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Romane und Novellen 8: Die vier Teufel - Leben und Tod - Die Raben - Seltsame Erzählungen
Romane und Novellen 8: Die vier Teufel - Leben und Tod - Die Raben - Seltsame Erzählungen
Romane und Novellen 8: Die vier Teufel - Leben und Tod - Die Raben - Seltsame Erzählungen
eBook489 Seiten5 Stunden

Romane und Novellen 8: Die vier Teufel - Leben und Tod - Die Raben - Seltsame Erzählungen

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Über dieses E-Book

Die Werke Herman Bangs (1857-1912) gehören zu den bedeutendsten der dänischen Literatur, teils wegen ihres tiefen Einblicks in die menschliche Seele, teils wegen ihres impressionistischen, filmischen Stils, der die Prosa seiner Zeit veränderte und noch immer die Literatur der Neuzeit prägt. Die auf zehn Bände angelegte Neuübersetzung der Romane und Novellen fußt auf der großen historisch-kritischen Gesamtausgabe der „Danske Sprog - og Litteraturselskab“, Kopenhagen 2008–2010.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum5. Apr. 2013
ISBN9783848295784
Romane und Novellen 8: Die vier Teufel - Leben und Tod - Die Raben - Seltsame Erzählungen
Autor

Herman Bang

Herman Joachim Bang (* 20. April 1857 in Asserballe auf der Insel Alsen; † 29. Januar 1912 in Ogden, Utah) war ein dänischer Schriftsteller und Journalist. (Wikipedia)

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    Buchvorschau

    Romane und Novellen 8 - Herman Bang

    gedankt.

    Les quatre diables

    Les quatre diables

    I

    Die Glocke des Regisseurs schellte. Langsam nahm das Publikum Platz, während das Trampeln auf der Empore, die Unterhaltung im Parkett, das die Musik übertönende Rufen der Apfelsinenjungen – und schließlich auch die trägen Leute in den Logen zur Ruhe kamen und warteten.

    Es war die Nummer: Les quatre diables. Man konnte es an dem ausgespannten Netz erkennen.

    Fritz und Adolphe eilten durch den Artistengang aus der Ankleide; rufend – die grauen Überwürfe klatschten um ihre Beine – liefen sie durch den Gang und klopften bei Aimée und Louise an.

    Die beiden Schwestern warteten, fiebrig sie auch, in den weißen langen Seidenmänteln, die sie ganz verhüllten – während die Garderobiere, den Kapothut¹ schief, unablässig mit schriller Stimme rief und verwirrt mit Puder, Armschminke und zerriebenem Harz für die Hände umherlief.

    „Kommt! rief Adolphe: „Es ist Zeit!

    Aber alle liefen noch einen Augenblick weiter durcheinander, ziellos, vom Fieber ergriffen, das alle Artisten ergreift, wenn sie das Trikot an ihrem Leibe verspüren.

    Die Garderobiere schrie am lautesten.

    Nur Aimée streckte ruhig die Arme aus den langen Ärmeln, zu Fritz hin. Und hastig, ohne sie anzusehen und ohne etwas zu sagen, führte er mechanisch eine Puderquaste die gestreckten Arme hinauf und herunter – wie üblich.

    „Kommt!" rief Adolphe wieder.

    Sie gingen alle hinaus, einander an der Hand haltend, und warteten. Sie stellte sich am Eingang auf, und sie hörten von drinnen die ersten Strophen des „Liebeswalzers"², der ihre Arbeit begleitete.

    Fritz und Adolf warfen ihre Überwürfe auf den Boden, so daß ihre rosa Kleidung aufleuchtete, ein Rosa so blaß, daß es fast weiß war. Wie nackt – jeder Muskel war zu erkennen – wirkten ihre Körper.

    Die Musik spielte weiter.

    Im Stall war es ganz leer und ruhig. Ein paar Pferdeknechte hatten, ohne gestört zu werden, die Gewehre³ zur Untersuchung herabgenommen und hielten mißtrauisch das viele, schwere Kupfer hoch.

    Die Eingangsstrophe erklang: „Die Vier Teufel" betraten die Manege. Sie hörten den Beifall als ein undeutliches Brausen, und sie konnten keine Gesichter unterscheiden. Es war, als ob vor Anspannung alle Fasern in ihrem Körper bereits vibrierten.

    Dann lösten Adolphe und Fritz rasch Louises und Aimées weiße Mäntel, die in den Sand fielen, und die Schwestern standen dort unter dem Geglotze Hunderter Operngläser nackt in ihren schwarzen Trikots – wie zwei Negerinnen mit weißen Gesichtern.

    Sie schwangen sich alle ins Netz hinauf, und sie kletterten hoch, einmal weiß, einmal schwarz, einmal weiß, einmal schwarz, wie vier hitzige Tiere, während ihnen alle Operngläser folgten.

    Sie erreichten die Trapeze, und sie begannen zu arbeiten. Nackt schienen sie durch die rasselnden Schaukeln zu fliegen, deren Messingstangen leuchteten. Sie umfaßten einander, sie fingen einander auf, sie spornten einander durch Rufe an; es war, als ob die weißen und schwarzen Körper liebevoll zusammengebunden und wieder gelöst würden, zusammengebunden und gelöst in schneidender Nacktheit. Dazu erklang der Liebeswalzer mit seinem schläfrig schmachtenden Rhythmus, und das Haar der Frauen, wenn sie durch die Luft flogen, fiel aufgelöst flatternd um die schwarze Entblößung – wie ein Mantel aus Atlas.

    Sie hielten nicht inne. Nun arbeiteten sie übereinander, Adolphe und Louise ganz oben.

    Zu ihnen hinauf erklang der Beifall wie ein verwirrendes Murmeln, während die Artisten in ihrer Loge (wo die Garderobiere immer noch ganz vorne war, heiß, immer noch mit dem schiefen, rosenbesetzten Kapothut, mit den bloßen Händen klatschend) „den Teufeln" mit Operngläsern folgten, die Raffinessen ihrer Kleidung studierend, deren Verwegenheit in der Artistenwelt berühmt war:

    „Oui, oui, ihre Hüften sind nackt …"

    „Der Trick ist, daß man die Lenden sieht", riefen sie in der Artistenloge durcheinander.

    Die umtriebige Vorreiterin im „Ritterspiel aus dem 16. Jahrhundert"⁴, Mlle. Rosa, legte das Opernglas zögernd von sich.

    „Nein, sie trägt kein Korsett", sagte sie, schwitzend in ihrem eigenen beschwerlichen Panzer.

    Sie arbeiteten weiter. Das elektrische Licht wechselte von Blau nach Gelb, während sie durch die Luft sausten. Fritz schrie auf: An den Beinen hängend fing er Aimée mit seinen Armen.

    Dann ruhten sie sich aus, im selben Trapez sitzend, nebeneinander.

    Über sich hörten sie die Rufe von Louise und Adolphe. Aimée sprach mit keuchender Brust über Louises Arbeit:

    „ Voyez donc, voyez!"⁵ rief sie.

    Louise wurde von Adolphes Beinen aufgefangen.

    Aber Fritz antwortete ihr nicht. Er starrte nur, während er mechanisch weiter seine Hände an dem kleinen aufgehängten Tuch abtrocknete, auf die Manegenabgrenzung hinab, die sich hell und unruhig unter ihnen wie der hellfarbene Rand eines bewegten Beetes erstreckte. Und plötzlich schwieg auch Aimée, in dieselbe Richtung wie er starrend, bis Fritz sagte, als risse er sich los:

    „Die Reihe ist an uns!", und sie erwachte gleichsam mit einem Ruck.

    Sie trockneten sich wieder ihre Hände mit dem Tuch ab, und sie warfen sich hinab, so daß sie an den Armen hingen, wie um die Kraft ihrer Muskeln zu prüfen. Dann setzten sie sich wieder hoch. Leben war in ihren Augen, mit denen sie den Abstand der Trapeze maßen.

    Auf einmal schrieen sie beide:

    „Du courage!"

    Und Fritz flog nach vorne, rücklings gegen das am weitesten entfernte Trapez, während Louise und Adolphe von oben einen lang anhaltenden Schrei ausstießen, als wollten sie ein Tier aufscheuchen.

    Ihre große Nummer begann. Sie stießen sich rücklings ab unter heiseren Rufen, flogen aneinander vorbei, kamen an. Sie wiederholten es und schrieen aufs neue. Und von oben, von der Rotunde⁷, fiel, während Louise und Adolphe wie zwei sich unhaltbar drehende Räder in ihren Schaukeln dahinflogen, plötzlich ein Regen glitzernden Goldes wie eine goldene Staubwolke, die leuchtend und langsam niederschwebte, – durch den gleißenden Strom des Weißes der elektrischen Lampen.

    Einen Augenblick sah es aus, als ob die Teufel durch einen leuchtenden Schwarm von Gold flögen, während der goldene Staub, der langsam herabrieselte, ihre Nacktheit mit Tausenden Goldflittern, die erstrahlten, bedeckte.

    Und mit einem Mal stießen sie, einer nach dem anderen, mit dem Kopf nach unten, durch den glitzernden Regen, in das ausgespannte Netz – und die Musik verstummte.

    Sie mußten vor und immer wieder vor.

    Benommen stützten sie sich auf einander, als würde ihnen auf einmal schwindlig. Sie gingen hinaus und kamen wieder herein. Nun versiegte der Beifall.

    Stöhnend liefen sie in die Garderoben, und Adolphe und Fritz warfen sich auf eine Matratze am Boden, der Länge nach, in eine Decke gehüllt. Dort lagen sie eine Weile, sie spürten kaum etwas. Dann standen sie auf und zogen sich um.

    Adolphe blickte von seinem Spiegel zu Fritz, der Stallmeisterkleidung trug:

    „Willst du ‚Dienst‘ machen?" fragte er.

    Und Fritz sagte mürrisch:

    „Der Direktor hat mich darum gebeten." Er ging zu den anderen hinein, die am Eingang Stallmeisterwache hielten, und die, todmüde wie er, sich heimlich abwechselten, um einen Augenblick lang die entkräfteten Körper an die Wände zu lehnen.

    Nach der Vorstellung versammelte sich die Truppe im Restaurant⁸. „Die Teufel" saßen am selben Tisch, schweigsam wie die anderen. An einigen Tischen begann man Karten zu spielen – immer noch, ohne ein Wort zu sagen. Man hörte nur das Rascheln des Geldes, das über den Tisch geschoben wurde.

    Die beiden Kellner warteten vor dem Buffet, träge auf all die schweigsamen Leute starrend. Lustlos, die Beine weit von sich gestreckt und die Arme schlaff herabhängend, als wären sie aus Blei, blieben die Artisten längs der Wand sitzen.

    Die Kellner begannen, das Gas herabzudrehen.

    Adolphe schob das Geld neben einen der Bierkrüge und erhob sich.

    „Kommt! sagte er. „Wir müssen gehen.

    Und die anderen drei folgten.

    Die Straßen waren schon ganz leer. Sie hörten keinen anderen Laut als den ihrer eigenen Schritte, während sie zu zweit nebeneinander gingen, genauso wie sie arbeiteten. Sie erreichten ihr Haus⁹, und sie trennten sich im ersten Stock auf dem dunklen Gang mit einem leisen „Gute Nacht!"

    Aimée blieb auf dem Treppenabsatz im Dunkeln stehen, bis Fritz und Adolphe im zweiten Stock angelangt waren und ihre Tür sich geschlossen hatte.

    Die beiden Schwestern gingen hinein und begannen sich wortlos auszuziehen. Aber als sie im Bett war, begann Louise über die Arbeit der anderen zu plaudern, wer in den Logen gewesen war, über die Stammgäste: Sie kannte alle Gesichter …

    Aimée saß immer noch auf der Kante ihres Betts, halb angezogen, ohne sich zu rühren. Louises Geplaudere versiegte nach und nach. Schließlich fiel sie in Schlaf.

    Aber kurz darauf erwachte sie wieder und setzte sich im Bett auf. Aimée saß immer noch auf demselben Fleck.

    „Willst du nicht ins Bett?" fragte Louise.

    Aimée löschte hastig das Licht.

    „Doch jetzt", sagte sie und stand auf.

    Aber im Bett schlief sie nicht. Sie dachte nur an das eine: daß Fritz’ und ihre Augen sich nie mehr träfen, wenn er ihre Arme puderte …

    … Oben hatten sich Fritz und Adolphe zur Ruhe begeben. Aber Fritz warf sich voller Pein im Bett umher:

    War er es, und was war es, was sie wollte, sie, die Frau aus der Loge? Wollte sie? Aber warum blickte sie ihn sonst an und das immer? Warum streifte sie ihn sonst und so dicht? War es er?

    Er konnte an nichts anderes als an diese Frau denken. An nichts anderes von früh bis spät. Nur an sie. Er kreiste um diese eine Frage wie ein Tier in seinem Käfig: Ob sie wirklich wollte – diese Frau in der Loge?

    Und beständig roch er den Duft ihrer Kleider, wenn sie herabkam und an ihm vorbeiging.

    Immer dicht an ihm vorbei, wenn er als Stallmeister arbeitete.

    Aber war er es? Und was war es, was sie wollte?

    Er wälzte sich weiter gequält hin und her, und er sagte es Mal aufs Mal ins Dunkel hinein, als ob ihn das Wort fesselte:

    „Femme du monde"¹⁰; immer wieder, ganz leise.

    Und er begann, sich alle seine Fragen erneut zu stellen: ob er es sei, ob er es sei?

    … Aimée war wieder aufgestanden. Ganz leise schlich sie durch das Zimmer. Im Dunkel tasteten ihre Finger nach dem Rosenkranz in der Schublade, und sie fand ihn …

    Im Haus war es ganz still.

    Anmerkungen

    1. Kapothut: Kleiner, haubenförmiger Hut, der mit zwei Bändern unter dem Kinn festgebunden wurde.

    2. Liebeswalzer: Nicht identifiziert. Der Text lautet: „Amour, amour,/oh, bel oiseau,/chante, chante,/chante toujours. (franz. „Liebe, Liebe,/oh, schöner Vogel,/singt, singt/singt immer.). Wahrscheinlich stammt der Text von Bang; er könnte inspiriert sein von „Habarena aus dem 1. Akt der Georges-Bizet-Oper „Carmen, 1875, deren einleitender Text lautet: „L’amour est un oiseau rebelle/ que nul ne peut apprivoiser."

    3. Gewehre: Schreckschußwaffen wurden in den Pantomimen verwendet, vielleicht auch bei den Auftritten mit wilden Tieren, wo man sie verwendete, entweder um zu zeigen, daß die Tiere keine Angst vor den Schüssen hatten oder um sie zu disziplinieren.

    4. „Ritterspiel aus dem 16. Jahrhundert": Die Zirkusvorstellungen bestanden meistens aus zwei Teilen. Der erste Teil enthielt verschiedene Artistennummern, der zweite Teil konnte eine Pantomime (Darstellung einer Szene, Handlung nur mit Gebärden, Mienenspiel und Tanz) mit einer dramatischen Handlung sein. Oft handelte es sich um historische Begebenheiten (z. B. Schlachten), märchenhafte oder exotische Tableaus (wirkungsvoll gruppierte Bilder).

    5. „Voyez donc, voyez!: „Seht doch, seht!

    6. „Du courage!: „Mut!.

    7. Rotunde: Rundbau, runder Platz. Hier Bezeichnung für die kreisförmige Decke, an der die Requisiten der Luftartisten befestigt wurden. Zirkusvorstellungen wurden oft in festen (gemauerten) Gebäuden durchgeführt; Holzbauten waren nach der Brandkatastrophe im Wiener Ringtheater 1881 verboten worden. Große Zirkuszelte gab es um 1890 noch nicht.

    8. Restaurant: Die festen Zirkusgebäude (wie z.B. der Zirkus in Kopenhagen-Vesterport) verfügten über Garderoben, Restaurant und Ställe.

    9. Ihr Haus: Die Zirkusartisten wohnten in Pensionen in der Stadt.

    10. „Femme du monde: „Dame von Welt.

    II

    „Die Teufel hatten „gearbeitet.

    Adolphe schimpfte in der Garderobe, weil Fritz, wie er sagte, mit seinem ewigen Stallmeisterdienst ihren Vertrag hintertreibe, obwohl „Die Teufel" freigestellt waren.

    Aber Fritz gab keine Antwort. Jeden Abend zog er die Stallmeisteruniform an und stellte sich an den Logenaufgang und wartete, bis „die Dame aus der Loge" am Arm ihres Mannes die Treppe herabkam und dann ihm vorbeiging – sie hielt sich jetzt oft im Stall auf, in der letzten Abteilung –; dann folgte er ihnen.

    Sie sprach mit den Stallknechten, sie streichelte die Pferde, sie las die Namen laut vor, die oben an den Ständen angeschlagen waren. Fritz folgte.

    Ihn sprach sie nicht an. Aber sie tat alles für ihn – er wußte dies –; und mit tausend kleinen Bewegungen; mit einem Straffen ihres Rückens, mit dem Ausstrecken ihres Arms, mit dem Aufblitzen eines Blicks stellten die beiden sich heimlich einander dar, und der eine prüfte den anderen gleichsam, während sie beständig Abstand hielten – denselben Abstand, wo sie zögerten und doch gebunden waren, als ob der gemeinsame Trieb sie in einer sonderbaren Doppelschlinge eingefangen hätte, die sie beide festhielt:

    Fritz folgte.

    Sie lachte, sie ging vor und zurück; sie streichelte die Hunde.

    Fritz folgte nur.

    Sie führte und er folgte.

    Er schien nicht nach ihr zu sehen. Aber seine Augen verweilten am Saum ihres Rockes, auf ihrer ausgestreckten Hand mit dem Blick auf die starken Tiere, die gezähmt wurden, einem Blick, der lauert und haßt und sich ohnmächtig weiß zu gleicher Zeit.

    Eines Abends trat sie zu ihm. Er schlug die Augen auf, und sie sagte:

    „Haben Sie Angst vor mir?"

    Er schwieg kurz.

    „Ich weiß nicht", sagte er dann, leise und rauh.

    Und sie wußte nichts mehr zu sagen – verwirrt oder fast ängstlich (eine Angst, die sie plötzlich ernüchterte) durch den Blick der Begierde, den sie auf ihren Füßen verweilen fühlte.

    Sie drehte sich um und ging mit einem kurzen Lachen, das ihr eigenes Ohr irritierte, fort.

    Am nächsten Abend war Fritz nicht als Stallmeister tätig. Er hatte sich selbst gesagt, er wolle ihr aus dem Wege gehen, er hatte es fest beschlossen, er wollte sie nicht sehen. Er hatte ja die den Artisten ureigene Furcht vor Frauen als einem Verderben. Er betrachtete sie als mystische Feinde, die auf der Lauer lagen, dazu geboren, nach seiner Kraft zu trachten. Und wenn er sich ein seltenes Mal hingab – plötzlich, von dem unüberwindbaren Instinkt ergriffen – geschah es mit einer Art verzweifelter Desperation, mit einem racheerfüllten Haß gegenüber dieser Frau, die ihn nahm und ihn raubte wie ein Stück seines Leibes – der, der sein kostbares Werkzeug war, das Mittel selbst, um zu leben.

    Und vor dieser Dame aus der Loge fürchtete er sich doppelt. Allein der Gedanke an sie peinigte sein Gehirn, das nur langsam begriff, das nicht gewohnt war zu denken. Und er achtete mit einer mißtrauischen Angst auf jede Bewegung dieser Fremden einer anderen Rasse, als wollte sie ihm etwas geheimnisvoll Böses, von dem er wußte, daß er ihm nicht entrinnen könnte.

    Er wollte sie nicht mehr sehen – nein, er wollte sie nicht sehen.

    Das Versprechen konnte er leicht halten; denn sie kam gar nicht. Zwei Tage lang nicht, drei Tage lang nicht – sie kam nicht. Am vierten Abend war Fritz wieder Stallmeister. Aber sie kam nicht. Nicht an dem Abend. Auch nicht am nächsten kam sie.

    Solange der Tag währte, dachte er voller Angst daran: „Wenn sie kommt." Und abends spürte er eine dumpfe Erbitterung, eine brutale, aber stumme Wut, weil sie nicht kam.

    So hatte sie ihn also an der Nase herumgeführt. So hatte sie also nur ihren Spott mit ihm getrieben. Sie, das Weibsstück, sie. Aber er würde sich rächen, er würde sie finden …

    Und er sah sich selbst, wie er sie mit Schlägen überschüttete, sie mit den Füßen trat, sie so schlimm peinigte, daß sie sich krümmte, daß sie sich bog, daß sie vor Gewalt halb tot dalag.

    Stundenlang lag er nachts in stummer Wut. Und seine Begierde wuchs verzweifelt gierig in seinen ersten schlaflosen Nächten.

    Dann kam sie – am neunten Tag.

    Vom Trapez aus erblickte er ihr Gesicht – das er gleichsam mit einem anderen Sinn als dem Auge zu sehen vermochte – und mit einem plötzlichen Sprung, wie in jugendlichem Jubel warf er seinen schönen, schlanken Körper in die Luft, an den gestreckten Armen hängend.

    Sein ganzes Gesicht erstrahlte in einem leuchtenden Lächeln, und er schwang sich wieder hoch.

    Er sprach mit Aimée, sachte wiegte er den blonden Kopf im Takt zum Walzer; und er ergriff Aimées Hand wie schon viele Tage nicht mehr:

    „Enfin - du courage!"¹ rief er laut.

    Es hörte sich an wie ein Siegesschrei.

    Und als er dann in seiner Stallmeisteruniform in den Stall trat und sie erblickte, stand er wieder stumm und feindlich und betrachtete sie voller Haß mit demselben Blick, der ihr nicht richtig in die Augen zu sehen wagte.

    Aber nach der Vorstellung, im Restaurant, wurde er plötzlich wieder übermütig – fast wild. Er lachte und machte Kunststücke. Er spielte mit Tassen und mit Bierkrügen und ließ seinen seidenen Hut – mit der Krempe – auf dem Ende seines Stockes balancieren.

    Die anderen Artisten fielen in die Heiterkeit ein.

    Der Clown Tom holte seine Harmonika und spielte, während er seine langen Beine über die Stühle legte.

    Es gab ein ungeheures Hallo. Alle machten Kunststücke. Mr. Fillis ließ eine riesige Tüte auf seiner Nase balancieren, und zwei, drei Clowns gackerten, als wäre man mitten auf einem Hühnerhof.

    Aber Fritz rief am lautesten, auf einem Tisch stehend, mit zwei Glaskugeln, die er vom Leuchter abgeschraubt hatte, ballspielend, schrie strahlenden Gesichts in das Durcheinander:

    „Adolphe tiens!"²

    Adolphe ergriff die Glaskugel, auf dem nächsten Tisch stehend.

    Die Artisten waren bald oben, bald unten; einige auf Tischen, andere auf Stühlen. Die Clowns gackerten, die Harmonika wand sich.

    „Fritz, tiens!"

    Die Glaskugel flog wieder – über den Kopf der Clowns. Fritz ergriff sie und drehte sich plötzlich um:

    „Aimée, tiens!"

    Er warf sie ihr zu, und Aimée stand auf. Aber sie war nicht schnell genug, und die Kugel fiel; sie zerbrach.

    Fritz lachte und sah von seinem Tisch aus auf das zerbrochene Glas:

    „Das bedeutet Glück", sagte er und lachte; plötzlich verharrte er und lächelte in das Licht des Leuchters.

    Aimée hatte sich umgedreht. Blaß setzte sie sich wieder an die Wand.

    Das Spektakel dauerte fort. Es war fast zwölf Uhr. Die Kellner drehten das Gas herunter. Aber die Artisten hörten nicht auf, sie verdoppelten nur den Lärm im Halbdunkel. Aus allen Ecken hörte man ein Gackern und Klagen, das ohrenbetäubend war; auf dem Tisch unter dem Leuchter ging Fritz auf den Händen.

    Er war der letzte, der hinausging – er war so ausgelassen, als wäre er betrunken.

    In einer Gruppe zogen sie alle die Passage hinab. Überall in den Straßen, wo die Artisten wohnten, trennten sie sich. Es erklangen zum Abschied viele merkwürdige Laute überall im Dunkeln als letzte Grüße.

    Dann wurde es endlich ruhig, und die vier Teufel gingen wie gewöhnlich schweigsam nebeneinander.

    Sie redeten nicht mehr. Aber Fritz konnte nicht still sein. Er ließ wieder seinen guten Hut auf der Spitze seines Stockes in der Luft herumsausen.

    Sie kamen zu ihrem Haus und sagten sich gute Nacht.

    Drinnen in ihrem Zimmer schlug Fritz beide Fenster ganz weit auf, und er begann laut zu pfeifen, weit auf die Straße hinaus.

    „Du bist verrückt, sagte Adolphe. „Was zum Teufel ist mit dir los?

    Fritz lachte nur:

    „Il fait si beautemps"³, sagte er bloß und fuhr fort zu pfeifen.

    Unten hatte Aimée das Fenster geöffnet. Louise, die sich gerade auskleidete, rief ihr zu, sie solle es schließen, aber Aimée blieb stehen und starrte in die enge Straße.

    So lange hatte sie nicht verstanden – nicht, warum seine Augen leer geworden waren, wenn er sie anblickte, nicht, warum seine Stimme gleichsam müde geworden war, wenn er zu ihr sprach, nicht, daß sein Ohr halb verschlossen war, wenn sie sprach …

    Und es war, als wären sie nicht mehr zusammen, selbst wenn sie dicht nebeneinander saßen …

    Und er puderte ihre Arme nicht mehr.

    Dies war gestern.

    Er trat ein, so hastig, ungeduldig, wie er jetzt pflegte. Und sie streckte ihm ihre Arme entgegen, und er starrte sie nur an, gedankenlos, ohne sich zu erinnern:

    „Dann pudere dich doch!", sagte er dann hitzig und ging weg.

    Und langsam, ohne zu begreifen, puderte sie langsam Arm für Arm.

    Ach nein, ach nein – sie hätte nie gedacht, daß man so leiden könnte.

    Aimée lehnte den Kopf an den Fensterrahmen, und die Tränen begannen ihr die Wangen hinabzulaufen.

    Nun wußte sie alles. Nun verstand sie …

    Plötzlich erhob sie wieder den Kopf; sie hörte auf einmal Fritz, der angefangen hatte zu summen – laut. Es war der „Liebeswalzer".

    Lauter und lauter summte er, nun sang er.

    Wie fröhlich er sang, wie glücklich. Jeder Ton schmerzte sie, und doch blieb sie stehen: Es war, als ob dieses Singen ihr alles in die Erinnerung zurückriefe, ihr ganzes Leben.

    Wie gut sie sich erinnerte – wie gut vom ersten Tag an …

    Louise rief wieder nach ihr, und mechanisch schloß sie das Fenster. Aber sie ging nicht zu Bett, sie setzte sich im Dunkel nur in die Ecke.

    Wie gut sie sich erinnerte – an alles.

    Anmerkungen

    1. „Enfin – du courage!: „Also – mit frischem Mut!

    2. „Adolphe tiens!: „Adolphe, nimm!

    3. „Il fait si beautemps.: „Es ist so schönes Wetter.

    III

    So deutlich hatte Aimée noch vor Augen, wie sie am ersten Tag kamen, Fritz und Adolphe – als sie „eingestellt werden sollten bei „Vater Cecchi.

    Es war morgens, und Aimée und Louise lagen noch im Bett.

    Und die Jungen waren in der Ecke gestanden, mit hängenden Köpfen – sie hatten mitten im Winter Matrosenhosen an, und Fritz hatte einen Strohhut auf. Und sie wurden ausgezogen, und Vater Cecchi befühlte sie und betastete ihre Beine und schlug auf ihren Brustkorb, bis sie weinten, während die alte Frau, die mit ihnen gekommen war, zitternd dabei stand, ganz still, in sich zusammengesunken – nur die schwarzen Blumen schwankten ganz leicht auf ihrem Hut.

    Sie fragte nichts. Sie blickte nur auf die Jungen und folgte ihnen mit den Augen – wie Cecchis Hände mit ihnen, die nackt waren, umsprangen …

    Aimée und Louise sahen vom Bett aus zu. Vater Cecchi befühlte weiter und fluchte: In den Augen der Jungen stand Todesangst.

    Dann wurden sie eingestellt.

    Die alte Frau sagte nichts, berührte die Jungen nicht und sagte ihnen nicht auf Wiedersehen. Es war, als suchte sie nur die ganze Zeit, während die Blumen auf dem Hut wippten, nach etwas – nach irgendetwas, was sie nicht fand. Und dann ging sie auch durch die Tür hinaus, langsam, unsicher, und die Tür schloß sich.

    Fritz schrie – einmal, der lange Schrei eines Kindes, als würde er abgestochen …

    Aber dann gingen sie beide, er und Adolphe, in ihre Ecke zurück und setzten sich hin, das Kinn auf ihre Knie gestützt und die geballten Hände fest gegen den Boden gestemmt – beide schweigend.

    Vater Cecchi jagte sie in die Küche, um Kartoffeln zu schälen. Aimée und Louise wurden hinterhergejagt. Alle vier saßen nur stumm um den Eimer.

    Louise fragte:

    „Wo kommt ihr her?"

    Aber die Jungen gaben keine Antwort. Sie kniffen nur die Lippen zusammen und schauten vor sich hin.

    Es verging eine Weile, bis Aimée flüsterte:

    „Wie heißt eure Mutter?"

    Aber sie antworteten weiterhin nicht – saßen nur keuchend da, als weinten sie innerlich. Und man hörte nur das Geräusch der Kartoffeln, die, wenn sie geschält waren, ins Wasser plumpsten.

    „Ist sie tot?" flüsterte Louise.

    Aber die Jungen antworteten immer noch nicht, und die beiden Mädchen blickten nur still vom einen zum anderen, während Aimée mit einem Mal ganz leise zu weinen begann, und dann Louise, beide.

    Am nächsten Tag begannen die Jungen „zu arbeiten".

    Sie lernten den „Chinesentanz und den „Bauerntanz. Nach drei Wochen traten alle vier auf.

    Wenn sie zu tanzen hatten, standen sie paarweise in den Kulissen, Aimée mit Fritz, Louise mit Adolphe, mit starren Augen, ihre Lippen vor Angst mit der Zunge benetzend, lauschten sie der Musik im Orchester.

    „Zieh die Jacke herunter!", sagte Aimée, die vor Aufregung selbst kaum stehen konnte, und zog selbst an der Jacke von Fritz, die schief saß.

    „Commencez!"¹ ertönte es aus der ersten Kulisse von Vater Cecchi. Der Vorhang war auf, sie mußten hinein.

    Sie gewahrten nicht die Reihe der Lampen, und sie sahen die Leute nicht.

    Mit erschrockenem Lächeln vollführten sie ihre einstudierten Übungen, zählten den Takt und bewegten die Lippen, die Augen starr auf Cecchi gerichtet, der dort in der ersten Kulisse mit den Füßen trampelte.

    „Nach links!" flüsterte Aimée Fritz zu, der dies immer vergaß; sie schwitzte vor Angst für sie beide und mußte sie beide erinnern.

    Sie glichen zusammen den Wachsfiguren, die auf den Leierkästen tanzen.

    Das Publikum klatschte und rief sie vor. Apfelsinen fielen auf die Bühne. Sie sammelten sie auf und lächelten dankbar, sie mußten sie Cecchi abliefern, der sich nachts an ihnen gütlich tat, wenn er mit dem Agenten Watson Karten spielte, zu seinem Kognak und Wasser.

    Vater Cecchi spielte nächtelang mit dem Agenten zuhause in ihrer Bleibe.

    Die Kinder wachten auf, wenn sie miteinander stritten, und mit aufgerissenen Augen sahen sie von ihren Betten aus zu, bis sie wieder todmüde in Schlaf fielen.

    Die Zeit verging.

    Die „Cecchi-Truppe" kam zum Zirkus, und alle vier lernten das ganze Handwerk.

    Sie begannen mit ihren Proben um ½9. Zähneklappernd zogen sie sich um und begannen in dem halbdunklen Zirkus zu arbeiten. Louise und Aimée balancierten mit zwei Flaggen auf dem Seil, während Vater Cecchi die Kommandos gab, rittlings auf dem Geländer sitzend.

    Dann wurde das Pferd hereingeführt, und Fritz mußte den Jokkeysprung ausführen.

    Vater Cecchi kommandierte, mit einer langen Peitsche bewaffnet. Fritz sprang und sprang. Es gelang nicht. Er fiel gegen das Geländer. Er stieß sich an dem Pferd. Die Peitsche sauste vor und traf ihn an den Beinen, so daß sie lange Striemen bekamen.

    Vater Cecchi kommandierte weiter. Mit den Tränen kämpfend sprang der Junge und sprang.

    Er kam wieder nicht hoch, sondern stürzte.

    Die alten Wunden an seinem Körper brachen auf und bluteten, so daß das alte Trikot voller Blutflecken war.

    Vater Cecchi rief nur immer wieder: „Encore – encore!"²

    Außer Atem, zwischen den Atemzügen halb schluchzend, sprang Fritz mit schmerzverzerrtem Gesicht.

    Die Peitsche traf ihn, und verzweifelt rief er:

    „Ich kann nicht!" Und mußte es aufs neue versuchen.

    Das Pferd bekam doppelte Schläge und flog mit dem schluchzenden Jungen davon, dessen Glieder vor Schmerz zitterten: „Ich kann nicht!" rief er voller Schmerz.

    Die Artisten sahen vom Parkett und den Logen aus still zu.

    „Encore!" rief Cecchi: Fritz setzte erneut an.

    Bleich, mit weißen Lippen, versteckt in der Ecke einer Loge sah Aimée zu, voller Angst und verbittert.

    Aber „Vater" Cecchi hörte nicht auf. Ein Stunde dauerte es, fünf Viertelstunden. Fritzens Körper war eine einzige Wunde. Er fiel wieder und wieder, stampfte in den Sand vor Schmerz, fiel wieder.

    Nein, es gelang nicht mehr. Und er wurde mit einem Fluch davongeschickt.

    Aimée lief aus der Loge: Stöhnend vor Schmerz verbarg Fritz sich wie ein Tier hinter einem Stapel Faßreifen. Außer Atem, mit geballten Fäusten stieß er halblaute Flüche aus, eine Flut von Gossenwörtern, Stallflüchen in allen Sprachen – in ohnmächtiger Raserei.

    Aimée saß still dabei. Ihre weißen Lippen zitterten nur.

    Lange saßen sie im Dunkeln versteckt hinter dem Stapel. Der Kopf von Fritz neigte sich zur Wand, und er schlief aus schmerzvoller Erschöpfung ein, während Aimée mit ihrem weißen Gesicht unbeweglich sitzen blieb, als wachte sie über seinen Schlaf.

    – – –

    Die Jahre vergingen. Sie waren erwachsen geworden.

    Vater Cecchi war gestorben. Er wurde von einem Pferd zu Tode getreten.

    Sie aber blieben beieinander. Es ging auf und ab. Sie waren bei großen Gesellschaften, und sie landeten bei den kleinen.

    Wie deutlich sah Aimée das weißgetünchte Provinzpantheon³ vor sich, wo sie in diesem Winter arbeiteten. Wie eisig kalt es war! Sie trugen zwei Kohlebecken vor der Vorstellung hinein, und der ganze Zirkus füllte sich mit Rauch, so daß man kaum atmen konnte.

    Draußen im Stall streckten die Artisten blaugefroren ihre nackten Arme über ein Kohlebecken, und die Clowns hüpften auf der bloßen Erde in ihren Schirtingschuhen⁴, um sich warm zu halten.

    Die Cecchi-Truppe arbeitete in allen Fächern. Sie tanzten, Fritz war Aimées Partner. Aimée war Parforce-Reiterin⁵, Fritz zurrte ihre Sattelgurte als Stallmeister.

    Die Truppe rackerte sich ab; sie bestritt das halbe Programm.

    Aber es ging nicht. Woche für Woche verschwand ein Pferd aus den Ständen, um die anderen füttern zu können … Die Artisten, die Geld hatten, reisten ab, die, die bleiben mußten, hungerten – bis endlich alles vorbei war und sie schließen mußten.

    Pferde, Kostüme, alles war weg. Der Gerichtsvollzieher war gekommen, und es war reiner Tisch gemacht worden …

    Es war der Abend des Tages, an dem alles geschehen war.

    Die wenigen Artisten, die zurückgeblieben waren, saßen stumm und traurig in dem dunklen Raum. Sie konnten nicht gehen. Sie wußten auch nicht, wohin.

    Im Stall auf einer Futterkiste saß der Direktor vor den leeren Ständen – und weinte, während er dauernd vor sich hinmurmelnd Flüche in allen Sprachen ausstieß.

    Es war ganz ruhig, ganz tot.

    Nur die Hunde – sie hatte der Gerichtsvollzieher vergessen – lagen traurig, mit wachsamen Augen, auf einem Bündel ausgestreuten Strohs.

    Die Cecchi-Truppe ging in das Restaurant. Alles war verlassen. Der Wirt hatte seinen Tresen geräumt und seine Gläser heruntergestellt. Stühle und Tische waren staubig – alles durcheinander.

    Die vier saßen schweigsam in einer Ecke. Sie kamen vom Postamt. Es war ihr täglicher Gang. Sie holten Briefe von den Agenten – Absage auf Absage.

    Fritz öffnete sie. Die anderen wagten nicht zu fragen.

    Er öffnete Brief auf Brief und las langsam, gleichsam mißtrauisch – und legte den Brief weg.

    Die anderen blickten nur auf ihn – schweigsam und schüchtern.

    Dann sagte er:

    „Nichts."

    Und sie saßen wieder schweigsam vor den traurigen Briefen, die nichts gebracht hatten.

    Dann sagte Fritz:

    „Das kann so nicht weitergehen. Wir müssen etwas Besonderes finden."

    Adolphe zuckte mit den Schultern: „Es reicht jetzt, sagte er höhnisch: „Sag etwas Neues.

    „Die Arbeit in der Luft macht sich bezahlt", sagte Fritz gedämpft.

    Die anderen schwiegen, und Fritz sagte wie zuvor:

    „Wir könnten in den Kuppeln arbeiten."

    Es entstand wieder Stille, bis Adolphe fast zornig sagte:

    Du hast wohl deine Glieder versichert?"

    Fritz antwortete nicht. Es war nun ganz mild und ganz still – eine Weile.

    „Wir könnten uns wohl auch trennen", sagte Adolphe heiser und sehr leise.

    Sie hatten alle denselben Gedanken gehegt und Angst vor ihm gehabt. Nun war er ausgesprochen, und Adolphe fügte hinzu, indem er in die dunkle und verlassene Scheune blickte:

    „Man kann wohl nicht unentwegt über derselben Schüssel hungern."

    Er sprach in einem unterdrückten hitzigen Ton, wie Leute,

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