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NANOX
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eBook314 Seiten3 Stunden

NANOX

Von Herbert W. Franke, Susanne Päch (Editor) und Hans Esselborn (Editor)

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Über dieses E-Book

Wenn Oligarchen die Welt beherrschen

Herbert W. Franke (1927–2022) gilt als Wegbereiter der deutschsprachigen Nachkriegs-SF. Sein Spätwerk "Nanox", 2017 begonnen, blieb jedoch unvollendet. Franke wollte darin auf die sich schon damals abzeichnenden gesellschaftlichen Veränderungen aufmerksam machen: auf global tätige Unternehmer, die mit ihren Innovationen die Welt beherrschen wollen - dank Nanotechnologien und digitaler Neuromanipulation. Themen, die heute aktueller sind denn je. Mit Kommentierungen und Background-Infos zum Werk.
SpracheDeutsch
Herausgeberart meets science – Stiftung Herbert W. Franke
Erscheinungsdatum10. Okt. 2025
ISBN9783911629324
NANOX

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    Buchvorschau

    NANOX - Herbert W. Franke

    Herbert W. Franke

    NANOX

    Impressum

    Herbert W. Franke

    NANOX

    SF-Werkausgabe Herbert W. Franke

    Band 33

    hrsg. von Hans Esselborn & Susanne Päch

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek.

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

    Copyright © 2025 by art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

    www.art-meets-science.io

    Dieses Werk wird vertreten durch die AVA international GmbH, München, www.ava-international.de

    Titelbild: Das Illustrat, München

    Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

    E-Book-Erstellung: global:epropaganda

    Verlag

    art meets science – Stiftung Herbert W. Franke

    c/o mce mediacomeurope GmbH

    Bavariafilmplatz 3

    82031 Grünwald

    ISBN 978 3 911629 32 4

    Vorwort

    Mit NANOX, dessen konzeptioneller Beginn bis in das Jahr 2013 zurückreicht, legen Hans Esselborn und ich den unvollendet gebliebenen Roman von Herbert W. Franke vor, und zwar in der letzten gültigen Version aus dem Jahr 2017. Ergänzt wird das Manuskript mit einem Exposé zum Roman sowie mit Notizen zu dem geplanten Konzept, für den Roman Bildstrecken in Zusammenarbeit mit einem Grafiker zu gestalten. Diese sollten die Drehbücher, von der Hauptfigur Erwin im Auftrag des Konzerns Nanox verfasst, als Storyboards zeigen.

    Handschriftliche Aufzeichnungen in flüchtig hingeschriebenen Stichpunkten, die aus dem Jahr 2013 datieren, sowie Teil einer frühen Manuskript-Fassung aus dem Jahr 2014 haben wir ebenfalls mit aufgenommen: Die hier abgedruckten Kapitel zeigen deutliche Abweichungen zur letzten Fassung und werden in der literaturwissenschaftlichen Analyse des Textes von Hans Esselborn „Nanotechnologie und Weltherrschaft" kommentiert. Dieses hier erstmals veröffentlichte Archiv-Material zum Roman gibt interessante Einblicke in die Story-Suche des Autors. Diese Notizen wie das frühe Manuskript sind mit einer Schenkung bereits in das ZKM-Archiv Herbert W. Franke übergegangen.

    In allen abgedruckten Texten haben wir Flüchtigkeitsfehler korrigiert.

    Weiter veröffentlichen wir ein Interview, das Elisabeth Bösl mit Herbert für den Blog „Die Zukunft 2014 geführt hat – anlässlich der Veranstaltung „Zukunftstechnologie 2.0 – Nanos in Literatur und Medien im Züricher Collegium Helveticum im November des gleichen Jahres.

    In meinem eigenen kurzen Beitrag gebe ich zudem ein paar persönliche Erinnerungen aus Gesprächen mit Herbert zum Hintergrund des Romans und einer schlaglicht-artigen Einbettung in Herberts philosophisches Weltverständnis.

    Ich bedanke mich an dieser Stelle ganz herzlich bei meinem Mit-Herausgeber Hans Esselborn für die stets freundschaftliche Zusammenarbeit bei der Werkausgabe. Auch für dieses unvollendete, bisher unveröffentlichte Manuskript steuert der große Franke-Kenner wieder einen wichtigen Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Einordnung des Werkes bei. Mein Dank geht zudem an Ann-Kathrin Hahn und Gino Faglioni von Das Illustrat für die Covergestaltung sowie an Michael Haitel für die Konfektion des E-Books.

    Susanne Päch

    Herbert W. Franke: Im Auftrag von Nanox

    Letzte Fassung des unvollendeten Manuskripts

    Warnung

    Sie tragen sich mit der Absicht, Ihre bisherige berufliche Orientierung aufzugeben und eine für Sie neuartige Tätigkeit aufzunehmen. Sie scheinen sich nicht im Klaren darüber zu sein, dass Sie den dafür nötigen Anforderungen nicht gewachsen sind. Wenn Sie Ihre Absicht verwirklichen, dann werden Sie vor Probleme gestellt, auf die Sie weder durch Ihre Ausbildung noch durch Ihre bisherige berufliche Laufbahn vorbereitet wurden. Die negativen Konsequenzen betreffen nicht nur Sie, sondern auch eine große Anzahl von Menschen der ganzen Erde, die durch Ihren Entschluss zu Schaden kommen. Stellen Sie sich die Frage, ob Sie die durch den geplanten Wechsel auf Sie zukommenden Verantwortung wirklich auf sich nehmen wollen.

    Lassen Sie sich auf keinerlei Debatten ein – lehnen Sie den Ihnen zugedachten Auftrag bedingungslos ab. Unterschreiben Sie keines der Dokumente, die man Ihnen vorliegen wird. Sie müssen wissen, dass schon geringfügige Abweichungen von den für Sie verpflichtenden Verhaltensregeln härteste Strafen zur Folge haben. Ihre Auftraggeber haben die Möglichkeit, die Maßnahmen offizieller Gerichtsorgane beliebig zu verschärfen.

    Sie sind als intelligente und realistisch handelnde Persönlichkeit klassifiziert, die juristisch in allen Belangen zur Verantwortung gezogen werden kann. Sie würden sich in den Dienst einer Vereinigung stellen, die allem Anschein nach im höchsten Grad verwerfliche Ziele verfolgt. Sie würden sich mitschuldig machen. Seien Sie sich bewusst, dass es kein Zurück mehr gibt, wenn Sie sich erst einmal Ihren Auftraggebern verschrieben haben. Bitte nehmen Sie daher zur Kenntnis: Wenn Sie den Ihnen zugedachten Vertrag unterzeichnen, verletzen Sie nicht nur Gesetze, sondern sie greifen damit auch in den Raum Ihrer Moralvorstellungen und Ihres Gewissens hinein.

    Wir appellieren an Sie, diese Warnung ernst zu nehmen.

    Task Force N – Gesellschaft zur Rettung der Welt e.V.

    1

    Irgendetwas hatte Edwin geweckt. Ein paar Sekunden lang wusste er nicht, wo er sich befand … aber dann war alles wieder klar: in einem Hotelzimmer in Jaipur, er war auf seiner Reise nach Lhasa, unterwegs zur Besprechung mit dem am Videofon so freundlichen Herrn von Nanox, um den Auftrag zu fixieren …

    Ein Poltern unterbrach seine Gedanken, im Zimmer über ihm schien jemand die Möbel umzustellen, das war es vermutlich, was ihn geweckt hatte. Er setzte sich auf, suchte nach einer Uhr, und da fiel ihm Sirikit ein … das Bett neben ihm war leer.

    Eigentlich schade, dachte er. Normalerweise zog er es vor, wenn die Mädchen sich beizeiten zurückzogen, denn er schätzte einen ungestörten Schlaf. Doch diesmal war es anders gewesen, er hatte mit Sirikit einen in jeder Hinsicht angenehmen Abend verbracht. Sie hatten zusammen gegessen und noch kurz eine Bar besucht, und er hatte sich nett mit ihr unterhalten können. Er hatte sich auf ein Frühstück mit ihr gefreut, hatte überlegt, ob er sich nicht für die Rückreise, die ihn wieder hierher bringen würde, mit ihr verabreden sollte, doch nun war sie still und ohne Abschied verschwunden. Auch gut – so ersparte er das Trinkgeld, dachte er sich … Und dann war er sich selbst gegenüber nicht sicher, ob er wirklich dieser Meinung war.

    Er hatte seine Uhr gefunden, die unter einem Taschentuch gelegen hatte. Es war Zeit, um auf zu stehen, aber es bestand keine besondere Eile. Er zog sich ins Badezimmer zurück, duschte heiß, hatte Mühe, Shampoon, Zahnpaste und Seife von den Verpackungen zu befreien, und benutzte zum Reinigen seiner Schuhe die neben der Dusche liegende Matte. Schließlich packte er sein Waschzeug ein, das auf der mit einem Marmormuster verzierten Kunststoffplatte herumlag, und steckte noch ein Fläschchen Parfum ein, das sich gut als Mitbringsel eignete, wenn er auch nicht wusste, für wen … Dann warf er zufällig einen Blick auf den Daten-Screen, auf dem es bei solcher Gelegenheit meistens einen Willkommensgruß und die neuesten Nachrichten in der Sprache es Gastes zu lesen gab.

    Als er abschließend den Schreibtisch abräumte, fiel sein Blick zufällig auf den Daten-Screen an der Wand. Der Willkommensgruß mit all der Empfehlung im Haus und der Umgebung lief ab – bis zum Lageplan des Hotels mit dem schönen Namen „Rambagh Palace", mit Erklärungen dazu, warum es so hieß und nicht anders, und dann schließlich noch die Wettervorhersage. Das Wetter interessierte ihn, er schoss den kleinen Rollkoffer. Nun aber war er erst einmal hungrig. Doch bevor er das Zimmer verlassen konnte, gab es einen merkwürdigen Klang aus dem Bildschirm, darauf erschien in großen, blinkenden Buchstaben ‚Warnung’, die online auf sein Klick-Frame übertragen wurde. Das konnte nichts Wichtiges sein.

    Das Frühstück war so gut, wie es in den Automatenküchen von Hotels eben üblich ist, aber der Kaffee tat Edwin wohl; er schmeckte auch nicht anders als anderswo, aber er war heiß, und in dieser Hinsicht einwandfrei.

    Kurze Zeit später saß er im Shuttle-Bus, dessen Fenster so stark mit Werbung verklebt waren, dass die Außenwelt wie ein vorüberhuschendes Fernsehbild aussah. Schade eigentlich, denn was da schemenhaft vorüberflog, war durchaus reizvoll: immer wieder historische Bauten, darunter ein prächtiger fünfstöckiger Palast mit üppig verzierter Fassade und eine hochgezogene Stadtmauer aus orangerotem Naturstein mit einem mächtigen Rundbogen-Tor.

    Sich auf all das durch die hindernde Scheibe hindurch zu konzentrieren, war mühsam, und so lehnte sich Erwin zurück … er kramte in seiner Tasche herum, zog sein Kick Frame heraus. ‚Warnung’ stand über dem Textblock, und als solche war es ja wohl auch zu verstehen. Zuerst dachte Edwin an einen jener Hinweise, mit denen die Hotelgäste mehr oder weniger nützliche Ratschläge für den Fall von Feuer, Explosionen und Anschlägen bekamen. Doch als er weiterlas, war er zuerst leicht irritiert, dann schüttelte er den Kopf, und schließlich, als er den Text fertiggelesen hatte, lachte er kurz auf. Unerwünschte Nachrichten waren ihm nicht unbekannt, im OmniNet konnte man mehr davon finden, als einem lieb war – von Kauf-Empfehlungen bis zu Kreditangeboten, Bitten um Unterstützung bis zu Einladungen zu Life-Shows, aber auch politische Manifeste und Verleumdungen, sowie – warum auch nicht? – Warnungen aller Art: vor dem Gebrauch von Nano-Batterien, vor illegalen Geldwechslern, vor nachlässigem Umgang mit Code-Nummern und vor dem Kauf gefälschter Medikamente … aus den persönlichen Datenspuren herausgelesen, die jeder hinterließ, die dann Firmen, aber auch mehr oder weniger kriminelle Banden auszunutzen versuchen. Manchmal waren es auch einfach nur Spinner und Datenterroristen, die sich einen Spaß daraus machten, verwirrende Informationen an Nutzer zu geben. Und hier warnte ihn nun jemand, der ihm vielleicht die angebotene Stelle neidete oder etwas gegen das Firmenimperium von Nanox hatte.

    2

    Für Edwin stand ein Flugzeug bereit, und er konnte sich einen Sitzplatz aussuchen. Es sah so aus, als wäre er der einzige Fluggast, und erst nach einer lästigen Wartezeit, während der der angegebene Abflugtermin langsam aber sicher verstrich, stiegen noch zwei Passagiere zu: ein junger Mann in einem dunkelroten Trainingsanzug und ein älterer asiatischer Typ mit Fellmütze, Windjacke, lederner Latzhose und Bergschuhen, der einen unförmig großen Rucksack hinter sich herzog.

    Es gab kein Personal an Bord, doch irgendwie wurde die Ankunft der verspäteten Passagiere zur Kenntnis genommen, und die Automatik startete unverzüglich.

    Edwin war schon einige Male mit einem solchen Flugzeugtyp geflogen, einem der kleinen Keilflügler, die vor allem für private Zwecke benutzt wurden, und so wunderte er sich nicht darüber, dass sie gleich im Steilflug aufstiegen und bald in die Horizontale einschwenken konnten. Die automatischen Sicherungsbügel um Arme und Beine öffneten sich, und der junge Mann drückte ein paar Knöpfe am Tastenfeld der Armlehne. Kurze Zeit danach rollte ein Wägelchen herein, auf dem Tablett Schüsseln und Teller, auf denen salzige und süße Leckerbissen ausgebreitet lagen, Shrimps und Kaviar nach russischer Art, aber auch einige arabische Honigplätzchen, dazu eine Sektflasche in silbernem Kübel. Der junge Mann griff danach und blickte Edwin an, der ihm gegenübersaß: „Ich bin Thor. Darf ich Sie einladen?"

    „Gern – ich bin Edwin". Edwin nahm das ihm gereichte Glas vorsichtig an, da die Flugrichtung wieder leicht anstieg. Sie prosteten sich zu. Der dritte Fluggast hatte mit einer Handbewegung abgewehrt.

    „Sind Sie der Arzt?, fragte der junge Mann, und als er den etwas erstaunten Blick Edwins bemerkte, fügte er hinzu: „Ich bin Thor, der Sohn des Kranken. Aber er ist derzeit nicht hier, sondern in einem Krankenhaus in Frankreich.

    Edwin schüttelte den Kopf. „Nein, Arzt bin ich nicht."

    „Sie müssen eine wichtige Persönlichkeit sein, sonst hätte man Sie nicht außertourlich abgeholt, stellte Thor fest. „Es war ein Zufall, dass ich mich anschließen konnte. Ich war auf einer Bergtour.

    Thor blicke ihn fragend an, und Edwin sah keinen Grund, die erwartete Antwort zu verweigern. „Ich bin Schriftsteller, genau genommen Drehbuchautor. Vielleicht haben Sie ‚Vestalinnen’ gesehen. Das Buch stammt von mir."

    Thor schien beeindruckt. „Respekt! Ich habe den Film gesehen. Einer der wenigen historischen Filme, die mich interessiert haben. Doch was haben Sie in Lhasa zu tun? Der Nanox-Konzern betreibt doch keine Filmproduktion."

    Edwin lachte. „Das klingt ja so, als wäre das etwas Schändliches."

    „Das wollte ich nicht sagen. Und es wäre ja nicht unmöglich. Nanox hat sich von Putzmitteln in alle möglichen Richtungen entwickelt. Und wenn die Berater dafür sind – warum sollten wir nicht ins Filmgeschäft einsteigen?"

    „Ist das wirklich zu empfehlen? Mit Putzmitteln und Dünger gibt es doch sicher mehr zu verdienen."

    Thor verzog missmutig das Gesicht. „Verdienen, das ist es ja. So hat es begonnen. Microsoft, Apple, Google, Amazon, Space X … Es ging immer nur darum, größer zu werden, mächtiger – noch mehr zu verdienen. Die neuen Techniken haben denen viel Geld gebracht und ihnen sogar weltpolitische Macht verschafft. Und diese wird immer nur gebraucht, um noch mehr Geld zu machen, bis andere Techniken nachkommen, die wieder Geld und Macht bringen. Irregeleitete Ziele, verschenkte Möglichkeiten – niemand, der etwas Besseres damit anzufangen wusste."

    „Was hätten sie tun sollen?"

    „Man kann seine Machtposition doch auch nützen, um etwas Sinnvolles zu erreichen. Soziale Verhältnisse verbessern, Bildung fördern, Kreativität und Kunst. Doch mein Vater hat dafür kein Verständnis. Es geht ihm nicht gut, und ich werde ihn bald ablösen. Ich jedenfalls will meine Sache besser machen."

    Ein paar Minuten herrschte Stille, der Flugkörper erzeugte nur ein leises, kaum hörbares Rauschen. Wahrscheinlich lag das daran, dass sie jetzt mit Überschallgeschwindigkeit vorankamen und die durch den Antrieb verursachten Erschütterungen hinter sich zurückließen.

    Das Flugzeug überquerte gerade einen Gebirgszug des Transhimalaya. Manche der Gipfel ragten so hoch empor, dass ihnen das Flugzeug ausweichen musste und sie knapp daran vorbeiflogen. Bei diesen Manövern wurde es kurzfristig wieder laut – die Turbinen heulten auf. Extreme Schräglage zum Ausgleich der Fliehkräfte. Aussicht nach oben und unten: Oben Sicht in blendende Helle, doch der Blick hinunter verlor sich im Schatten von Schluchten und Abgründen. Ein ähnliches Gefühl hatte Edwin überkommen, als er die ersten Male mit dem Keilflügler über New York geflogen war, über die Hochbauten und Straßenschluchten, doch da wäre es immerhin noch jederzeit möglich gewesen, auf dem flachen Dach eines Wolkenkratzers zu landen. Was da unten lag, kam ihm wie ein überdimensioniertes aufgerissenes Maul vor, das bereit war, alles zu verschlingen, was ihm zu nahe kam.

    Thor, der die Empfindungen von Edwin richtig gedeutet hatte, wies in die Richtung schräg nach vorn und sagte: „Dort sieht man schon das Tal des Kyi Chu. Und dort, hinter der Biegung des Flusses, liegt Lhasa."

    „Wie kommt es eigentlich, dass sich ein Unternehmen wie Nanox gerade dort niedergelassen hat?", fragte Edwin.

    „Es war meine Idee, erklärte Thor, und als Reaktion auf den erstaunten Blick von Edwin fügte er hinzu: „Ich bin der Sohn des Gründers von Nanox, Maximilian Crantz. Die Kollegen und Berater meines Vaters fanden Lhasa gut. Etwas Spektakuläres, Exklusives – ein einmaliges Machtsymbol! Allerdings auch das: Erhebliche steuerliche Vergünstigungen durch die Staatführung. Für China war es ein Prestigeobjekt, den aufstrebenden Nanox-Konzern in seinen Einflussbereich zu bekommen. Dafür garantierte er langfristige Rohstoff-Lieferungen, auch von den neu erschlossenen lunaren Abbaugebieten. Als die Chinesen am Höhepunkt ihrer Wirtschaftskrise den Potala-Palast zum Kauf anboten, griff Nanox zu – wie schon bei Zypern und der Tundra in Kasachstan. Mit Lhasa konnte Nanox jedoch ein Zeichen für seine Bedeutung setzen, das alles Vergleichbare übertraf.

    Das Flugzeug war in eine Kurve gegangen, unten schien sich das weißblau spiegelnde Band des Flusses aus dem flachen Talgrund herauszuheben, und Thor deutete hinunter – „ … dort, der Palast …"

    Etwas leiser, wie zu sich selbst, sprach Thor weiter: „Ich habe mir das ganz anders vorgestellt. Ich wollte ein historisches Monument vor der Banalisierung retten. Ein Kulturzentrum für die ganze Welt, aber keinen Tummelplatz von Touristen – das gleichermaßen ein Machtzentrum des Weltkommerzes ist. Was mir vorschwebte, was etwas ganz anderes: Eine Erinnerung an eine Gemeinschaft, die sich der Spiritualität verschrieben hatte. Ein Beweis, dass es außer Geld noch andere Werte gibt …"

    Draußen war die Stadt zu sehen. Die Szene beherrscht vom pyramidenförmigen Hügel mit den abwechselnd weißen und braunen Gebäudeteilen, recht davon ein Feld mit hellgrauen Blockbauten, und dahinter, in der Ferne, die Silhouetten der Hochhäuser aus der Zeit der chinesischen Besetzung. Darüber lag das dunkle Blau von dünnem Nebel, durchschnitten von drei Säulen aus Laserlicht. Sie bildeten das große ‚N’, das weltbekannte Wahrzeichen von Nanox inmitten eines mit Lichtstrahlen gezeichneten Polyeders.

    Ihr Flugzeug setzte auf. Der Tibeter – der während des gesamten Fluges stille dritte Passagier – war aufgestanden und hatte den Tragesack zum Ausgang gezerrt. Und schon öffnete sich die Luke, das Laufband war bereits angedockt, und die Gäste ließen sich von ihm ins Freie tragen, wo es zu Fuß weiterging – inmitten einer kühlen Weite, die selbst hier, an der Landefläche, in den Himmel überzugehen schien.

    Erklärung

    Ich, Dr. Clemens Norwik, Forschungsleiter im Laboratorium für Memoforming der Universität Uppsala (Universitas Regia Upsaliensis), Schweden, erkläre hiermit, dass ich mich zu einem Selbstversuch entschlossen habe, den ich im Hinblick auf den aktuellen Fortschritt in meinem Fachgebiet für unerlässlich halte. Gewiss befindet sich die von unserem Arbeitsteam entwickelte Methodik der rückwirkenden Veränderung von Erinnerungen noch im Zustand des Experiments, und es bedarf zweifellos noch detaillierter Untersuchungen, bevor an eine praktische Anwendung – vor allem in Medizin und Unterricht – zu denken ist. Doch schon jetzt wird klar, dass sich die bisherigen praxisnahen Ergebnisse nur beschränkt auswerten lassen, solange die mit dem neuen Instrumentarium der Infiltration von Nanospeichern erzielten Ergebnisse an Tieren nur von außen beurteilt werden. Das liegt vor allem daran, dass die Wirkungen, um die es geht, in einem subjektiven Rahmen auftreten und daher nur durch Introspektion unverfälscht erkannt und beschrieben werden können.

    Überlegungen dieser Art wurden bisher nicht angestellt, da sich das Forschungsvorhaben den speziellen Vorgaben gemäß zunächst auf Wirkungen auf höher entwickelte Säugetiere beschränken sollte, doch kann man heute schon mit Sicherheit erwarten, dass sie sich genauso gut an Menschen erzielen lassen. Es ist damit zu rechnen, dass der Wunsch, diese Annahme praktisch zu bestätigen, früher oder später auch bei meinen Kollegen auftreten und diese eventuell zu eigenmächtigen Versuchen in dieser Richtung verleiten könnte. Es ist wohl nicht zu leugnen, dass ich als Leiter der Gruppe ‚Memoforming’ einer Verantwortung unterliege, die auch das Wohl und Wehe der im Labor beschäftigten Mitarbeiter betrifft, und das ist einer der Gründe, die mich zu meinem Entschluss geführt haben: Ich darf nicht zulassen, dass mir einer der Kollegen mit

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