich der Napfschnecken und Entenmuscheln. Und das ist gar nicht so übel. Im Gegenteil: Verloren im Ozean treiben ist wie eine Rückkehr ins Ei, das macht es einem fast unmöglich, noch irgendwas anderes wahrzunehmen. Fast.

    In dem Moment fällt dem Otto nämlich auf, dass mit ihm was nicht stimmt. Irgendwas ist nicht in Ordnung, er kann nicht sagen, was. Vielleicht ist es genau das: Alles kommt ihm ziemlich vage vor. Das Rauschen im Ohr … der Schleier vor den Augen … der Wattefilter im Hirn … Das müsste eigentlich schon längst wieder weg sein, und er stolpert immer noch durch eine Parallelwelt.

    Wenigstens merkt er das von selber. Das ist schon mal ein Pluspunkt.

    Er bastelt dem Staffie ein Halsband samt passender Leine aus dem Gürtel vom Gästebademantel und führt den Hund raus auf den Flur, den Gang runter und zur Lorelei ins Zimmer. Die wird morgens um sechs von einer kalten Hand und einer nassen Schnauze aus dem Schlaf gerissen.

    »Lo«, flüstert der Otto. »Lo, bisch wach?«

    »Wasch ’n?«, fragt sie.

    Der Otto spürt instinktiv: Die ist gar nicht mehr sauer.

    Er beugt sich ganz weit zu ihr runter und flüstert: »Rambo, Rocky, Heggtor oddr Hassan?«

    »Ha?«

    Der Otto spürt instinktiv: Jetzt wird sie doch langsam wieder sauer.

    Er murmelt: »Irgngwie muss ’r ja hoißa. Oddr? Zumindesch solang ’e ’n an dr Bagge hann. On er helfd mr drfier au. Woisch. Wenn der Arsch mid dr Eisaschdang widdr aufkreuzd …«

    »Sammal, hasch du en Schbarra weg, Oddo?«, unterbricht ihn die Lorelei, grabscht nach dem Wecker und kuckt drauf. »Du fragsch me morgngs om seggse, wie des Viech zom hoißa had? Abr sonsch gahd’s dr dangge? Du hasch echd bloss no Hirnsupp em Schädl, oddr? Moinsch, du müschdesch de jetz jeda Dag zugnalla, weil de nemme schaffa kasch? Ha?«

    Sie erwartet echt eine Antwort, aber der Bursche, der vor ihrem Bett kniet, ist zur Salzsäule erstarrt. Die Lorelei spürt jetzt auch instinktiv was: Da stimmt irgendwas nicht. Sie richtet sich auf und macht die Nachttischlampe an. Der Anblick ist ganz schön erbärmlich: Vor ihr kauert ein Typ, den sie irgendwie kennt, mit zerzaustem dunkelbraunem Haar, verschleiertem Blick, baumelndem Unterkiefer und kreideweißer Haut, die auf der ganzen linken Körperseite mit blauen Flecken übersät ist. »Diary of the Dead« lässt grüßen. Oder doch die Milka-Kuh?

    »Mann, Oddo«, flüstert sie. »Wasch ’n los? Wäga dem Hond bisch doch gar ed komma, oddr? Jetz schwätz hald scho.«

    Der Otto schafft’s nicht, seinen Blick von der Lorelei ihrem Rumpf zu lösen. Hübscher Schlafanzug. Kein so ein Satinlappen, wo einem das Mädel ständig aus der Hand flutscht, sondern ein guter alter Baumwollstoff mit perfekter Haftung und miserabler Reißfestigkeit. Die Blümchen, die da draufgedruckt sind, rauschen im Takt mit dem Ozean im Otto seinem Ohr. Der Otto kriegt eine unbezähmbare Lust, die Blümchen zu pflücken. Mit dem Mund. Wie eine Gabelschwanzseekuh in der Seegraswiese.

    »He, Oddo«, flüstert eine Stimme. »Kommsch grad rondr?«

    Der Otto schüttelt im Wellenbrechertakt den Kopf.

    Wie soll er der Lorelei klarmachen, dass mit ihm was nicht stimmt, wo ihm ja selber nichts klar ist? Ein klebriger Nebel wabert in ihm und um ihn und um ihn herum und löst die Konturen von etwas auf, das der Otto kaum mehr als sich selbst wahrnimmt.

    Er stammelt: »Du, Lo, irgndebbes schdemmd ed …«

    Zu seiner großen Überraschung scheint sie das schon zu wissen.

    »Da hasch abr lang brauchd zom des merga«, schnauzt sie ihn an.

    Er findet vierundzwanzig Stunden jetzt nicht so saumäßig lang. Ein bisschen Zeit muss man seinem Kater schon geben.

    »On wondrd di des jetz uff oimal, oddr wie?«, macht die Lorelei weiter. »Da hemmr doch scho igsmal driebr gschwätzd. Erwardesch da jetz no a Midleid? I hann’s dr gsagd, her uff mid dem Scheiß, i helf dr au. Abr bloss, wenn de mr’s vrschbrichsch.«

    Der Otto nickt und macht eine bedeutende Aussage: »Vrschbrech’s dr.«

    Die Lorelei ist davon überhaupt nicht beeindruckt. Das hat er ihr nämlich bestimmt schon hundert Mal gesagt seit letztem Sommer. Und jedes Mal war das Versprechen spätestens am übernächsten Tag hinfällig, ohne dass der Otto das überhaupt irgendwie gemerkt hätt.

    »Was wedd mr?«, fragt sie deshalb spöttisch.

    Der Otto kuckt sie bloß fromm an.

    Wenn man um sechs Uhr morgens aus dem Schlaf gerissen wird, sieht man die Welt ein bisschen wie durch einen Weichzeichner. Wenn man einen Smack-Trip hinter sich hat, erst recht. Auf alle Fälle ist die Hirnleistung vom Otto und der Lorelei im Moment stark reduziert.

    Sie starren sich reglos an. Wie zwei Turnierritter, von denen keiner als Erster die Lanze senken will. Wie zwei Cowboys mit Ladehemmung vorm Saloon. Der Otto wird dabei ganz plötzlich zum Romantiker: Bloß die kleine Nachttischlampe brennt, bloß er und die Lorelei und der Staffie sind wach, draußen zwitschern die Meisen …

    »Was wedd mr?«, fragt die Lorelei noch mal.

    Der Otto denkt mal wieder nicht nach und hört sich sagen: »Ha, dich.«

    Dafür kriegt er endlich mal wieder der Lorelei ihre Zahnlücke zu sehen. Die hat sie ihm schon lang nicht mehr gezeigt. Die sieht man nämlich bloß, wenn sie lacht.

    2

    Für den Otto fängt heut die Uni an. Der studiert jetzt nämlich auch – zwangsläufig, weil er die Ausbildung hat abbrechen müssen. Seit die Dachterrasse eingestürzt ist und er sich zum zweiten Mal das Schlüsselbein gebrochen hat, ist der Otto körperlich ein bisschen eingeschränkt und mit einem GdB 20 sogar offiziell als behindert eingestuft. Aber das erwähnt man lieber nicht. Das kann gutgehen. Je nach Tagesform vom Otto aber auch nicht.

    Auf alle Fälle hat der Otto sein drittes

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