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Kap Cod
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eBook342 Seiten12 Stunden

Kap Cod

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Über dieses E-Book

Erstmals auf Deutsch: Thoreaus meisterliche Reiseerzählung

Zahlreiche Reisen führten H. D. Thoreau ab 1849 auf die Halbinsel Kap Cod in Massachusetts.Seine Aufzeichnungen zu Land und Leuten, Tieren und Pflanzen, zur Landschaft und ihrer herben Schönheit bilden die Grundlage für das posthum erschienene Buch "Kap Cod". Es legt Zeugnis ab von der immensen wirtschaftlichen Bedeutung des Walfangs, von der Abholzung der Wälder, der Gewalt des Ozeans, der Kargheit des Landes und der Ausdauer seiner Bewohner.
Erstmals erscheint eine der großartigsten Reiseerzählungen des 19. Jahrhunderts auf Deutsch. Ilija Trojanow, der das heutige Kap für dieses Buch bereiste, bereichert dieses literarische Juwel um seine persönliche Perspektive.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum25. Feb. 2014
ISBN9783701744589
Kap Cod
Autor

Henry David Thoreau

Henry David Thoreau (1817-1862) was an American writer, thinker, naturalist, and leading transcendental philosopher. Graduating from Harvard, Thoreau’s academic fortitude inspired much of his political thought and lead to him being an early and unequivocal adopter of the abolition movement. This ideology inspired his writing of Civil Disobedience and countless other works that contributed to his influence on society. Inspired by the principals of transcendental philosophy and desiring to experience spiritual awakening and enlightenment through nature, Thoreau worked hard at reforming his previous self into a man of immeasurable self-sufficiency and contentment. It was through Thoreau’s dedicated pursuit of knowledge that some of the most iconic works on transcendentalism were created.

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    Buchvorschau

    Kap Cod - Henry David Thoreau

    finden.

    Kap Cod

    Die mit * versehenen Anmerkungen stammen von H. D. Thoreau. Die durchnummerierten Kapitelendnoten hat der Herausgeber Klaus Bonn verfasst.

    I

    Das Schiffswrack

    Da ich mir einen besseren Eindruck als bisher vom Ozean verschaffen wollte, der, wie uns gesagt wird, mehr als zwei Drittel des Globus bedeckt, von dem aber ein Mensch, der ein paar Meilen entfernt im Landesinneren lebt, vielleicht nie auch nur eine Spur wahrnimmt, nicht mehr als von einer anderen Welt, besuchte ich Kap Cod im Oktober 1849, ein weiteres Mal im darauffolgenden Juni und Truro noch einmal im Juli 1855; das erste und das letzte Mal mit einem einzigen Gefährten,¹ das zweite Mal allein. Ich habe, alles in allem, etwa drei Wochen auf dem Kap verbracht; bin zweimal von Eastham nach Provincetown auf der atlantischen Seite gegangen,² einmal auch auf der Seite der Bucht, ließ vier oder fünf Meilen aus und ging auf meinem Weg ein halbes Dutzend Mal quer über das Kap; da ich aber so frisch zum Meer gekommen bin, wurde ich nur wenig gesalzen. Meine Leser dürfen daher nur so viel an Salzigkeit erwarten, wie sie die Landbrise vom Wehen über einem Meeresarm mitnimmt oder wie sie auf den Fensterscheiben und Baumrinden zwanzig Meilen landeinwärts nach Stürmen im September geschmeckt wird. Ich war es gewohnt, Ausflüge zu den Weihern im Umkreis von zehn Meilen von Concord zu machen, doch neuerdings habe ich meine Ausflüge zum Meeresstrand hin ausgedehnt.

    Ich habe nicht eingesehen, warum ich nicht genauso gut ein Buch über Kap Cod schreiben sollte wie mein Nachbar eines über »Menschliche Kultur«³. Es ist nur ein anderer Name für dieselbe Sache und wohl kaum ein sandigerer Teil davon. Was meinen Titel angeht, so nehme ich an, dass das Wort Kap vom französischen cap kommt; was vom lateinischen caput, Kopf, herrührt; was vielleicht vom Verb capere, nehmen, fassen, kommt – das ist also der Teil, mit dem wir eine Sache zu fassen bekommen: – Pack die Gelegenheit beim Schopfe. Es ist auch die sicherste Stelle, an der man eine Schlange packt. Und was Cod angeht, so wurde das direkt von »dem großen Vorrat an Kabeljau« abgeleitet, den Kapitän Bartholomew Gosnold⁴ dort 1602 gefangen hatte; jener Fisch wiederum scheint seinen Namen dem angelsächsischen Wort codde zu verdanken, »eine Kiste, in der Samen aufbewahrt werden«, sei es wegen der Form des Fisches oder der Menge an Laich, die er enthält; woher vielleicht auch codling (pomum coctile?) kommt und ›coddle‹ – Grünzeug wie Erbsen zu kochen.

    Kap Cod ist der entblößte und gebeugte Arm von Massachusetts: die Schulter befindet sich an der Buzzard’s Bay; der Ellbogen oder Musikantenknochen am Kap Mallebarre; das Handgelenk in Truro; und die sandige Faust in Provincetown – dahinter hält der Staat Wache, seinen Rücken den Green Mountains zugewandt und seinen Fuß auf den Meeresgrund gesetzt, wie ein Athlet, der seine Bucht schützt – im Boxkampf gegen nordöstliche Stürme und seinen atlantischen Gegner immer wieder aus dem Schoß der Erde hochfahrend –, stets bereit, mit der anderen Faust zuzuschlagen, die noch eine Weile seine Brust bei Kap Ann schützt.

    Beim Studieren der Karte sah ich, dass es dort einen ununterbrochenen Strandabschnitt im Osten oder an der Außenseite des Unterarms des Kaps geben musste, mehr als dreißig Meilen von der allgemeinen Küstenlinie entfernt, der einen guten Blick aufs Meer gewähren würde, dass ich aber, aufgrund einer Öffnung im Strand, welche den Zugang zum Hafen von Nauset in Orleans bildete, erst in Eastham auf ihn treffen würde, wenn ich mich ihm über Land näherte, und dass ich wahrscheinlich von dort aus geradewegs nach Race Point gehen könnte, etwa achtundzwanzig Meilen ohne Hindernis.

    Wir brachen am Dienstag, dem 9. Oktober 1849, in Concord, Massachusetts, auf. Als wir Boston erreichten, ergab es sich, dass das Dampfschiff von Provincetown, das am Vortag hätte eintreffen sollen, wegen eines heftigen Sturms noch nicht angekommen war; und als uns in den Straßen ein Flugblatt auffiel mit dem Titel »Tod! Einhundertvierzig Menschen in Cohasset ums Leben gekommen«, entschieden wir uns, den Weg nach Cohasset einzuschlagen. In den Eisenbahnwaggons trafen wir auf viele Iren, die unterwegs waren, um Leichen zu identifizieren, den Überlebenden ihr Mitgefühl auszudrücken und auch der Bestattung beizuwohnen, die am Nachmittag stattfinden sollte; – und als wir in Cohasset ankamen, schien es, als seien fast alle Passagiere zum Strand unterwegs, der etwa eine Meile entfernt war, und viele andere Personen schwärmten aus den benachbarten Gebieten herbei. Einige Hundert von ihnen strömten über Cohasset gemeinsam in jene Richtung, manche zu Fuß und andere in Fuhrwerken – unter ihnen waren einige Jäger in ihren schweren Jacken mit ihren Gewehren, Jagdtaschen und Hunden. Als wir am Friedhof vorbeikamen, sahen wir ein großes Loch, wie ein Keller, der frisch ausgehoben war, und gerade bevor wir über eine angenehm sich windende, felsige Straße das Meeresufer erreichten, begegneten wir etlichen Heuwägen und Bauernfuhrwerken, die zum Gemeindehaus fuhren, ein jeder beladen mit drei großen, groben Kisten. Wir mussten nicht fragen, was sich darin befand. Die Besitzer der Wägen waren zu Leichenbestattern gemacht worden. Viele Pferde mit ihren Fuhrwerken waren an den Zäunen in der Nähe des Meeresufers festgebunden, und eine Meile oder mehr in beide Richtungen war der Strand von Leuten bevölkert, die nach Leichen Ausschau hielten und die Bruchstücke des Wracks untersuchten. Unweit des Ufers gab es eine kleine Insel namens Brook Island, mit einer Hütte darauf. Man sagt, dies sei das felsenreichste Ufer in Massachusetts, von Nantasket bis nach Scituate – hartes orthophyrisches Gestein, das die Wellen bloßgelegt haben, aber nicht zu zerbröseln vermochten. Es ist der Schauplatz gar vieler Schiffbrüche gewesen.

    Die Brigg St. John aus Galway, Irland, befrachtet mit Emigranten, erlitt am Sonntagmorgen Schiffbruch;⁵ jetzt war es Dienstagmorgen, und die Wellen brachen sich noch immer mit Macht an den Felsen. Achtzehn oder zwanzig von jenen großen Kisten, die ich erwähnt habe, lagen an einem grünen Abhang, ein paar Ruten⁶ vom Wasser entfernt, und sie waren von einer Menschenmenge umgeben. Die Leichen, die man geborgen hatte, sieben- oder achtundzwanzig insgesamt, waren dort zusammengetragen worden. Manche Leute nagelten rasch die Deckel zu, andere karrten die Kisten weg, und wieder andere hoben die Deckel an, die noch lose waren, und lugten unter die Tücher, denn jede Leiche war, mitsamt den Fetzen, die ihr noch anhingen, lose mit einem weißen Betttuch bedeckt worden. Ich sah keinerlei Anzeichen von Betrübnis, vielmehr war die Erledigung des Geschäfts so nüchtern, dass es berührend wirken konnte. Ein Mann suchte eine bestimmte Leiche zu identifizieren, und ein Leichenbestatter oder Zimmermann rief einem anderen etwas zu, um zu erfahren, in welche Kiste ein bestimmtes Kind hineingelegt worden war. Ich sah viele marmorkalte Füße und verfilzte Köpfe, als die Tücher hochgehoben wurden, und den fahlen, aufgedunsenen und verstümmelten Körper eines ertrunkenen Mädchens – das vermutlich die Absicht gehabt hatte, in den Dienst irgendeiner amerikanischen Familie zu treten –, an dem noch ein paar Fetzen Kleidung und eine vom Fleisch halb verdeckte Kette um den geschwollenen Hals hingen; das verkrümmte Wrack eines menschlichen Rumpfs, mit tiefen Wunden von den Felsen oder den Fischen, sodass Knochen und Muskeln entblößt waren, doch recht blutleer – nur rot und weiß – mit weit geöffneten, starrenden Augen, jedoch glanzlos, Toten-Lichter; oder wie die Bullaugen eines gestrandeten Schiffs, mit Sand gefüllt. Zuweilen waren da zwei oder mehr Kinder, oder ein Elternteil und ein Kind in derselben Kiste, und auf dem Deckel stand vielleicht mit roter Kreide geschrieben: »Bridget So-und-so und Kind der Schwester«. Der Grasteppich rundherum war bedeckt mit Segel- und Kleidungsstücken. Ich habe danach von jemandem, der in der Nähe dieses Strandes lebt, gehört, dass eine Frau, die früher schon herübergekommen war, ihr kleines Kind aber bei ihrer Schwester zurückgelassen hatte, damit sie es bringe, hierherging, in diese Kisten schaute und in einer – vermutlich derjenigen, deren Aufschrift ich zitiert habe – ihr Kind in den Armen der Schwester sah, als ob die Schwester so vorgefunden hätte werden wollen; und binnen drei Tagen starb die Mutter an den Nachwirkungen jenes Anblicks.

    Wir wandten uns ab und gingen die steinige Küste entlang. In der ersten Bucht waren dem Anschein nach die Bruchstücke eines Schiffes verstreut, in kleinen Teilen, vermischt mit Sand und Seetang wie auch mit großen Mengen an Federn; doch sah dies so alt und rostig aus, dass ich es zuerst für irgendein altes Wrack hielt, das dort viele Jahre lang gelegen hatte. Ich dachte sogar an Kapitän Kidd⁷ und daran, dass die Federn von Seevögeln dort verloren worden waren; und vielleicht könnte es eine Überlieferung dazu in der Nachbarschaft geben. Ich fragte einen Seemann, ob das die St. John wäre. Er bestätigte es. Ich fragte ihn, wo sie auf Grund gelaufen sei. Er wies auf einen vor uns befindlichen Felsen, eine Meile vom Meeresufer entfernt, Grampus- Felsen geheißen, und fügte hinzu:

    »Sie können einen Teil von ihr jetzt herausragen sehen; er sieht aus wie ein kleines Boot.«

    Ich erblickte es. Man nahm an, dass es von den Ankerketten und Ankern gehalten wurde. Ich fragte, ob die Körper, die ich sah, alle gewesen seien, die ertrunken waren.

    »Nicht ein Viertel von ihnen«, sagte er.

    »Wo ist der Rest?«

    »Die meisten genau unterhalb jenes Stücks, das Sie sehen.«

    Es schien uns, dass allein in dieser Bucht genug Schutt lag, um das Wrack eines großen Schiffes auszumachen, und dass es viele Tage dauern würde, alles fortzukarren. Das Gerümpel lag etliche Fuß hoch, und hier und da war eine Mütze oder Jacke obenauf. Mitten in der Menge, die um das Wrack stand, gab es Männer mit Karren, die geschäftig jenen Seetang sammelten, den der Sturm aufgeworfen hatte, und ihn fortschafften, jenseits der Flutlinie, wenngleich sie oftmals Kleidungsfetzen herauslösen mussten und jeden Moment eine Leiche darunter hätten finden können. Ertrinke wer da wolle, sie vergaßen nicht, dass dieser Tang ein wertvoller Dünger war. Dieser Schiffbruch hatte keine sichtbare Erschütterung im Gefüge der Gesellschaft hervorgerufen.

    Etwa eine Meile südlich konnten wir die Masten der britischen Brigg über die Felsen ragen sehen, der die St. John zu folgen bestrebt gewesen war. Sie hatte ihre Ankertaue heruntergelassen und war, mit viel Glück, in die Hafenmündung von Cohasset eingelaufen. Ein wenig weiter die Küste entlang sahen wir die Kleidung eines Mannes auf einem Felsen; und weiter weg einen Frauenschal, ein Damenkleid, eine Strohmütze, die Kombüse der Brigg und einen ihrer hohen und langen Masten in einzelne Teile zerlegt. In einer anderen steinigen Bucht, einige Ruten entfernt vom Wasser und hinter zwanzig Fuß hohen Felsen, lag ein noch immer zusammenhängendes Stück einer Schiffsseite. Es hatte vielleicht eine Länge von vierzig und eine Breite von vierzehn Fuß. Ich staunte noch mehr über die Macht der Wogen, die an diesem zertrümmerten Fragment zur Schau gestellt wurde, als beim Anblick der kleineren Teile zuvor. Die größten Balken und eisernen Brassen hatte eine überschießende Kraft zerborsten, und ich verstand, dass kein Material der Macht der Wogen zu widerstehen vermochte; dass Eisen in solch einem Fall in Stücke gehen musste und ein eisernes Schiff an den Felsen aufbrechen würde wie eine Eierschale. Einige dieser Balken waren jedoch so morsch, dass ich fast meinen Schirm durch sie hindurchstoßen konnte. Man erzählte uns, dass einige Leute sich auf diesem Stück retten konnten, und zeigte uns auch, wo das Meer es in diese jetzt trockene Bucht hineingehoben hatte. Als ich sah, wo es hereingekommen war und in welcher Verfassung, wunderte ich mich, dass überhaupt jemand darauf gerettet worden war. Etwas weiter entfernt war eine Menschenmenge um den Offizier der St. John versammelt, der dabei war, seine Geschichte zu erzählen. Er war ein schmächtig aussehender junger Mann, der vom Kapitän als dem Meister sprach, und er schien ein wenig aufgeregt. Er sagte, dass das Boot, als sie hineinsprangen, vollgelaufen sei, und da das Schiff schlingerte, das Gewicht des Wassers im Boot die Fangleine zum Reißen gebracht habe und sie derart getrennt worden seien. Woraufhin ein Mann fortging und sagte:

    »Nun, ich finde, seine Geschichte klingt rechtschaffen. Sie verstehen, das Gewicht des Wassers im Boot hat die Fangleine zum Reißen gebracht. Ein Boot voller Wasser ist sehr schwer« – und so weiter, in einem lauten und unverschämt ernsthaften Ton, als ob er eine Wette am Laufen hätte, die davon abhing, aber keinerlei menschliches Interesse an der Sache.

    Ein anderer, großer Mann stand unweit auf einem Felsen, schaute aufs Meer hinaus und kaute große Stücke Kautabaks, als wäre dies seine hartnäckigste Gewohnheit.

    »Komm«, sagte ein anderer zu seinem Gefährten, »lass uns gehen. Wir haben alles gesehen. Es lohnt nicht, bis zum Begräbnis zu bleiben.«

    Weiter entfernt sahen wir einen auf einem Felsen stehen, einen, wie man uns sagte, von denen, die gerettet wurden. Der Mann machte einen schlichten Eindruck, gekleidet in eine Jacke und ein graues Beinkleid, die Hände in den Taschen. Ich stellte ihm einige Fragen, die er beantwortete; doch schien er nicht geneigt, über die Sache zu sprechen, und ging bald fort. An seiner Seite stand einer der Männer vom Rettungsboot in einer Wachstuchjacke; er erzählte uns, wie sie sich zur Unterstützung der britischen Brigg aufgemacht und gedacht hatten, dass das Boot der St. John, das sie auf dem Weg passierten, ihre ganze Besatzung enthielt –, denn die Wellen verstellten ihnen die Sicht auf jene, die sich auf dem Schiff befanden, wenngleich sie manche hätten retten können, wenn sie nur gewusst hätten, dass dort noch Leute waren. Etwas weiter entfernt war die Flagge der St. John auf einem Felsen zum Trocknen ausgebreitet und an den Ecken mit Steinen beschwert. Dieser schwächliche, aber wesentliche und bedeutende Teil des Schiffes, der so lange dem Spiel der Winde ausgeliefert gewesen war, erreichte selbstverständlich die Küste. Ein oder zwei Häuser waren von diesen Felsen aus zu sehen, in denen einige der Überlebenden sich von dem Schock erholten, den ihre Körper und Seelen erlitten hatten. Keiner hatte damit gerechnet zu überleben.

    Wir gingen weiter die Küste entlang bis zu einem Whitehead genannten Felssporn, damit wir mehr von den Cohasset-Felsen sehen könnten. In einer kleinen, knapp eine halbe Meile entfernt gelegenen Bucht waren ein alter Mann und sein Sohn mit einigen anderen dabei, den Seetang einzusammeln, welchen der fatale Sturm aufgeworfen hatte; sie gingen ihrem Geschäft so ruhig nach, als ob es niemals auf der Welt ein Wrack gegeben hätte, obwohl sie sich in Sichtweite des Grampus-Felsen befanden, an dem die St. John zerschellt war. Der alte Mann hatte gehört, dass es einen Schiffbruch gegeben habe, und er kannte die meisten Einzelheiten, aber er sagte, er sei nicht da oben gewesen, seit es passiert war. Der angeschwemmte Tang war es, der ihn am meisten beschäftigte, Felstang, Riementang und Seetang, wie er ihn nannte, den er zum Hof seiner Scheune karrte; und jene Leichen waren für ihn bloß andere Sorten Tang, welche die Flut aufgeworfen hatte, die aber für ihn keinen Nutzen hatten. Danach gelangten wir zu dem Rettungsboot im Hafen, das auf einen weiteren Notruf wartete – und am Nachmittag sahen wir in einiger Ferne den Trauerzug, an dessen Spitze der Kapitän mit den anderen Überlebenden ging.

    Insgesamt war die Szene nicht so beeindruckend, wie ich es erwartet hätte. Wenn ich eine einzelne, an den Strand geschwemmte Leiche an einem einsamen Ort gefunden hätte, würde mich das stärker bewegt haben. Ich fühlte mehr mit den Winden und Wogen, als ob das Hin- und Herschleudern und Verstümmeln dieser armen menschlichen Körper an der Tagesordnung wäre. Wenn dies das Gesetz der Natur war, warum sollte man dann die Zeit mit Ehrfurcht und Mitleid verschwenden? Wenn der letzte Tag gekommen wäre, sollten wir nicht so sehr über die Trennung von Freunden oder die zunichte gemachten Erwartungen des Einzelnen nachdenken. Ich sah, dass Kadaver vervielfacht werden können wie auf einem Schlachtfeld, bis sie uns in keiner Weise mehr als Ausnahmen des allgemeinen Schicksals der Menschheit berühren. Nehmt alle Friedhöfe zusammen, sie bilden stets die Mehrheit. Es ist das Einzelne und das Persönliche, das nach unserem Mitgefühl verlangt. Ein Mensch vermag lediglich einer Bestattung beizuwohnen im Laufe seines Lebens, er kann lediglich einen Kadaver betrachten. Und doch sah ich, dass die Bewohner der Küste nicht wenig betroffen waren von diesem Ereignis. Sie würden hier viele Tage und Nächte darauf warten, dass das Meer seine Toten hergeben würde, und ihre Vorstellungen und ihr Mitgefühl würden an die Stelle der weit entfernten Trauernden treten, die bisher noch nichts von dem Wrack wussten. Viele Tage darauf wurde von jemandem, der am Strand entlangschlenderte, etwas Weißes gesichtet, das auf dem Wasser trieb. Man näherte sich in einem Boot, und es stellte sich als die Leiche einer Frau heraus, die in aufrechter Haltung hochgestiegen war und deren weiße Mütze vom Wind zurückgeweht wurde. Ich sah, dass selbst die Schönheit der Küste für manch einsamen Wanderer zerstört war, solange, bis er endlich begriff, dass ihre Schönheit durch Wracks wie dieses erhöht wurde und ihr dies sogar eine seltenere und erhabenere Schönheit verlieh.

    Wozu sich um diese toten Körper scheren? Sie haben wahrlich keine Freunde außer den Würmern und Fischen. Ihre Besitzer waren zur Neuen Welt gekommen wie Kolumbus und die Pilger – sie waren eine Meile von der Küste entfernt; doch bevor sie sie erreichen konnten, wanderten sie in eine Welt, die noch neuer war als jene, von der Kolumbus geträumt hatte, allerdings eine, für deren Existenz wir glauben, dass es weit universellere und überzeugendere Beweise gibt – wenn sie von der Wissenschaft auch noch nicht entdeckt worden sind – als die, die Kolumbus für jene hatte; nicht bloß Seemannsgeschichten und ein wenig dürftiges Treibholz und Seetang, uns treibt ein beständiger Instinkt an diese unsere Küsten. Ich sah die leeren Rümpfe, die an Land kamen; aber sie selbst hatte es in der Zwischenzeit an eine Küste viel weiter im Westen geworfen, an die es uns alle zieht und die wir letzten Endes erreichen werden, sei es auch durch Sturm und Finsternis wie jene. Kein Zweifel, wir haben allen Grund, Gott zu danken, dass sie der »Schiffbruch nicht wieder zurück ins Leben trieb«. Der Seemann, der im sichersten Hafen im Himmel anlegt, mag nach Ansicht seiner Freunde auf Erden Schiffbruch erlitten haben, da sie den Hafen von Boston als den besseren Ort erachten; wenn auch vielleicht für sie unsichtbar, begegnet ihm ein geschickter Lotse, und die schönsten und mildesten Winde blasen von jener Küste her, es geht sein braves Schiff an Land in glücklichen Tagen, und er küsst verzückt das Meeresufer dort, während sein alter Rumpf in der Brandung hier emporgeworfen wird. Es ist schwer, sich von seinem Körper zu trennen, aber zweifelsohne ist es leicht genug, ohne ihn zurechtzukommen, wenn er einmal fort ist. All ihre Pläne und Hoffnungen zerplatzen wie eine Blase! Kinder wurden in Massen durch den erzürnten Atlantischen Ozean an den Felsen zerschmettert! Nein, nein! Wenn die St. John nicht hier anlegen konnte, dann wurde ihr von dort telegrafiert. Der stärkste Wind vermag einen Geist nicht ins Wanken zu bringen; es ist der Hauch eines Geistes. Die Bestimmung eines gerechten Mannes kann an keinem Grampus- oder anderen steinernen Felsen zerschellen, vielmehr wird sie selbst Felsen spalten, bis sie ihr Ziel erreicht.

    Die an den im Sterben liegenden Kolumbus gerichteten Verse mögen, mit geringfügigen Änderungen, auf die Passagiere der St. John angewendet werden: –

    »Alsbald wird alles aus sein mit ihnen,

    Alsbald wird die Reise anheben,

    Auf der sie entdecken werden

    Ein weit entferntes, unbekanntes Land.

    Land, das jeder nur allein aufsuchen kann,

    Das keine Kunde gibt den Menschen;

    Denn kein Seefahrer, der einst aufgebrochen,

    Ist je zurückgekehrt.

    Kein geschnitztes Holz und kein geknickter Zweig

    Treibt je aus dieser fernen Wildnis her;

    Wer sich auf jenes Meer begibt,

    Begegnet nicht dem Leichnam eines Engelskinds.

    Unverzagt, ihr edlen Seeleut’,

    Breitet, breitet alsdann euer Segel aus;

    Geister! Selig durch den blauen Äther

    Sollt ihr bald gleiten dahin!

    Wo kein Lot die Tiefe ausmisst,

    Fürchtet nicht verborgene Brandungswellen,

    Und der fächelnde Engelsflügel

    Soll eure Barke grad’ nach vorne treiben.

    Lasst nun, mutig und getröstet,

    Die rauen Küsten hier, die der Erde sind;

    Da, wo die rosigen Wolken sich öffnen,

    Tauchen schon die Inseln der Glückseligen auf.«

    Zu einem späteren Zeitpunkt ging ich an einem Sommertag zu Fuß von Boston aus auf diesem Weg entlang der Küste. Es war so warm, dass manche Pferde wegen der Brise ganz nach oben auf die Schutzwälle der alten Festung von Hull geklettert waren, wo es kaum Platz gab, sich umzudrehen. Die Datura stramonium, der Gemeine Stechapfel, stand in voller Blüte entlang des Strandes; und beim Anblick dieses Kosmopoliten – dieses Kapitän Cook⁹ unter den Pflanzen –, der als Ballast über die ganze Welt verbreitet wurde, hatte ich das Gefühl, als ob ich mich auf der Landstraße der Nationen befände. Sagen wir lieber, dieser Wikinger, König der Buchten, denn es ist keine unschädliche Pflanze; sie verweist nicht nur auf den Handel, sondern auf die dazugehörenden Laster, als ob seine Fasern der Stoff wären, aus dem Piraten ihr Seemannsgarn spinnen. Ich hörte die Stimmen von Männern, die an Bord eines Schiffes herumschrien, eine halbe Meile von der Küste entfernt; sie klangen, als wären sie in einer Scheune auf dem Land, befanden sie sich doch zwischen den Segeln. Es war ein rein ländlicher Klang. Als ich über das Wasser blickte, sah ich die Inseln rasch dahinschwinden, sah, wie das Meer unersättlich am Kontinent nagte, wie der vorspringende Bogen eines Hügels plötzlich unterbrochen wurde, ähnlich der Landspitze von Alderton¹⁰ – was Botaniker wie abgebissen nennen mögen –, und die Kurve, die er gegen den Himmel zeichnete, zeigte, wie viel Raum er eingenommen haben musste, dort, wo jetzt nur noch Wasser war. Andererseits waren diese Insel-Wracks fantasiereich zu neuen Küsten angeordnet worden, wie bei der Insel Hog mitten in Hull, wo alles sanft in die Zukunft zu entgleiten schien. Diese Insel hatte genau die Form einer kleinen Welle – und ich dachte, dass die Bewohner als Wappen auf ihren Schildern eine kleine Welle tragen sollten, eine Woge, die sie überkommt, und eine auf dem Wellenkamm sprießende Datura, von der es heißt, sie rufe eine Geisteskrankheit von langer Dauer hervor, ohne die körperliche Gesundheit zu beeinträchtigen.* Das Interessanteste, wovon ich in dieser Gemeinde von Hull hörte, war eine unversiegbare Quelle, auf deren Ursprung am Hang eines entfernten Hügels ich hingewiesen wurde, als ich die Küste entlangkeuchte, wenngleich ich ihn nicht aufsuchte. Sollte ich einmal durch Rom gehen, so wäre es vielleicht eine Quelle auf dem Hügel des Kapitols, an die ich mich am längsten erinnern würde. Es ist auch wahr, dass ich recht interessiert war an dem Brunnen an der alten französischen Festung, von dem es hieß, er sei neunzig Fuß tief, mit einer Kanone auf seinem Grund. Am Strand von Nantasket zählte ich ein Dutzend Einspänner, die zum Gasthaus gehörten. Von Zeit zu Zeit wendeten die Kutscher ihre Pferde zum Meer hin, wo sie der Kühlung wegen im Wasser standen – und ich sah, welchen Wert Strände für Städte wegen der Meeresbrise und dem Bad hatten.

    In der Ortschaft Jerusalem waren die Bewohner vor dem Herannahen eines Gewitterregens eifrig damit beschäftigt, das Irische Moos aufzusammeln, das sie zum Trocknen ausgebreitet hatten. Der Schauer zog auf einer Seite vorüber, und ich bekam nur ein paar Tropfen ab, die die Luft nicht abkühlten. Ich fühlte lediglich einen leichten Windstoß an meiner Wange, und doch kenterte in Sichtweite ein Schiff im Hafen, und einige andere zerrten an ihren Ankern und waren knapp davor, an die Küste gespült zu werden. Das Baden im Meer an den Felsen von Cohasset war vorzüglich. Das Wasser war reiner und durchsichtiger als jedes andere, das ich bislang gesehen hatte. Es gab keinerlei Teilchen von Matsch oder Schlamm. Da der Grund sandig war, konnte ich den Amerikanischen Flussbarsch herumschwimmen sehen. Die glatten, wunderbar ausgewaschenen Felsen und die vollkommen sauberen und wie geflochtenen Felsgräser, die über meinem Kopf auf einen herabfielen und so fest am Fels hafteten, dass man sich an ihnen hochziehen konnte, erhöhten das Wohlgefühl des Bades ungemein. Der Streifen von Seepocken¹¹, die genau oberhalb der Gräser lagen, erinnerte mich an eine Art pflanzlichen Bewuchs – an Knospen und Blütenblätter und Samenkapseln von Blumen. Sie lagen entlang der Gesteinsspalten der Felsen wie Knöpfe auf einer Weste. Es war einer der heißesten Tage des Jahres, und doch empfand ich das Wasser als so eisig kalt, dass ich nur einen oder zwei Schwimmstöße machen konnte, und ich dachte, dass bei einem Schiffbruch die Gefahr, durch Kälte zu Tode zu kommen, größer wäre als die des Ertrinkens. Ein Tauchbad reichte aus, um die Hundstage voll und ganz vergessen zu machen. Auch wenn man vorher verschmachtete, bedurfte es jetzt einer halben Stunde, um sich daran zu erinnern, dass es jemals warm gewesen war. Da waren die gelbbraunen Felsen, gleich schlafenden Löwen, die dem Ozean trotzten, dessen Wogen unablässig gegen sie schlugen und sie mit gehörigen Mengen Kies abschabten. Das in ihren kleinen Höhlungen beim Zurückweichen der Flut aufgefangene Wasser war so kristallklar, dass ich es nicht für salzig halten konnte, aber danach verlangte, es zu trinken; und weiter oben gab es Bodensenken mit frischem Wasser, das der Regen hinterlassen hatte – welche allesamt, auch bei unterschiedlicher Tiefe und Temperatur, zu verschiedenen Arten von Bädern einluden. Überdies formten die größeren Höhlungen in den geglätteten Felsen die angenehmsten Sitzplätze und Umkleideräume. In dieser Hinsicht war es das vollkommenste Meeresufer, das ich je gesehen hatte.

    In Cohasset sah ich, lediglich durch einen schmalen Strand vom Meer getrennt, einen schönen, aber flachen See von etwa vierhundert Morgen. Wie mir gesagt wurde, hatte das Meer ihn bei einem heftigen Sturm im Frühling über den Strand geschleudert, und nachdem die Großaugenheringe hineingeschwommen waren, hatte sich seine Abflussöffnung verstopft, und jetzt starben die Großaugenheringe zu Tausenden, und die Bewohner befürchteten eine Seuche, da das

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