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Ländliche Genossenschaften: Beiträge zur 5. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte  am 05. und 06. November 2010 im Warburg-Haus in Hamburg
Ländliche Genossenschaften: Beiträge zur 5. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte  am 05. und 06. November 2010 im Warburg-Haus in Hamburg
Ländliche Genossenschaften: Beiträge zur 5. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte  am 05. und 06. November 2010 im Warburg-Haus in Hamburg
eBook264 Seiten2 Stunden

Ländliche Genossenschaften: Beiträge zur 5. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte am 05. und 06. November 2010 im Warburg-Haus in Hamburg

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Über dieses E-Book

Die jährliche Tagung zur Genossenschaftsgeschichte in Hamburg befasste sich 2010 mit ländlichen Genossenschaften. Im vorliegenden Tagungsband sind die Referate abgedruckt.
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum23. Mai 2013
ISBN9783848299614
Ländliche Genossenschaften: Beiträge zur 5. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte  am 05. und 06. November 2010 im Warburg-Haus in Hamburg

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    Buchvorschau

    Ländliche Genossenschaften - Books on Demand

    Ländliche Genossenschaften

    Beiträge zur 5. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte am 5. und 6. November 2010 im Warburg-Haus in Hamburg

    Books on Demand

    Inhalt

    2010 Hamburg: Ländliche Genossenschaften

    Vorwort

    GÜNTHER RINGLE: Anfänge, Entwicklung und Struktur des ländlichen Genossenschaftswesens

    MARTIN KLEINFELD: „Gute Butter aus Salzhausen" - Molkereigenossenschaften in den Landkreisen Harburg und Lüneburg

    DETLEF MÖLLGAARD: Der Tilsiter und die Genossenschaften

    BURCHARD BÖSCHE: Das genossenschaftliche Krankenhaus Salzhausen

    FOLKERT MOHRHOF: Ländliche Genossenschaften in Lateinamerika

    JÜRGEN SAUER: Naturata Logistik in GrÜnsfeld

    HEINRICH TÖDTER: Über 100 Jahre Wasserleitungsgenossenschaften in der LÜneburger Heide

    HOLGER BLISSE: Deutschland und Österreich im Dialog: Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Gustav Marchet und die ersten ländlichen Genossenschaften in Österreich

    KAI RUMP: Ländliche Genossenschaften und ihr Beitrag zur sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung in der LÜneburger Heide (1890-1930) Zwischenbericht eines Dissertationsprojektes

    DIETER HOEFER: „Das Netz muss engmaschig sein" Die Kreditabteilungen (Bankabteilungen) der Bäuerlichen Handelsgenossenschaften

    VOLKER J. PETERSEN: Die ländlichen Genossenschaften in der Wende 1989/1990

    CORNELIA WUSTMANN: Genossenschaftliches Leben in den Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) der DDR – innerbetriebliche Organisation und Arbeitsweise

    BURGHARD FLIEGER: Elektrizitätsgenossenschaften im ländlichen Raum, dargestellt am Beispiel Teutoburger Energie Netzwerk eG (TEN eG)

    WOLFGANG SCHULZ: Der Haushaltsverein und die Konsum-Genossenschaft in Wennigsen 1886 – 1994

    PETER GLEBER: Lebensbilder der ländlichen GenossenschaftsgrÜnder Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Wilhelm Haas

    FABIAN ENGEL: Vom Bauernverein zum genossenschaftlichem Banking in NRW-die ländlichen Wurzeln der WGZ BANK

    MICHAEL STAPPEL: Ländliche Kreditvereine des 19. Jahrhunderts am Beispiel Obernburg am Main

    Kurzbiographien der Autorinnen und Autoren

    Vorwort

    Das Thema der fünften Tagung zur Genossenschaftsgeschichte waren die ländlichen Genossenschaften. Als Veranstaltungsort wurde erneut der eindrucksvolle Lesesaal des Hamburger Warburg-Hauses gewählt.

    Der originäre Nährboden für genossenschaftliche Aktivitäten ist der ländliche Raum. Die oft schwierige Versorgungsstruktur auf dem Lande prädestiniert ihn für Selbsthilfeorganisationen in der Gesellschaftsform der Genossenschaft. Die Veranstalter der historischen Tagung haben diese Tatsache zum Anlass genommen, sich dem Thema der ländlichen Genossenschaften näher zu widmen.

    Für die fünfte Tagung konnten wieder zahlreiche Referenten aus verschiedenen Genossenschaftsbereichen gewonnen werden. Die Vorträge konzentrierten sich keineswegs, wie man vermuten könnte, auf landwirtschaftlich geprägte Genossenschaften. Vielmehr wurde die Vielfalt der genossenschaftlichen Aktivitäten auf dem Lande deutlich. Neben der Darstellung von auf dem Lande typischerweise zu erwartenden Genossenschaften, wie Molkerei- und Bezugs- und Absatzgenossenschaften wurde auch die Entwicklung von Genossenschaften auf dem Gebiet des Kreditwesens, des Gesundheitswesens sowie die Entwicklung von Elektrizitäts- und Wassergenossenschaften vorgestellt. Die Biographien von tragenden Persönlichkeiten der Genossenschaftsgeschichte und die wichtige Rolle, die sie in der Entwicklung von ländlichen Genossenschaften spielten, wurden eindrucksvoll wiedergegeben. Die Teilnehmer wurden auch zu einem Blick über den Tellerrand eingeladen, indem Sie Vorträge über die zapatistische Kaffeegenossenschaften in Mexiko, die Vermarktung genossenschaftlicher Gewürzprodukte aus dem Kongo oder über die ersten ländlichen Genossenschaften in Österreich hörten. So hat die Tagung die Fülle der genossenschaftlichen Aktivitäten auf dem Lande aufzeigen können.

    Die Herausgeber danken den Autorinnen und Autoren dieses Tagungsbandes, ohne deren Engagement die Illustration der Vielfalt der unterschiedlichsten Genossenschaften im ländlichen Raum nicht hätte in einem Band zusammengetragen werden können.

    Die Herausgeber

    Hamburg im September 2011

    GÜNTHER RINGLE

    Anfänge, Entwicklung und Struktur des ländlichen Genossenschaftswesens

    „Was dem einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele."

    Friedrich Wilhelm Raiffeisen

    Aus dem Leben des F. W. Raiffeisen

    Anfänge der ländlichen Genossenschaften

    Karitative Einrichtungen

    Die ersten ländlichen Genossenschaften

    Grundzüge der weiteren Entwicklung

    Zahlenmäßige Entwicklung der ländlichen Genossenschaften seit 1950

    Anzahl der Genossenschaften

    Mitgliederzahlen

    Weitere Daten

    Die heutige Raiffeisen-Organisation

    Wirtschaftliche Organisation

    Verbandswesen

    Fazit und Ausblick

    I. Aus dem Leben des F. W. Raiffeisen

    Wer denkt, wenn es um ländliche Genossenschaften geht, nicht spontan an Friedrich Wilhelm Raiffeisen, eine der bedeutendsten Persönlichkeiten unter den Gründervätern und Gestaltern der modernen Genossenschaftsbewegung? Raiffeisen bedeutet ländliche Genossenschaft schlechthin.¹ Er „entwickelte in schwieriger Zeit eine Idee und verstand es, sie überzeugend zu vermitteln. Er hielt Menschen dazu an, sich auf die eigene² Kraft zu besinnen und mit anderen gemeinsam ihr Schicksal zu gestalten."

    Wer war Friedrich Wilhelm Raiffeisen?³ Er kam am 30. März 1818 als siebtes von neun Kindern des Landwirtes und Bürgermeisters Gottfried Friedrich Raiffeisen in der kleinen Westerwald-Gemeinde Hamm an der Sieg zur Welt. Nach dem Besuch der Volksschule wurde er durch seinen Paten, Ortspfarrer Georg Wilhelm Heinrich Seippel, weiter schulisch ausgebildet. Die finanzielle Situation der Familie erlaubte es nicht, ein Gymnasium zu besuchen.

    Als Beruf wählte Raiffeisen zunächst die militärische Laufbahn. Mit 17 Jahren trat er als Freiwilliger in die 7. Preußische Artillerie-Brigade zu Köln ein. Zum Unteroffizier befördert, setzte er 1838 seine Offizierslaufbahn an der Inspektionsschule in Koblenz fort. Nach bestandener Prüfung zum Oberfeuerwerker wurde er 1840 als Militärinspekteur für Eisenmunition in die staatliche Geschützgießerei in Sayn, heute ein Stadtteil von Bendorf, beordert.

    1843 zwang ihn ein beginnendes Augenleiden, den Militärdienst zu quittieren und in den zivilen Verwaltungsdienst zu wechseln. Nach kurzer Ausbildung in Koblenz und Mayen wurde er 1845 Bürgermeister der 25 Gemeinden umfassenden Amtes Weyerbusch im Westerwald. Es folgten Versetzungen in größere Amtsbürgermeistereien: 1848 nach Flammersfeld und 1852 nach Heddesdorf bei Neuwied, wo er 13 Jahre wirkte.

    Als seine Gesundheit sich weiter verschlechterte, musste Raiffeisen sein Amt aufgeben und – erst 47 Jahre alt – in den Ruhestand treten. Doch seine wichtigste Lebensleistung lag noch vor ihm: Der Aufbau und die Verbreitung des ländlichen Genossenschaftswesens. Seine Erfahrungen, die er insbesondere mit der Gründung von Darlehnskassen-Vereinen gemacht hatte, schrieb er in seinem im März 1866 erschienenen wegweisenden Buch nieder, dem er den umfänglichen Titel gab: „Die Darlehnkassen-Vereine als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen Bevölkerung sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter. Praktische Anleitung zur Bildung solcher Vereine, gestützt auf sechszehnjährige Erfahrung als Gründer derselben."

    Raiffeisen starb am 11. März 1888 in Heddesdorf. Sein Name ist zum universalen Symbol für die ländlichen Genossenschaften in Marktwirtschaften⁴ und zu einer internationalen Marke geworden. Das in acht Auflagen erschienene Buch fand eine weltweite Verbreitung.

    II. Anfänge der ländlichen Genossenschaften

    1. Karitative Einrichtungen

    Deutschland in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Die sozialen Initiativen Raiffeisens erwuchsen aus seinen drastischen Erfahrungen als Landbürgermeister mit der akuten Not nicht allein der Bauern, sondern der gesamten ländlichen Bevölkerung in der Westerwald-Region. Die damaligen Verhältnisse schildert ein Auszug aus einem zeitgenössischen Bericht:

    Das Dorf war vollständig vernachlässigt, die Häuser verfallen, die Höfe und Gerätschaften verwahrlost, die Felder und Ställe schlecht versorgt, die Bewohner zerlumpt, alles durch den Wucher, welcher (…) sich eingenistet hatte (…). Die Bauern hoffnungs- und mutlos, weil jeder Aussicht beraubt, die Früchte ihrer Arbeit genie-ßen zu können."

    Zielpunkt seines Handelns war zunächst die Wohltätigkeit.⁶ Als Bürgermeister war Raiffeisen kein bloßer Verwalter. Vielmehr erwies er sich als ein einfallsreicher, nach Beseitigung der schier unerträglichen Lebensumstände strebender Sozialreformer, wie das folgende Schlüsselerlebnis belegt:⁷

    Nach zwei Missernten und Teuerung war dem Bezirk Weyerbusch im Hungerwinter 1846/47 eine Ladung Getreidemehl aus den königlichen Magazinen zugeteilt worden. Raiffeisen bildete aus Vertretern der zur Amtsbürgermeisterei gehörenden Gemeinden eine Armenkommission, die für die Verteilung zuständig war. Das Mehl sollte gegen Barzahlung an die Bevölkerung ausgegeben werden. Über diese Anweisung setzte sich Raiffeisen hinweg. Arme, nicht zahlungsfähige Einwohner erhielten Mehl „auf Vorschuss".

    Die Kommission setzte danach ihre Arbeit mit dem Weyerbuscher „Verein für Selbstbeschaffung von Brod und Früchten" fort. Darin hatten sich relativ wohlhabende Bürger – u. a. Großbauern und Gutsbesitzer – mit dem Ziel zusammengeschlossen, die herrschenden Notstände zu mildern. Mit den in einen Fonds eingezahlten Barmitteln wurde 1847 Mehl gekauft, ein gemeinschaftliches Backhaus in Betrieb genommen und das hergestellte Brot weit unter dem üblichen Preis an die Not leidende ländliche Bevölkerung abgegeben. Besonders bedürftige Mitbewohner erhielten Mehl und Brot auf Vorschuss. Zu zahlen war erst nach dem Abebben der Hungersnot.

    Der Erfolg dieses „Brodverein" (auch: Dorfbäckerei) genannten Konsumvereins ermutigte Raiffeisen, zwei weitere Wohltätigkeitsvereine zu errichten: 1849 nach seiner Berufung zum Amtsbürgermeister in Flammersfeld den „Flammersfelder Hülfsverein zur Unterstützung unbemittelter Landwirthe" und 1854 in Heddesdorf bei Neuwied den „Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein". Ähnlich wie zuvor in Weyerbusch wurden wohlhabende Einwohner dafür gewonnen, benötigte Finanzmittel einzuschießen oder für Anleihen solidarisch zu⁸ haften.Beide Hilfsvereine beschafften Lebensmittel, Saatfrucht und Setzkartoffeln – und sie gewährten bereits Darlehn.

    Hauptaufgabe des Flammersfelder Hilfsvereins war, für die Bauern Vieh anzukaufen, um sie nicht in die Abhängigkeit von wuchernden Viehhändlern und Kredithaien geraten zu lassen. Den Kaufpreis⁹ konnten sie innerhalb von fünf Jahren zu einem mäßigen Zinssatz abzahlen.Der Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein dagegen nahm außer dem Geldverleih an unbemittelte Landwirte auch soziale Aufgaben wahr, indem er für die Erziehung verwahrloster Kinder sorgte, arbeitsscheuen Personen und Strafentlassenen Beschäftigung verschaffte und eine Volksbibliothek aufbaute.¹⁰ Die letzteren Aktivitäten wurden jedoch bald wieder eingestellt.

    Diese drei Vereine waren nach Konstruktion und Zwecksetzung karitative Einrichtungen, folglich noch keine Genossenschaften. Allenfalls handelte es sich um vorgenossenschaftliche Zusammenschlüsse. „Es fehlten die Grundsätze der genossenschaftlichen Selbsthilfe und Selbstverantwortung; Gebende und Nehmende waren nicht identisch."Doch liegen hier die Wurzeln der¹¹ ländlichen Genossenschaften.

    Da sich die begüterten Bürger nach und nach aus ihrem wohltätigen Engagement zurückzogen, musste Raiffeisen zu der Einsicht gelangen, „daß man den guten Willen der Menschen, ihre Hilfsbereitschaft ohne Gegenleistung auf die Dauer nicht in Anspruch nehmen könne."¹² In das Blickfeld rückte nun die Notwendigkeit, die gemeinsamen Ziele durch Zusammenarbeit aller von wirtschaftlichen und sozialen Problemen Betroffenen zu verfolgen, d.h. die individuelle Lebens- und Leistungsfähigkeit aus eigener Kraft zu sichern.

    2. Die ersten ländlichen Genossenschaften

    In einem schmerzhaften Prozess trennte sich Raiffeisen, der tief christlich geprägt war,¹³ von der auf Christenpflicht und Nächstenliebe gegründeten Wohltätigkeit.¹⁴ Er hatte sich dazu auch durch den Briefwechsel mit Hermann Schulze-Delitzsch und dessen Schriften anregen lassen. Einfluss auf das Umdenken Raiffeisens dürfte ebenso Wilhelm Haas, der in der Genossenschaft vorrangig ein Instrument zur Verwirklichung ökonomischer Ziele (mit nachfolgender Verbesserung der sozialen Zustände) sah, genommen haben.

    Raiffeisen hatte bereits 1862 mit dem Spar- und Darlehnskassen-Verein zu Anhausen im Westerwald eine ländliche Kreditgenossenschaft gegründet. Nachdem noch im selben Jahr durch seine Initiative drei weitere Darlehenskassenvereine entstanden waren, entschloss er sich 1864 zum Schritt von der wohltätigen Fremdhilfe zur gemeinschaftlichen Selbsthilfe.

    Als deutliches Zeichen der Zuwendung zu einem von wirtschaftlichen Grundsätzen geprägten Modell zu werten war die Umgründung des Heddesdorfer Wohltätigkeitsverein in den „Heddesdorfer Darlehnskassen-Verein.¹⁵

    So entstanden die ersten Kreditgenossenschaften, die sich an die gesamte ländliche Bevölkerung wandten, und zugleich die ländlichen Genossenschaf-¹⁶ ten modernen Typs.

    Es darf nicht übersehen werden, dass Raiffeisen für seine Spar- und Darlehnskassen zunächst noch kein tragfähiges Unternehmenskonzept besaß. Diese Vereine wurden erst dauerhaft lebensfähig und erfolgreich, als er 1862 das von Dr. Anton Bernhardi (Arzt und Fabrikant) und Schneidermeister Bürmann aus Eilenburg bereits 1850 entwickelte Konzept übernahm, das u. a. auf den Prinzipien Solidarhaftung aller Mitglieder, Beschränkung auf das Mitgliedergeschäft und Kreditvergabe nur gegen Sicherheiten beruhte.¹⁷

    Die 1866 in seinem eingangs erwähnten Buch formulierten Grundsätze waren „unbedingteste Selbsthilfe" und solidarische Haftung der Mitglieder.¹⁸ Das heißt: Bedürftige mussten selbst am Verein interessiert sein und ihre schwachen Kräfte in der Genossenschaft zur Stärke der Gesamtheit verbinden. Zum anderen hielt es Raiffeisen für nötig, dass die Mitglieder „alle für eines und eines für alle haften."¹⁹ Diese Prinzipien bahnten der neuen Organisationsform den Weg.

    Die vorrangige Aufgabe der Darlehnskassen-Vereine als Genossenschaften bestand darin, zwecks Verbesserung der ländlichen Verhältnisse den Kreditbedarf ihrer Mitglieder zu decken. Es galt, die Spargroschen der Bauern und die Pfennige der Armen zusammenzutragen. Auf die Frage, wer kreditwürdig ist, musste eine neue, genossenschaftliche Antwort gefunden werden.²⁰ Die Darlehnskassen wurden zum allgemeinen Nutzen „der gemeinsameGeldschrank der Gemeinde."²¹

    Mit fairen Konditionen für Kredite kämpften die Kreditgenossenschaften gegen den verbreiteten Zinswucher an. In zäher Arbeit gelang es, den Einfluss der Wucherer im ländlichen Raum zurückzudrängen und die bäuerliche Wirtschaft selbständig und lebensfähig zu machen. Raiffeisen lehrte die Bauern rechnen und wirtschaften. „Er fand eine neue Form genossenschaftlichen Zusammenlebens, die den Schwachen stärkte, ohne ihn in alte Abhängigkeiten zurückzuführen. Indem er den Bauern Wege zur wirtschaftlichen Selbstbehauptung wies, hat er die Bauernbefreiung erst real wirksam werden²² lassen."

    Neben der Befriedigung des Kreditbedürfnisses übernahmen die Darlehnskassen-Vereine die Beschaffung von Saatgut und Düngemitteln, Geräten, Vieh und Futtermitteln.In seinem späteren Wirken dehnte Raiffeisen die waren-²³ wirtschaftlichen Aufgaben auf den Absatz landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus. Insgesamt stabilisierte das Förderprinzip die wirtschaftliche Lage der Mitglieder, verbesserte die Lebensqualität auf dem Lande und stärkte den Zusammenhalt in der Dorfgemeinschaft.

    III. Grundzüge der weiteren Entwicklung

    Als sich nach der Gründerzeit die Genossenschaftsbewegung in den 1880er Jahren in Deutschland stark ausbreitete, entstand im ländlichen Genossenschaftssektor eine Vielfalt von Genossenschaftsarten. Das Warengeschäft löste sich aus den Spar- und Darlehnskassen heraus. Zunehmend wurden spezielle Genossenschaften errichtet: für das Bezugs- und Absatzgeschäft, Molkerei- und Viehverwertungsgenossenschaften, Eier- und Geflügelverwertungsgenossenschaften, Winzergenossenschaften, Elektrizitäts-, Maschinen- und Dreschgenossenschaften.

    Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Raiffeisen 1872 11 Darlehnskassen-Vereine zur „Rheinischen Landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank eG zusammenfasste. Aus dieser ersten ländlichen Zentralbank entstand 1874 die „Deutsche Landwirtschaftliche Generalbank eG zu Neuwied. Weiterhin gründete Raiffeisen 1877 mit dem „Anwaltschaftsverband Ländlicher Genossenschaften" in Neuwied den ersten Spitzenverband der ländlichen Genossenschaften. Daraus ging dann 1889 der „Generalanwaltschaftsverband²⁴ ländlicher Genossenschaften für Deutschland" hervor.

    Das Genossenschaftsgesetz von 1889 verhalf der gesamten Genossenschaftsbewegung zum Aufschwung. Die erleichterte Haftung ließ ebenso wie in anderen Genossenschaftszweigen auch bei den ländlichen Genossenschaften in kurzer Zeit neue Primärgenossenschaften, Zentralunternehmen und Verbände entstehen.

    Weitere Gründungswellen folgten vor dem Ersten Weltkrieg (1910 bis 1914) und in den zwanziger Jahren (1923 bis 1932). Während des Krieges war die Wirtschaft durch Zuteilung gesteuert, deren Maßstäbe die Behörden setzten. Doch in dieser Phase bewährte sich das ländliche Genossenschaftswesen.²⁵ Für die Erfassung landwirtschaftlicher Erzeugnisse, ihre Vorratswirtschaft und Sicherung der Versorgung der Bevölkerung erfuhren die Warengenossenschaften neue Anerkennung, und besonders die Bezugsgenossenschaften verzeichneten einen starken Zulauf an Neumitgliedern.

    Zu Beginn des Jahres 1933 existierten 40.225 ländliche Genossenschaften.²⁶ Im Nationalsozialismus wurden sie organisatorisch „gleichgeschaltet", d.h. dem neuen Ordnungssystem einverleibt, zum Beispiel die ländlichen Warengenossenschaften dem Reichsnährstand zugeführt. Zum Teil traten ehrgeizige Parteigenossen in den Vorständen und Aufsichtsräten von Genossenschaften an die Stelle verdienter Genossenschafter. Maschinennutzungsgenossenschaften ausgenommen, hatten Neugründungen zu unterbleiben. Die Absatzkooperative für Obst und Gemüse waren in allgemeine Sammelstellen umgewandelt worden.

    Im Wiederaufbau nach 1945 wurden die genossenschaftlichen Förderleistungen für weite Bevölkerungskreise zu einem dringenden Bedürfnis. Den im Dritten Reich abgeschafften Genossenschaftsprinzipien (Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung) galt es wieder Geltung zu verschaffen. Fortschreitende Technisierung und Rationalisierung der Landarbeit sowie die allmählich steigende Anzahl von Fusionen ließen die Betriebsgrößen wachsen. Das bis dahin überwiegend kleine, örtlich eng begrenzte Geschäftsfeld der Primärgenossenschaften war nun nicht mehr zeitgemäß.

    IV. Zahlenmäßige Entwicklung der ländlichen Genossenschaften seit 1950

    Wer die Entwicklung des ländlichen Genossenschaftszweiges der letzten Jahrzehnte nachzeichnet, wird vorrangig an der Ausprägung quantitativ erfassbarer Merkmale ansetzen. Entsprechend wird im

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