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Damit mein Kind sich besser fühlt: Wie aus Frustration, Wut und Co Superkräfte werden
Damit mein Kind sich besser fühlt: Wie aus Frustration, Wut und Co Superkräfte werden
Damit mein Kind sich besser fühlt: Wie aus Frustration, Wut und Co Superkräfte werden
eBook529 Seiten5 Stunden

Damit mein Kind sich besser fühlt: Wie aus Frustration, Wut und Co Superkräfte werden

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Über dieses E-Book

Die Pubertät stellt Kinder und Eltern vor ganz neue Herausforderungen. Gefühlsstürme gehören dazu. Mit unbekannter Intensität und abrupten Umschwüngen wirken sie auf die Jugendlichen ein und erfassen auch ihr Umfeld. Natalie Hissen zeigt, wie Sie als Eltern Ihren 11- bis 16-jährigen Kindern helfen können, starke Emotionen wie Frustration, Wut, Angst oder Eifersucht in wahre Superkräfte zu verwandeln. Entdecken Sie das enorme Potenzial schwieriger Emotionen, schafft das die Grundlage, ihnen mit einer neuen befreienden Sichtweise zu begegnen. Sie und Ihre Kinder erleben die emotionalen Herausforderungen nicht mehr als belastend, sondern konstruktiv und verbindend. Sie als Eltern erhalten die Chance, Ihre eigenen Gefühle besser zu verstehen und in Ihrer elterlichen Rolle zu wachsen. Jedes Kapitel widmet sich einer primären Emotion (Wut, Frustration, Eifersucht, Angst, Traurigkeit und Mutlosigkeit). Basierend auf dem neusten wissenschaftlichen Stand behandelt die Autorin jede Emotion eingehend, wobei sie Herausforderungen, Herangehensweisen und Entwicklungspotenzial herausarbeitet. Denn jede Emotion birgt eine besondere Stärke, die den Kindern für ein erfülltes Leben zugutekommt.
SpracheDeutsch
HerausgeberVandenhoeck & Ruprecht
Erscheinungsdatum9. Sept. 2024
ISBN9783647992891
Damit mein Kind sich besser fühlt: Wie aus Frustration, Wut und Co Superkräfte werden
Autor

Natalie Hissen

Natalie Hissen, Diplom-Psychologin, Psychotherapeutin, Familientherapeutin, Elterncoach, aufgewachsen in Deutschland und den USA, lebt seit Ende der 1990er Jahre in Frankreich. Sie arbeitet in einer psychologischen Beratungsstelle für Familien in Paris. Als Leiterin eigener Elternprogramme zur Gefühlsbewältigung von Kindern teilt sie ihr Wissen mit Eltern in Webinaren, Workshops und Vorträgen.

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    Buchvorschau

    Damit mein Kind sich besser fühlt - Natalie Hissen

    Teil I

    Kapitel 1 Die Kraft der Gefühle

    Was sind Emotionen? Das deutsche Wort »Emotionen« kommt von dem lateinischen Wort »emotere«, das wortwörtlich »Energie in Bewegung« heißt. Unsere Gefühle – als Energie in Bewegung – kann man sich wie innere Schwingungen vorstellen, die wir jederzeit in uns haben, meist ohne, dass wir uns dessen bewusst sind. Diese uns permanent durchlaufenden Schwingungen machen die Qualität unseres Lebens aus, denn sie haben einen erheblichen Einfluss auf unser psychisches und physisches Wohlbefinden.¹ Gefühle sind wie eine unsichtbare Macht, die unsere Entscheidungen und Handlungen, mehr als wir denken, beeinflusst.² Sie lösen hormonelle (Dopamin, Adrenalin, Cortisol) und physiologische Reaktionen aus, die unsere Energiequellen sind. Sie sind es, die uns den Tatendrang geben, Dinge mit Leidenschaft zu unternehmen und zu verändern. Sie sind eine Kraft, die Kriege auslösen und Frieden stiften kann, die Millionen motivieren kann, sich gegen Regime zu erheben, die uns heiraten lässt und die uns das bedeutungsvollste Leben, von dem man träumen kann, erleben lässt!

    Ich lade Sie zu einer kleinen Übung ein, die Ihnen zeigt, was Gefühle mit uns machen. Sind Sie bereit? Wenn ja, auf geht’s.

    Gefühle sind wesentlich von uns beeinflusst und nicht, wie oft geglaubt, etwas, das einfach über uns hereinbricht und dem wir ausgeliefert sind.

    Wenn Sie dieses Buch gekauft haben, dann wünschen Sie sich wahrscheinlich, dass Ihre Kinder sich besser fühlen, gerade falls sie mit Ängsten, Frustrationen, Eifersucht, Traurigkeit etc. zu kämpfen haben. Denn diese Gefühle, im Gegensatz zu den guten, haben leider auch die Kraft, das Leben sehr einzuschränken und sie unglücklich werden zu lassen. Schwierige und unangenehme Gefühle sind Energien, die lähmen, blockieren, mutlos und krank machen können. Die Gefahr bei negativen Gefühlen ist, dass wir Menschen unsere Herzen verschließen, uns »einpanzern«, fliehen, um uns vor den unangenehmen, schmerzlichen Empfindungen zu schützen. Dies alles sind jedoch Schutzmechanismen (Verdrängung, Abspaltung), die nicht effizient sind. Denn sie führen dazu, dass diese unliebsamen negativen Gefühle sich bei uns einnisten oder gar zu einer dysfunktionalen Bewältigung führen³, die das Risiko für psychische Störungen erhöht. Somatisierungen, Panikattacken oder Depressionen sind mögliche Auswirkungen der »Schattenseiten« negativer Gefühle, von denen wir Menschen – und eben auch unsere Kinder – beherrscht werden können, wenn sie nicht wahrgenommen und ernst genommen werden.

    Von daher ist es ratsam, dass wir Eltern unseren Kindern das Gefühl geben: Da ist jemand für mich da, dem ich vertrauen kann, der mich auffängt, mich versteht, mir zuhört, mich aufbaut und der mich durch den Prozess der Gefühlsarbeit begleitet, damit ich wieder Zuversicht haben kann. Wir können dies als eine Art Fürsorgepflicht sehen, die wir Eltern gegenüber unseren Kindern in jedem Alter haben: Dass wir sie in allen Aspekten ihres Weges mit Wertschätzung, Respekt und Würde begleiten, auch an verregneten Tagen. Ihre wohlwollende Haltung als Eltern befähigt Ihre Kinder, mit diesen negativen Gefühlen ganz anders umzugehen, wir können ihnen eine große Hilfestellung geben.

    Wie Eltern den Gefühlszustand ihrer Kinder beeinflussen können

    Was haben wir für Möglichkeiten, Einfluss auf den Gefühlszustand unserer Kinder zu nehmen? Haben wir diese überhaupt? Ja, das haben wir! Und wir tun es bereits, seitdem sie geboren sind. Unser Gefühlszustand überträgt sich auf sie und umgekehrt. Wissenschaftliche Studien konnten diese Resonanzphänomene zwischen Eltern und Babys aufzeigen⁴ und nachweisen, zu welchen schädlichen Auswirkungen es kommt, wenn diese synchronen Anpassungen zwischen (z. B. depressiven) Müttern und Babys nicht entstehen.⁵ Ohne die Fähigkeit des Empathievermögens, d. h. uns in andere hineinzufühlen und entsprechend Einfluss auf ihren Gemütszustand zu nehmen, hätte unsere Spezies nicht überleben können.⁶

    # Empathie

    Empathie spielt beim Umgang mit den Gefühlen der Kinder eine entscheidende Rolle. Sie umfasst eine kognitive und eine emotionale Komponente. Die kognitive ermöglicht es uns, die Gedanken anderer zu verstehen, während die emotionale uns hilft, uns in den anderen einzufühlen, seine feinen emotionalen Schwingungen wahrzunehmen, um dadurch zu deuten, was der andere empfindet und seine Gefühle zu erkennen.

    In den letzten zwanzig Jahren haben Forscher und Forscherinnen die Hirnprozesse, die bei Empathie eine Rolle spielen, identifiziert, einschließlich der wichtigen Rolle von Spiegel- und Spindelneuronen und der Verbindung zwischen dem inneren Abgleichen eigener Empfindungen⁷ und dem präfrontalen Cortex. Dieses Zusammenspiel zerebraler Prozesse ermöglicht uns, die Resonanzen zu interpretieren⁸ und unsere Reaktion entsprechend anzupassen.

    Empathie war ein wichtiger Überlebensvorteil in der menschlichen Evolution, da sie half, das Verhalten anderer vorherzusagen. Sie half auch dabei, Vertrauen aufzubauen und Kooperation zu fördern. Wir lesen ständig die Emotionen und Gedanken anderer, meist unbewusst. Diese emotionale Intelligenz spielt bei Verhandlungen, Beratungen oder auch für die Psychotherapie eine große Rolle. Empathie ist ein ganz wichtiger Grundstein unseres sozialen Zusammenlebens. Leider kann Empathie von manipulierenden und narzisstischen Personen auch ausgenutzt werden, gerade weil sie sich so gut in andere hineinversetzen können.

    Empathie ist also nicht immer positiv, sondern neutral und kann prosozial oder antisozial angewandt werden. Mitgefühl geht über Empathie hinaus, da es zugewandte Fürsorge und Betroffenheit um das Leid und die Missgeschicke anderer einschließt. Die »gute«, d. h. prosoziale Empathie, wie Mitgefühl, ist besonders wichtig, um die Emotionen unserer Kinder richtig zu deuten und ihnen beim Verarbeiten zu helfen, indem wir ihre Gefühle reflektieren.

    Als unsere Kinder noch Babys waren nutzten wir Resonanzphänomene⁹, um auf das Wohlbefinden der Säuglinge einzuwirken. Wenn unser Baby schrie und wir es schafften, uns selbst zu beruhigen und zu entspannen und uns ganz auf den Moment einzulassen, ohne an z. B. das zu denken, was alles noch erledigt werden musste, dann hatte das eine beruhigende Wirkung auf unser Kind. Waren wir hingegen angespannt und gestresst, so war die Wahrscheinlichkeit groß, dass unser Kind anfing zu weinen. Wollten wir unser Baby beruhigen oder zum Lachen bringen, haben wir es in unseren Armen gewogen, haben gesungen, es angelächelt, mit sanfter Stimme aufs Baby eingeredet, Grimassen geschnitten, es mit unserem humorvollen Verhalten überrascht etc. und so Einfluss genommen auf den emotionalen Zustand unseres Kindes.

    Sobald unsere Babys größer und zu Kleinkindern geworden sind, haben wir ihren emotionalen Zustand, z. B. Wut, mit unserem Gesichtsausdruck meist übertrieben stark nachgeahmt. So konnte das Kind anhand unseres gespiegelten Ausdrucks erkennen, was es fühlte. Gleichzeitig merkten die Kinder, dass wir ihr Gefühl lediglich nachahmten, weil, das konnten Untersuchungen zeigen, Erwachsene (gewollt) etwas übertreiben¹⁰, wenn sie die Wut, Traurigkeit etc. der Kleinkinder spiegeln. Kinder spüren, dass diese Emotionsäußerung von uns nur gestellt ist und wir in dem Moment nicht wirklich wütend oder traurig sind. Kinder sehen sofort den Unterschied. Das ist aber unerheblich dafür, dass unsere ihre Emotionen spiegelnde Mimik den Kleinkindern hilft, zu verstehen, was in ihnen vorgeht, ohne dass Eltern dafür Worte benutzen müssen.

    Während unsere Kinder langsam etwas älter werden, legen wir die übertriebene Gesichtsmimik allmählich weitestgehend ab und kommunizieren hauptsächlich mit Worten über ihre Empfindungen. Man kann immer wieder beobachten, wie z. B. eine Mutter zu ihrem lachenden Kind sagt: »Da freust du dich!« Oder, wenn es weint, weil es sich weh getan hat: »Oh, das tut dir jetzt weh.« Das heißt, sie formuliert Hypothesen über das, was ihr Kind empfindet, teilt diese dem Kind mit überzeugtem Nachdruck mit, so als sei das Gefühl eine Tatsache. Das Kind identifiziert sich dann mit dieser »Unterstellung« und »weiß« jetzt, dass es sich freut oder Schmerzen hat. Hier beginnen sich die Dinge zu verkomplizieren: Denn man könnte versucht sein zu glauben, dass umgekehrt Wörter Empfindungen zum Verschwinden bringen könnten. So als würde die Mutter zum weinenden Kind, das sich weh getan hat, sagen: »Das tut dir jetzt nicht weh. Du empfindest keinen Schmerz.« Das würde eine Mutter aber nie zu ihrem Kind sagen. Es wäre absurd. Aber dennoch können wir dazu verleitet werden zu denken, dass wir mit Wörtern die Empfindung ändern können. Sagt z. B. unsere Teenagertochter unter Tränen zu uns: »Ich habe Angst, nicht genug gelernt zu haben!«, so ist unser erster Impuls sehr häufig, das Gefühl gut gemeint zu beschwichtigen: »Ach was, du bist gut vorbereitet, du brauchst keine Angst zu haben!« So einfach ist es dann aber doch nicht. Gefühle sind da und werden empfunden, so ist es. Sie haben eine tiefergehende Empfindung, die durch eine Beschwichtigung nicht einfach verschwindet. Wäre die Tochter noch ein kleines Mädchen, hätten wir mit einem übertrieben besorgten Gesichtsausdruck (mit aufgerissenen Augen und spitzen Lippen) auf ihre Äußerung reagiert. Wir hätten ihr zu verstehen gegeben, dass wir vermuten, dass sie sich ängstlich fühlt. Sie hätte verstanden, dass wir ihr Leid wahrnehmen, und gesehen, dass wir auch besorgt sind. Wir hätten ihr Gefühl bestätigt. Das hätte ihr gutgetan und eine neutrale Basis gegeben, von der aus sie mit ihrer Angst hätte umgehen können.

    Wenn wir Gefühle mit Worten »behandeln«, kommen die Techniken des Validierens und Labelns (Benennen) ins Spiel, die wir im Folgenden noch ausgiebig mit Beispielen besprechen werden. Sie sind die Grundlage für eine Akzeptanz und damit für eine Verwandlung der Emotion. Anders geht es nicht. Wir können nicht erwarten, dass das Kind sofort auf eine konstruktive Haltung umspringt, ohne dass wir zuvor sein Gefühl oder Empfinden bestätigt haben. Wir werden noch sehen, warum das so ist.

    Die Schattenseiten der Gefühle

    Möchten wir, dass unser Kind sich besser fühlt, müssen wir uns die Schattenseiten unangenehmer Gefühle genauer anschauen, denn wir werden über kurz oder lang mit ihnen konfrontiert sein. Jedes Kapitel, das eine Emotion bespricht, wird kurz ausführen, welche ihre Schattenseiten sind. Es ist normal und natürlich, dass unsere Kinder und wir selbst zunächst in diesen düsteren Anteilen der Gefühle gefangen sind: Wir sehen die Welt aus einem sehr eingeengten, verzerrten Blickwinkel.¹¹ Manchmal sind wir im Nachhinein selbst erstaunt, welche Gedanken uns zu dem Zeitpunkt bestimmten. Und wir wundern uns, was bei unseren Kindern, Jugendlichen, Partnern und Partnerinnen in diesen dunklen Moment aus ihnen hervorquillt. Die Gefahr ist, dass wir uns dazu hinreißen lassen, die Welt durch dieses Prisma der Wut oder Traurigkeit oder Angst etc. generell zu sehen. Das passiert möglicherweise, wenn wir es nicht schaffen, diese Anschauung nach Abebben der Emotion loszulassen. Nicht zu lange bei dieser Schattenseite zu verweilen, ist der springende Punkt. Wie stellen wir das an?

    Bei starken negativen Gefühlen gibt es oft innerpsychische Anteile, die aus den kindlichen Erfahrungen der Jugendlichen mitschwingen und gehört werden wollen. Eine 16-Jährige kann überraschend starke Eifersuchtsgefühle empfinden, bei der verletzte Anteile in ihr aktiviert sind, die sie als 5-Jährige erlebt hatte und damals nicht verarbeiten konnte. Sie reagiert folglich wie eine 5-Jährige und da müssen wir sie auch abholen, um ihr helfen zu können. Zwar richtet sich dieses Buch an Eltern mit Kindern im jugendlichen Alter, aber die Abgrenzung auf diese Altersspanne (zwischen 11 und 16 Jahren) ist etwas künstlich, denn wir können in jedem Alter von unseren emotionalen kindlichen Anteilen vollkommen eingenommen werden.

    ***

    Die Adoleszenz ist wie eine Art Wiedergeburt, eine Phase der Selbstreflexion und Suche nach Identität.¹² Vieles Bisherige wird von den heranwachsenden Kindern in dieser Zeit infrage gestellt und neu bewertet. Meine Kollegen und ich beobachten immer wieder, wie bei Jugendlichen alte Konflikte, Blessuren, negative Erfahrungen und Unsicherheiten im Bindungsverhalten aus der Kindheit »re-aktualisiert« werden. Das gibt uns die Möglichkeit, diese neu zu bearbeiten und zu »heilen«. Aus diesen Gründen werde ich im Folgenden die Bezeichnungen »Kind« und »Jugendliche« als Synonym benutzen: auch Jugendliche bleiben weiterhin unsere Kinder und kindliche Anteile werden weiterhin im jugendlichen Alter präsent bleiben.

    Wiederkehrende Emotionsmuster

    Negative Gefühlsmuster, die zu wiederholten emotionalen Krisen führen, ohne dass sich eine Wandlung oder Verarbeitung vollziehen lässt, sind bei Jugendlichen häufig zu beobachten. Sie scheinen in bestimmten wiederkehrenden Schemata stecken zu bleiben. Selbstmitleid ist ein solches ineffizientes Gewohnheitsmuster (▶ 5. Kapitel: Frustration begegnen). Ich veranschauliche diese Haltung mit dem Begriff »Gewohnheitsemotionen«.

    Wenn Ihr Kind immer wieder ähnliche emotionale Krisen nach den gleichen Mustern wiederholt, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass es sich um eine Gewohnheitsemotion, wie ich sie hier nenne, handelt: Ihr Kind hat noch nicht viel Übung darin, unterschiedliche Emotionen bei sich wahrzunehmen und differenzierter auf seine Empfindungen zu reagieren, weshalb es bei jeder emotionalen Erregung auf das gleiche Gefühl mit der gleichen Reaktion zurückkommt. In meiner eigenen Kindheit und Jugend war Angst mein prädominantes Gefühl. Gab es ein trauriges Ereignis, war mein erstes empfundenes Gefühl Angst. War ich aufgebracht: Angst. Selbst bei positiven Ereignissen beschlich sie mich manchmal! Es war für mich eine Gewohnheit geworden, immer so zu reagieren, ohne dass ich das infrage stellte.

    # Gehirn

    Wie das Gehirn Emotionen produziert

    In ihrem Buch »Wie Gefühle entstehen«¹³ erklärt die Psychologieprofessorin Lisa Feldman Barrett fundiert und schlüssig, wie Kleinkinder über viele Jahre Gefühle »lernen«. Alle Erfahrungen, so argumentiert sie, sind begleitet von körperlichen Empfindungen, dazu zählen auch Gefühle. Wenn ein Kind in verschiedenen Situationen Glück empfunden hat und dieses als solches bezeichnet wurde, werden diese Erfahrungen, die eine große Anzahl von Neuronen und Synapsen umfasst, in eine Oberkategorie »Glück« zusammengefasst abgelegt. Dadurch können sie leichter abgespeichert und vom Gehirn verarbeitet werden, ohne dass jedes Mal die große Fülle an Synapsen aktiviert wird, die zum ersten Verständnis von Glück geführt haben. Feldman Barrett sagt, darüber hinaus hilft eine solche Organisation im Gehirn recht zuverlässig dabei vorauszusagen, was man in verschiedenen Situationen empfinden wird. Wird eine Person mit dem Gefühl Glück assoziiert, so sagt unser Gehirn bei einem Wiedersehen voraus, dass es wahrscheinlich ein glücklicher Moment mit ihr wird.

    Es ist anzunehmen, dass bei Gewohnheitsemotionen die Vielfalt an unangenehmen Situationen, die man als Anlass für Eifersucht, Frustration, Ängste, Traurigkeit hätte bezeichnen können, recht alternativlos mit der gleichen Emotion beantwortet wird. Die Macht der Gewohnheit ist dafür verantwortlich, dass das Gehirn nicht viele Möglichkeiten hat, mit Situationen differenziert umzugehen. Die Person ist in ihrem Gefühlsmuster gefangen, da sie ihr Empfinden unpräzise immer ähnlich interpretiert. Das hindert die Person, sich nuanciert und angemessen einer jeweiligen komplexen Situation emotional anzupassen.

    Ich hatte vor ein paar Jahren eine amerikanische Coachingklientin, die, egal welchen Auslöser es gab, immer mit Wut reagierte: nicht nur auf Steuerbescheide, Staus, eine ungute medizinische Diagnose, auch als beim Terroranschlag 2001 die Zwillingstürme in ihrer Heimatstadt New York zusammenstürzten, war ihre erste Reaktion Wut. Diese undifferenzierte emotionale Reaktion wurde für sie in Trennungssituationen zu einem Problem. Wenn ihre erwachsenen Kinder sie besuchen kamen und dann wieder abfuhren, reagierte sie statt mit Traurigkeit mit Wut. Sie schimpfte über ihre Kinder, machte ihnen unrelevante Vorwürfe, z. B. dass eine Tochter vergessen hätte, das Licht auszumachen oder das Bett abzuziehen, was dazu führte, dass die Abschiede im Streit endeten und bei allen ein unschönes Gefühl hinterließen. Meine Klientin beklagte sich dann aufgebracht bei mir. Erst als ich sie fragte, ob sie nicht auch traurig sei, ihre Kinder nun für mehrere Monate nicht zu sehen, kam etwas in ihr in Bewegung.

    Wie in der Infobox beschrieben, sind unsere emotionalen Reaktionen eine auf eine (kleine) Emotion synthetisierte Zusammenfassung aller bisher in verschiedenen Situationen gemachten Erfahrungen. Dieses Zusammenfassen der Fülle an Erinnerungen zu einem Begriff, etwa »Ärger«, macht die Verarbeitung komplexer Situationen, wie die des Abschieds von seinen Kindern, für das Gehirn einfacher. Nur dass bei meiner amerikanischen Klientin diese undifferenzierte Zusammenfassung aller Erfahrungen in immer der gleichen Emotion ihr nicht halfen. Statt angepasst zu reagieren und die unterschiedlichen Gefühle effizient zu verarbeiten, war bei ihr nur Wut. Nachdem ihr klar wurde, dass sie im Grunde nicht wütend, sondern traurig war, schlug ich ihr vor, das nächste Mal, anstatt zu schimpfen, laut zu sagen: »Das ist jetzt wirklich traurig, dass wir uns trennen müssen. Ich werde euch sehr vermissen.« Die liebevolle tröstende Zuwendung, die sie daraufhin von ihren Kindern bekam, die Versprechen, bald wiederzukommen und eine Nachricht zu schicken, sobald sie angekommen seien, machten den Abschied zwar traurig, aber auch sehr viel einfacher und angenehmer.

    Das Problem bei undifferenzierten Gefühlsreaktionen ist, dass man in ihnen gefangen bleibt. Es ist fast unmöglich, diese Gefühlsmuster aufzulösen, da sie die echte Emotion überdecken. Man kommt bei den Gewohnheitsemotionen nicht an ihre wahre Wurzel mit ihrer tieferen Bedeutung, was verhindert, dass das zugrunde liegende Gefühl verarbeitet wird. Weil das eigentliche Gefühl nicht gehört wird, werden die emotionalen Reaktionen innerhalb des Gewohnheitsgefühls immer stärker.

    Marc ist 13 Jahre alt, seine Eltern haben einen Termin in unserem Beratungszentrum erfragt, weil er in der Schule und zu Hause immer größere Probleme mit seinen Wutausbrüchen hat. Im letzten Monat ist Marc deshalb sogar von seiner Schule verwiesen worden.

    Meine Kollegin Dr. Liang, Kinderpsychiaterin, und ich treffen ihn allein in unserem Büro und stellen ihm ein paar Fragen zu seinen Wutausbrüchen. Er sagt, er könne sie nicht kontrollieren, sie seien wie Vulkane, die plötzlich aus ihm hervorbrechen, wenn er sich verärgert fühlt. Wir fragen, ob er den computeranimierten Film »Alles steht Kopf« (2015) gesehen habe, was er bestätigt, und wir bitten ihn, uns die fünf Emotionen zu nennen, die im Zeichentrickfilm in Form von unterschiedlichen Kindern dargestellt werden. Er nennt alle fünf und schreibt sie auf ein Blatt Papier: Wut, Angst, Ekel, Traurigkeit, Freude. Wir bitten ihn danach, die Emotionen anzukreuzen, die er allgemein empfindet. Er macht ein großes Kreuz an das Wort Wut und sagt, dass er keine der anderen Emotionen je empfindet. Im Laufe des Gesprächs erklärt er, wie schlecht er sich fühlt, seine Wut nicht unter Kontrolle zu haben und wie er sich nachher oft schämt, anderen mit Worten und physisch wehgetan zu haben. Er überlegt und sagt, dass er manchmal richtig Angst davor habe, wie er reagiert. Er malt ein mittelgroßes Kreuz an das Wort Angst. Dann erwähnt er eine dramatische Szene am Abendbrottisch, bei der er seine ältere Schwester geschlagen und alles, was auf dem Tisch stand – Gläser, Teller, Messer –, durch die Küche geschmissen hat. Während er all das erzählt, hat er Tränen in den Augen. Wir fragen ihn, wie er sich im Moment fühlt. Marc gibt an, er sei wütend auf sich, dass er sich nicht besser unter Kontrolle habe und dass er daran arbeiten müsse. Wir weisen ihn darauf hin, dass wir den Eindruck haben, dass er sich eher traurig fühle und dass wir Tränen in seinen Augen sehen. Wir fragen ihn, ob er an das Wort Traurigkeit, das auf dem Blatt geschrieben steht, ein Kreuz machen wolle in der Größe, die ihm angemessen erscheint für die Traurigkeit, die er im Moment empfindet. Marc malt drei kleine Kreuze neben das Wort Traurigkeit und sagt, dass er sich häufig traurig fühle, dass das Gefühl aber nicht so stark sei wie seine Wut. Er fügt leise hinzu: »Eigentlich fühle ich mich immer etwas traurig.«

    Dieses Beispiel verdeutlicht, dass in Wirklichkeit die Traurigkeit das echte Problem von Marc ist. Solange diese von der Wut überdeckt wurde, konnte sie weder von Marc selbst noch seinem Umfeld wahrgenommen und behandelt werden. Seine Wutausbrüche wurden infolgedessen immer häufiger und stärker.

    Je mehr Kinder und Jugendliche verstehen, nuanciert und differenziert ihre Gefühle zu beobachten und über sie zu sprechen, desto besser können sie diese in den Griff bekommen und fühlen sich von ihnen weniger überwältigt.

    Wir werden im übernächsten Kapitel Werkzeuge besprechen, die Ihrem Kind helfen, besser mit seinen Gefühlen zurechtzukommen, und die Ihnen zeigen, wie Sie die Schattenseiten der negativen Emotionen in das warme Licht Ihrer elterlichen emotionalen Unterstützung verwandeln können.

    Zusammenfassung der wichtigsten Punkte von Kapitel 1

    →Emotionen sind Energien in Bewegung, Schwingungen, die einen erheblichen Einfluss auf unser Leben haben und uns mit wichtiger Lebensenergie versorgen.

    →Gefühle haben aber auch die Kraft, unsere Energien zu blockieren, uns zu lähmen und uns in unserem Leben sehr einzuschränken.

    →Für seine Kinder da zu sein, sie aufzufangen, sie zu verstehen und ihnen zuzuhören, ist eine wichtige Fürsorge, die Eltern ihren Kindern im Hinblick auf negative Gefühle geben können. Sie befähigt die Kinder, unangenehme Gefühle besser zu verarbeiten.

    →Über die Resonanzschwingungen der Gefühle können Eltern den Gefühlszustand ihrer Babys beeinflussen, später ist es die Gesichtsmimik, die die Emotionen des Kindes widerspiegelt, und schließlich sind es auch die (richtigen) Wörter und Sätze, mit denen Eltern positiv auf den Gefühlszustand ihrer heranwachsenden Kinder einwirken können.

    →Bei negativen Gefühlen verengt sich der Blickwinkel, oft wirken frühere verletzte kindliche Anteile auf das aktuell erlebte unangenehme Empfinden mit ein.

    →In der Adoleszenz können diese alten Wunden neu bearbeitet und geheilt werden.

    →Gewohnheitsemotionen sind sich wiederholende Gefühlsmuster, die dafür sorgen, dass man länger als nötig in den negativen Gefühlen gefangen bleibt.

    →Gewohnheitsgefühle sind präferierte Gefühle, die bei allen negativen Empfindungen immer die gleiche undifferenzierte Reaktion hervorrufen und die zu einer emotionalen Gewohnheit geworden sind. Sie überdecken alle anderen Emotionen.

    »Elle avait cette grâce fugitive qui marque la plus délicieuse des transitions, l’adolescence, les deux crépuscules mêlés, le commencement d’une femme dans la fin d’un enfant.«¹⁴

    Victor Hugo

    Kapitel 2 Die Gefühle in Zeiten des Umbruchs – die Adoleszenz meines Kindes

    Die Adoleszenz ist eine komplexe und bedeutende Lebensphase, die den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter markiert und eine Zeit der persönlichen Entwicklung, des Wachstums und der Erkundung darstellt. Wegen der lang andauernden Ausreifung des menschlichen Gehirns, die erst um das 25. Lebensjahr beendet wird, wird die Adoleszenzzeit heute immer häufiger bis dahin ausgeweitet. Sie unterscheidet sich qualitativ in ihrem Empfinden sowohl von der Kindheit als auch vom Erwachsenenalter. Vieles, was wir in dieser Zeit erfahren, werden wir weder zuvor noch später so erleben. Weil die Zeit der Adoleszenz eine so ungeheuerliche Veränderung unseres Kindes mit sich bringt, sind wir Eltern aufgefordert, uns mit ihm zu verändern. Nur dann können wir mit ihm – unter neuen Vorzeichen – verbunden bleiben.

    Die Adoleszenz fordert uns Eltern auf einer ganz anderen Ebene heraus als die Kleinkindzeit. Intensive Gefühlsschwankungen und andere, im Folgenden ausgeführte Eigenartigkeiten stellen uns vor Rätsel, die nicht immer leicht zu entschlüsseln oder zu verstehen sind. Darüber hinaus spüren wir ihren kritischen Blick. Unsere Kinder scheinen uns nicht nur als Eltern zu beobachten und zu bewerten, sondern auch als Mensch: unseren Charakter, unsere Werte, unsere Stellung in der Gesellschaft, die Sinnhaftigkeit unseres Lebens. Jungen rivalisieren in der Regel mit ihren Vätern, taxieren sie nicht selten kritisch nach deren Status oder gesellschaftlichem Prestige oder messen sich an ihrer Dominanz und ihrem Durchsetzungsvermögen. Mädchen rivalisieren eher mit der Attraktivität und dem Aussehen ihrer Mütter. Auch die Fähigkeit der Eltern, »reif« mit den Herausforderungen ihres eigenen Lebens umgehen zu können, wird unter die Lupe genommen. Reagieren wir Eltern kindisch, unüberlegt und nicht auf der »Höhe« der Ideale unserer Kinder, glauben Sie mir, kritisieren sie uns mit Ablehnung. Jugendliche sind generell ziemlich enttäuscht von ihren Eltern, denn sie sind in einem Prozess der »Entthronung« des Elternideals, wie Sigmund Freud¹⁵ es ausdrückte. Er führte in einem Briefwechsel aus, dass der Sohn sich dem Vater unterlegen fühlt und deshalb strebt, das Ich-Ideal des Vaters¹⁶ zu entthronen, um diesen übertreffen zu können. Diese Entthronung des Elternideals, das die Jugendlichen in ihrer Kindheit von ihren Eltern hatten, kommt einer 180°-Kehrtwende gleich. Nachdem sie ihre Eltern in der Kindheit bewundert und verehrt haben, spielt die Neubewertung der Eltern eine wichtige Rolle in der psychischen Entwicklung der Kinder und trägt zur Bildung ihrer Persönlichkeit bei. Es ist ein sehr wichtiger Prozess, denn ohne ihn könnten unsere Kinder selbst nie den »Thron des Erwachsenenseins« eines Tages besteigen. Es ist gut, wenn sie ihre Eltern kritisieren! Unter Familientherapeutinnen sagen wir, es sei ihre Aufgabe als Jugendliche, ihre Eltern infrage zu stellen und ihre Grenzen zu testen.¹⁷ Würden sie es nicht tun, würden sie die ihnen aufgetragene Aufgabe der Differenzierung und Erschütterung der bisherigen Familienordnung nicht erfüllen. Eltern müssen diese ihr Ego in Mitleidenschaft ziehende Entwicklung akzeptieren und ihr gewachsen sein. Sie ist natürlich und positiv. Wir sollten uns darüber freuen! Jugendliche rufen uns auf den Schauplatz einer generellen und grundsätzlichen Über- und Aufarbeitung all dessen, was bis dato gültig war.

    Dieses Buch begleitet Sie auf den emotionalen Achterbahnfahrten Ihrer pubertierenden Kinder und stößt innere Prozesse der Wandlung auch bei Ihnen an. Und das ist gut! Damit Sie schwierige negative Emotionen, die man durchaus auch als Eltern in dieser Phase der Adoleszenz erfährt, kompetent und weise verarbeiten können. Nur wenn Sie selbst diese Fähigkeit der Emotionsverarbeitung erlangen oder ausbauen, können Sie sie weitergeben. Dafür braucht es die Achtung und das Gehör Ihrer jugendlichen Kinder. Nur dann können Sie diesen mit ihren negativen Emotionen behilflich sein. Können wir selbst unsere eigenen verletzten kindlichen Anteile, die uns bei Wut, Frustration, Angst und Co einnehmen, nicht annehmen und verwandeln, erscheint es anmaßend, dies von unseren Kindern zu erwarten.

    Was die Adoleszenz mit meinem Kind macht

    Das Wort Adoleszenz beinhaltet die Veränderungen im Verhalten, Stimmungsschwankungen und das Bewusstsein der Jugendlichen über das eigene Selbst. Die Bezeichnung geht über die Definition der Pubertät hinaus, die durch die biologischen, physischen und hormonalen Veränderungen, die die Reproduktionsfähigkeit und sexuelle Reife initiieren, charakterisiert ist. Ich möchte im Folgenden auf drei Besonderheiten, die die Adoleszenz unter anderem ausmacht, eingehen, denn diese können für unsere Kinder Quelle negativer Emotionen und Konflikte sein. Wenn wir z. B. über Ängste sprechen, bekommen diese vor dem Hintergrund, dass Jugendliche sich in einer Ablösungsphase befinden und sich aufmachen, am Ende ihrer Adoleszenz neue Horizonte (Studium, neues Sozialleben, Eigenständigkeit) zu erobern, eine neue »Färbung«. Die Vorstellung, dass sie die Geborgenheit und Sicherheit ihrer Familie verlassen werden, können Versagens-, Trennungs- und Zukunftsängsten eine ganz eigene Intensität und Dynamik geben.

    ***

    Wir werden nun auf drei Aspekte der Jugend und der in ihr stattfindenden Metamorphose eingehen:

    1. Die Mutation des jugendlichen Körpers und deren Konsequenzen für das Selbstbild, die Identifikation und die aufkeimende Sexualität;

    2. die Wichtigkeit der Peergruppe,

    3. das Phänomen der imaginären »Allmächtigkeit« oder Omnipotenz der Jugend.

    1. Zur körperlichen Metamorphose: Pubertierende Kinder durchlaufen eine für sie selbst ungewöhnliche Veränderung ihres Körpers und Seins von einem kindlichen zu einem erwachsenen Ich. Diese Transformation erleben die Jugendlichen wie etwas, das völlig außerhalb ihrer Kontrolle mit ihnen passiert.¹⁸ Sie müssen sie über sich ergehen lassen, ob sie wollen oder nicht. Sie wachsen, sie bekommen Rundungen oder einen Stimmbruch, Körperhaarwuchs, schwitzen stark, bekommen Pickel, werden ungelenk und schlaksig, sind oft müde und dann wieder aufgekratzt, ohne dass sie diese Prozesse in irgendeiner Weise steuern können. Fragile Jugendliche können sich von ihrem eigenen Körper und dessen ihnen aufgedrängten Veränderungen regelrecht verfolgt oder schikaniert fühlen. In der Adoleszenz, so A. Birraux, ist »der Feind der Körper«¹⁹: auf ihn wird zum Teil Frustration, Ärger und Hass projiziert, die Jugendliche während dieser Metamorphose mitunter empfinden. Auch lässt sich häufig beobachten, dass der jugendliche Körper extrem gepflegt, geschminkt, kostspielig angezogen wird, um seine »gruseligen« Züge zu kaschieren.²⁰

    Heute wissen wir, dass das, was Jugendliche erleben²¹ und wie sie sich verhalten mit den Gehirnveränderungen während der Adoleszenzzeit zusammenhängt. Sie ist die wichtigste biologisch-somatische Veränderung des Körpers: die Wandlung vom Kindergehirn ins Erwachsenengehirn. Wissenschaftliche Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass sich Gehirnregionen während der Pubertät unterschiedlich schnell entwickeln.²² So gibt es eine zeitliche Kluft zwischen einerseits der Entwicklung des Striatum, der Amygdala, dem limbischen System und andererseits der des kognitiven Kontrollsystems (präfrontalen Cortex). Das Striatum sorgt dafür, dass das Belohnungsstreben besonders ausgeprägt ist.²³ Das Florieren des Gefühlsgehirns (Amygdala und limbisches System) lässt Jugendliche viele neue, intensive Gefühlserfahrungen erleben, erklärt jedoch auch emotionale Dysregulation während dieser nonlinearen Entwicklung des Jugendgehirns.²⁴ Die beiden Gehirnregionen haben während der Adoleszenz eine Dominanz über den präfrontalen Cortex. Dieser präfrontaler Cortex, ein Juwel des fortgeschrittenen Denkens, ist verantwortlich für unser höheres, analytisches und bedachtes Denken und ist normalerweise eine Kontrollinstanz in Bezug zu den Gefühlen und dem Belohnungs- und Genussstreben. Durch sein nonlineares Wachstum und die Neustrukturierung ist das Gehirn in der Adoleszenz also insgesamt in einer scheinbar ungünstigen Schieflage, da die Kontrollinstanzen des Vernunftgehirns dem Streben nach Vergnügen, Belohnung und intensiven Gefühlserfahrungen des Striatums und der Amygdala nicht gewachsen ist. Es spricht jedoch einiges dafür, dass es genau die beschriebene Kluft in der Gehirnentwicklung mit verspäteter Ausreifung des Vernunftgehirns braucht, damit Jugendlichen die kritische und schwierige Ablösung und Selbstständigkeit vom Elternhaus gelingt. Die Lust auf Abenteuer und das Entdecken neuer Horizonte, die unvernünftige Risikobereitschaft dank des Erstarken des Striatums, das Verlangen nach neuen sozialen Beziehungen mit Gleichaltrigen, die Suche nach potenziellen Geschlechtspartnern und -partnerinnen und der starke Wunsch nach intensiven Gefühlsempfindungen infolge des Wachstums und der vollen Entfaltung des limbischen Systems und der Amygdala gepaart mit Unbesonnen- und Gedankenlosigkeit des im Verhältnis unterentwickelten präfrontalen Cortexes²⁵ erleichtern diese nach Freud größte Herausforderung des Lebens.²⁶ Interessant, wie die Natur die innerpsychischen Entwicklungsprozesse der Jugendlichen ermöglicht, oder?

    Diese von der Natur vorgegebene zerebrale Schieflage hat für Eltern so manche nervenaufreibende Konsequenz. »Weniger noch als in der Kindheit kann man auf sie zählen oder sich auf ihre Vernunft verlassen. Sie machen, was sie wollen, ohne sich an Vorschriften zu halten, Gewissen und Schuldgefühle sind wenig vorhanden, sie haben kein Problem damit, zu lügen, Unterschriften zu fälschen und hinter unserem Rücken Verbote zu umgehen«, so ein aufgebrachter Vater über seine zwei pubertierenden Kinder. Das will nicht heißen, dass man Jugendlichen allgemein kein Vertrauen schenken kann, es steht jedoch alles unter diesen Vorzeichen des eingeschränkten Vernunftgehirns, das sich noch bis zum 25. Lebensjahr weiter ausbildet und wächst. Das Ungleichgewicht in der Entwicklung der unterschiedlichen Gehirnregionen kann also zum Teil (wobei es individuell unterschiedliche Ausprägungen gibt) risikoreiches, unvernünftiges Verhalten und eine erhöhte Vulnerabilität²⁷ bei Jugendlichen erklären. Diese starke Prädominanz des

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