Der Mensch ist mehr als seine Krankheit: Systemische Soziale Arbeit im Krankenhaus
Von Ursula H. Pabsch
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Über dieses E-Book
Helmut Pauls
Niemand ist alleine krank
Schwere Erkrankungen sind für die Betroffenen wie für ihre Angehörigen emotional belastend. Soziale Fachkräfte müssen in der Lage sein, mit solchen Belastungen professionell umzugehen. Die Voraussetzung dafür ist – neben Empathie und Selbstfürsorge – eine kompetente Kommunikation sowohl mit Patient:innen und Angehörigen als auch dem medizinischen Personal.
Ein ressourcen- und lösungsorientierter Dialog, wie er in der systemischen Familientherapie praktiziert wird, bietet für die soziale Beratung im Kurzzeitsetting "Klinik" entscheidende Vorteile. Ursula Pabsch bereitet zentrale systemische Konzepte, Techniken und Interventionen für die Soziale Arbeit im Krankenhaus auf und lädt Sozialarbeiter:innen ein, diese in ihre tägliche Praxis aufzunehmen.
Die Anwendungs- und Fallbeispiele gehen auf die vielfältigen Auswirkungen von Erkrankungen in dem jeweiligen familiären Kontext ein, was den Transfer in den eigenen klinischen Alltag erleichtert. Eine Besonderheit sind die regelmäßigen Fragen zur Reflexion des eigenen Handelns. Sie tragen dazu bei, die eigene Kompetenz zu erweitern und das professionelle Standing zu festigen – sei es im Akutkrankenhaus, in der Rehabilitationsklinik oder in einer ambulanten Beratungsstelle.
Die Autorin:
Ursula H. Pabsch, Dipl.-Päd.; Systemische Therapeutin, Beraterin, Supervisorin und Organisationsentwicklerin; langjährige Tätigkeit in der klinischen Sozialarbeit; selbstständig in außerklinischem Case Management und Supervision; Inhaberin des Intensivpflegeportals www.leben-mit-intensivpflege.de; Beraterin von Intensivpflegediensten.
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Buchvorschau
Der Mensch ist mehr als seine Krankheit - Ursula H. Pabsch
Vorwort
Im Gesundheitswesen arbeitende Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter stehen vor spezifischen Herausforderungen, insbesondere in Kliniken – Akutkrankenhäusern und Rehabilitationskliniken aber auch in ambulanten Beratungsstellen zu spezifischen Krankheitsbildern, in der Pflegeberatung, Rehabilitationsberatung und in poststationären Einrichtungen zur Langzeitbetreuung. Patienten mit komplexen Krankheitsbildern, schweren oder chronischen Erkrankungen erfordern ein fundiertes soziopsychisches Verständnis der Krankheit, der laufenden Behandlung und ihrer Auswirkungen auf die Lebensführung. Schwere Erkrankungen sind für die Betroffenen und ihre Angehörigen emotional belastend, und die sozialen Fachkräfte müssen in der Lage sein, mit solchen Belastungen umzugehen und gleichzeitig professionell zu bleiben.
Die Kommunikation mit Patienten, ihren Familien und dem medizinisch-therapeutisch-pflegenden Team ist dabei eine Herausforderung. Die Zusammenarbeit mit den Fachkräften – wie Ärztinnen, Pflegepersonal, Psychologinnen und Therapeutinnen – erfordert eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit und Kommunikation, um unterschiedliche Perspektiven und Prioritäten der Beteiligten zu berücksichtigen und zu koordinieren. Die Bedürfnisse und Wünsche der Patienten variieren nicht nur in psychologischer Hinsicht, sondern ebenso mit ihren sehr unterschiedlichen Lebenslagen. Klinische Sozialarbeiter müssen klare Grenzen in ihrer Arbeit setzen und Fragen der Privatsphäre oder der Einwilligung von Patienten beachten. Hinzu kommen in immer größerem Ausmaß kulturelle Unterschiede und Bedürfnisse der Betroffenen und ihrer Angehörigen, aber auch die der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Notwendig sind interkulturelle Kompetenz und die Fähigkeit, mit zum Teil höchst unterschiedlichen Erwartungen und Gewohnheiten sowie den daraus resultierenden Bedürfnissen und Konfliktsituationen umzugehen und angemessene Unterstützung anzubieten. Die Aufgabenstellungen, die sich daraus ergeben, müssen situationsangemessen erkannt und passend für den Behandlungsablauf und das medizinisch-therapeutisch-pflegerische Team effektiv und effizient koordiniert werden. Allerdings stellen Kliniken und Einrichtungen des Gesundheitswesens meistens nur sehr begrenzte Ressourcen für psychosoziale Unterstützungsdienste zur Verfügung. So ist insbesondere seit der Einführung des gesetzlichen Anspruches auf ein Krankenhausentlassmanagement der zeitliche Rahmen für eine Beratung immer kürzer, der Druck auf den Sozialdienst und die Anspruchshaltung der Patienten aber immer größer geworden. So müssen Klinische Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sehr effizient mit diesen Ressourcen umgehen und Prioritäten setzen, um diejenigen zu unterstützen, die diese Hilfe am dringendsten benötigen. Dabei kommt die direkte Arbeit mit den Patienten oft zu kurz: Bürokratie und Dokumentation von Interventionen und Unterstützungsmaßnahmen sind zeitaufwendig, und die direkte Zeit, die die Fachkräfte mit den Patienten verbringen können, ist limitiert. Nicht selten verkümmert der Auftrag einer soziopsychisch ganzheitlichen Beratung zur zeitnahen und knappen Organisation der weiteren Versorgung. Trotz dieser Herausforderungen und Einengungen ist die klinisch profilierte Sozialarbeit unerlässlich, um eine umfassende patientenzentrierte Versorgung im Sinne der Gesundheitskonzeption der WHO (körperlich, psychisch und sozial) sicherzustellen.
Die entsprechenden methodischen Aufgabenstellungen im Krankenhaus sind vielfältig und darauf ausgerichtet, die soziale und emotionale Gesundheit der Patienten zu fördern und deren Genesung zu unterstützen. Häufige Aufgabenstellungen, die die Bezeichnung »sozialtherapeutisch« verdienen, ist psychosoziale Beratung für Patienten und ihre Angehörigen, um mit den emotionalen Herausforderungen, die eine schwere Krankheit in der Regel mit sich bringt, umzugehen. Dies kann Stressbewältigung, Trauerarbeit, Konfliktlösung und insbesondere auch Ressourcenvermittlung umfassen. In den Gesprächen mit den Patienten geht es dann um Informationen über das soziale Umfeld, die familiäre Situation und aktivierbare soziale Unterstützungssysteme.
Ziel ist auch die Unterstützung des therapeutischen Teams, um die Behandlung und auch die Nachsorge bestmöglich an die individuellen Bedürfnisse und die Lebenslage der Menschen anzupassen. Die professionelle soziale Unterstützung kann auch Hilfen bei der Organisation von Besuchen, der Betreuung von Kindern oder der Bewältigung von finanziellen Herausforderungen einschließen.
Bei der Vorbereitung auf die Entlassung aus dem Krankenhaus arbeiten klinisch-sozialarbeiterische Fachkräfte daran sicherzustellen, dass die Patienten über die notwendigen Ressourcen und Unterstützungssysteme verfügen bzw. diese erhalten, um ihre Genesung zu Hause fortzusetzen. Dies kann im Rahmen von Anschlussheilbehandlungen die Koordination von Pflegeleistungen, physiotherapeutische Nachsorge, Anleitung zur Medikamenteneinnahme oder die Einleitung von Rehabilitationsmaßnahmen umfassen, was in Fällen von Erkrankungen, die eine langfristige Rehabilitation erfordern, eine wichtige Rolle bei der Wiederherstellung der Selbstständigkeit und sozialen Integration spielt. Last but not least gibt es Aufgaben der Unterstützung und Entscheidungshilfe in ethisch komplexen Situationen, wie Entscheidungen am Lebensende oder bei Konflikten über medizinische Interventionen.
Ursula Pabsch stellt in ihrem Buch vor diesen Hintergründen, die sie kritisch herausarbeitet und beleuchtet, die Möglichkeiten systemischer Methodik als einer spezialisierten Form der Beratung und Intervention im Rahmen Klinischer Sozialarbeit in Krankenhaus und Gesundheitswesen vor. Sie beschreibt eindringlich die verschiedenen Spannungsfelder, die für die Soziale Arbeit als Profession zu durchaus vielfältigen Dilemmata führen: so z. B. die Fragen des Verständnisses von Gesundheit und Krankheit aus einer sozialklinischen Perspektive, die Differenzierungen zwischen generalistischer Sozialarbeit und Klinischer Sozialarbeit, die zu große Distanz zwischen Klinischer Sozialarbeit und Systemischer Beratung und Therapie, aber auch die berufspolitischen Herausforderungen und das berufliche Selbstverständnis von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern. Sie stellt fest, dass die Chance zu einer Aufwertung der Profession im interdisziplinären Feld nur selten genutzt wurde und wird. Dabei geht es ihr um ein deutliches Zeichen für die Bedeutsamkeit der Profession – auch als eigentlich zum therapeutischen Team gehörige – und zwar immer dann, wenn komplexe soziale Dynamiken eine Rolle spielen (was ja in immer mehr Behandlungsverläufen der Fall ist).
Patienten und ihre Familien werden in ihrem sozialen, kulturellen und emotionalen Kontext und den damit verknüpften (zunehmend interkulturellen) Beziehungsgeflechten behandelt, sodass die medizinischen Aspekte der Erkrankung im Zusammenhang mit den sozialen und emotionalen Bedürfnissen zu sehen sind, einschließlich der Identifizierung von Ressourcen, Unterstützungssystemen und Barrieren. Eine Palette von Interventionsmöglichkeiten veranschaulicht die Methodik systemischer Arbeit vor dem Hintergrund der theoretischen Fundierung.
Kleine Fallvignetten, Fragen zur Reflexion von Problemstellungen sowie konkrete Anregungen zum Vorgehen in der Arbeit mit Patienten machen dieses Buch zu einem geeigneten Lehr-/Lernexemplar. Insbesondere die bereits angedeuteten Aufgabenstellungen der Kommunikation zwischen Patienten und Familienmitgliedern/Angehörigen können von der systemischen Vorgehensweise profitieren. Zentral ist dabei immer wieder der fördernde Begegnungsaspekt. Systemisch kompetente Klinische Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter können so den Behandlungs- und Heilungsprozess fördern, indem man den Fokus der Behandlung nicht nur auf die Individuen, sondern auch auf die Patienten- und Behandlungssysteme richtet, um so die Anpassungsfähigkeit, Compliance und Bewältigungskapazitäten zu unterstützen und damit die Qualität der Versorgung im Krankenhaus entscheidend zu verbessern.
Helmut Pauls
Berlin, im September 2023
Einleitung
Im klinischen Kontext ist systemisches Arbeiten eher ungewöhnlich. Es gibt Literatur zur systemischen Familienmedizin, aber das Buch zur Anwendung von systemischen Methoden in der Klinischen Sozialarbeit fehlte noch. Dies mag vielleicht daran liegen, dass es in diesem Arbeitsfeld eher um Kurzzeitsettings geht und der Mythos besteht, man bräuchte für systemisches Arbeiten viele Beratungstermine. Dass auch in kurzen Zeitfenstern der Begegnungen systemisches Arbeiten möglich ist, zeige ich mit diesem Buch und schließe so die erwähnte Lücke.
Ich erläutere zum einen den theoretischen Hintergrund und die Grundbegriffe Systemischer Beratung. Zum anderen stelle ich ausgewählte Methoden für den klinischen Kontext vor. Das Buch richtet sich an Sozialarbeiterinnen, die in einer Einrichtung im Gesundheitswesen arbeiten. Das sind in der überwiegenden Zahl Kliniken – Akuthäuser wie auch Rehabilitationskliniken. Aber auch die verschiedenen ambulanten Beratungsstellen zu spezifischen Krankheitsbildern, Pflegeberatung, Case Management, Rehabilitationsberatung und poststationäre Einrichtungen zur Langzeitbetreuung können davon profitieren.
Sozialarbeit in Kliniken ist eine erklärungsbedürftige Profession für Menschen, die noch nicht in den Genuss dieser besonderen Unterstützung gekommen sind. Jeder weiß, was eine Ärztin tut oder auch die Pflegekräfte leisten, aber der Sozialdienst ist eher ein unbeschriebenes Blatt. Betroffene Patienten lernen ihn umso mehr schätzen, wenn sie ihn brauchen.
Für die Profession Soziale Arbeit an sich ist der systemische Ansatz im klinischen Bereich eher unbekannt. Die gängige theoretische Grundlage der Sozialen Arbeit im Krankenhaus ist das biopsychosoziale Modell. Darauf bauen die Interventionen auf, mit denen wir ein adäquates Nachsorgekonzept für die Patienten entwickeln.
Mit dem 2018 eingeführten gesetzlichen Anspruch auf ein Krankenhausentlassmanagement (nach § 39 Abs. 1a SGB V) ist in Kliniken der zeitliche Rahmen für eine Beratung immer kürzer, der Druck auf den Sozialdienst und die Anspruchshaltung der Patienten aber immer weiter gewachsen. So verkümmert der Auftrag von einer ganzheitlichen Beratung zur zeitnahen Organisation der weiteren Versorgung. Dagegen abgegrenzt wird in der Lehre der Sozialen Arbeit die Klinische Sozialarbeit mit einem heilenden Auftrag im Kontext des Gesundheitswesens. Ziel ist eine psychosoziale Belastungs-, Krisen- und Krankheitsbewältigung durch soziale Integration.
Dieser scheinbare Gegensatz von zeitnah und heilend lässt sich mit systemischer Kompetenz und Haltung auflösen. Die Methoden eignen sich sehr gut, um auch im klinischen Kurzzeitsetting nachhaltig therapeutisch zu wirken. Für die Entwicklung von langfristigen Perspektiven bei gesundheitlichen Problemen – unabhängig, ob bei körperlichen oder seelischen Herausforderungen – ist die Kombination von sozialarbeiterischen Kompetenzen mit systemischer Haltung ideal. Lösungs- und ressourcenorientiertes Arbeiten lenkt den Blick von administrativer Arbeit auf den Menschen mit seiner Persönlichkeit. So kann man den Hilfeplan zielorientiert an den Bedürfnissen und der Lebenswirklichkeit der Patienten und den Angehörigen entwickeln.
Die Erweiterung der Sozialen Arbeit in Kliniken mit systemischen Methoden und ihre standardisierte Anwendung wurde in der Lehre bisher vernachlässigt. Dazu soll das Buch einen Beitrag leisten und richtet sich explizit auch an die Studierenden.
Mit der Beschreibung der verschiedenen Spannungsfelder im Gesundheitswesen wie auch in der Sozialen Arbeit werden die vielfältigen Dilemmata im Berufsfeld deutlich:
Gesundheit ↔ Krankheit,
Gesundheitswesen ↔ Heilungsauftrag
Soziale Arbeit ↔ Klinische Sozialarbeit
Systemische Therapie ↔ Systemische Sozialarbeit.
Hier zeigt sich z. B., dass ein gut gemeinter Hilfeplan sehr stark von den strukturellen Hilfsangeboten oder auch von den medizinischen Nachsorgemöglichkeiten abhängig ist. Hinzu kommt die Compliance der Patienten bei medizinischen Therapieempfehlungen. Jeder Mensch hat seine eigenen Vorstellungen von einer wirkungsvollen medizinischen Therapie.
Grundlage der vorgestellten Methoden ist neben der Theorie die systemische Haltung. Sie macht für mich das berufliche Ethos aus. Eine Methode muss aus einem theoretischen Kontext mit konsekutiver Haltung heraus zielgerichtet angewendet werden (vgl. Levold 2021, S. 220–223). Der reflexive Dialog mit ressourcen- und lösungsorientierten Fragen ist sehr hilfreich bei der Bewältigung von kritischen Lebensereignissen wie z. B. einer schweren Erkrankung. Er ist für mich die Grundlage für hilfreiches sozialarbeiterisches Handeln in Kliniken und anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens.
Die Methodensammlung gibt einen Überblick über verschiedene Möglichkeiten, mit den Patienten und ihren Familien sowie auch den Kolleginnen in einen reflexiven Dialog zu treten. Mit Kolleginnen meine ich Vertreterinnen aller Berufsgruppen, intern im Krankenhaus wie auch extern. Dabei gehe ich von der systemisch-konstruktivistischen Hypothese aus, dass niemand alleine krank ist und auch niemand alleine heilt.
Bei der Darstellung der Interventionsmöglichkeiten erläutere ich die Methode an sich, die theoretische Rahmung und vertiefe sie mit beispielhaften systemischen Fragen. Wichtig ist mir dabei der fördernde Begegnungsaspekt zwischen Klienten und Sozialarbeiterinnen. Nützliche Fragen zur Reflexion des eigenen Handlungsprinzips am Ende jeder Methodenerläuterung fördern die Betrachtung der Metaebene bei der Anwendung. Sie sind als Mikrointervision gedacht und bieten die Möglichkeit, das eigene Handeln zu hinterfragen.
Im Kapitel zur Sozialen Diagnostik, die eine zentrale Methode der Sozialarbeit ist, stelle ich die Verbindung zum systemischen Arbeiten her. Es ist ein Beispiel für methodische Synergien, die das Leben als Sozialarbeiterin erleichtern können.
Der Blick auf Familienphasen, Erkrankungsphasen und die unterschiedlichen Auswirkungen zeigt die Vielfalt der zu beachtenden Lebenssituationen. Das Gleiche gilt auch für die Beschreibung der sehr unterschiedlichen klinischen Praxisfelder, wobei ich mich auf diejenigen beschränke, in denen ich selbst praktisch tätig war.
Fallbeispiele aus meiner Tätigkeit runden den Blick in die systemische Praxis im Gesundheitswesen ab.
Die Schlussgedanken widme ich dem beruflichen Selbstverständnis und dem Marketing in eigener Sache. Diese Themen werden im Lehrplan für Soziale Arbeit leider immer noch vernachlässigt. Im Rahmen meiner bundesweiten Seminartätigkeit kamen sie jedoch regelmäßig spätestens am Nachmittag einer Veranstaltung in den Diskussionen an die Oberfläche.
Da 78,8 % der nichtmedizinischen Mitarbeiterinnen im Gesundheitswesen weiblich sind (vgl. Statista GmbH 2022), habe ich mich entschieden, in diesem Buch bei der Bezeichnung der Fachleute durchgängig die weibliche Form zu verwenden. Die Männer im klinischen Bereich sind damit natürlich auch angesprochen. Bei den übrigen Personenbezeichnungen benutze ich die männliche Form, mit der auch die anderen Geschlechter gemeint sind.
1Menschenbild
Wer es sich zur täglichen Aufgabe macht, Menschen in Notsituationen zu helfen, sollte sich bewusst sein, welches Menschenbild sein Handeln prägt. Den Menschen an sich gibt es natürlich nicht. Sozial arbeitende Menschen werden ja auch darauf getrimmt, hilfsbedürftige Menschen dort abzuholen, wo sie im Moment stehen, oder besser: steckengeblieben sind.
So treffen zwei Menschen aufeinander. Einer fühlt sich kompetent und voller Tatendrang. Der andere weiß nicht so recht, ob ihm etwas fehlt, ob er sein Leben wieder in den Griff bekommt, ob er vielleicht große Fehler gemacht hat und ob er jemals die Hilfe bekommt, die er sich wünscht. Geht der eine davon aus, zu wissen, was für den anderen gut ist, so wird er sich in der Begegnung anders verhalten als jemand, der den Hilfesuchenden erst mal kennenlernen möchte – unabhängig davon, ob dieser tatsächlich seine kompetente Hilfe benötigt. Herbert Eberhart spricht von der »wertschätzende[n], einfühlende[n], zum Verstehen bereite[n] Neugier« (Bürgi u. Eberhart 2004, S. 42) aufseiten der Beraterin.
In diesem Fall gehe ich davon aus, dass mein Gegenüber alle Möglichkeiten in sich hat, die es braucht, um sein Leben in seinem Sinne positiv gestalten zu können. In guten Zeiten ist man sich der eigenen Fähigkeiten bewusst und kann sie nach Bedarf abrufen. In schwierigen Zeiten ist das Bewusstsein ein wenig oder auch etwas stärker getrübt. Die bunten Farben des Lebens verblassen, es wird grau, die Probleme scheinen den Alltag zu erdrücken, und in den Gedanken breitet sich Hilflosigkeit aus. Dabei scheinen alte Problemlösungsstrategien vergessen, oder es müssen andere gefunden werden.
Die Gewissheit der ausreichenden Fähigkeiten und der zuversichtliche Glaube an den vermeintlich »Hilflosen« ermöglichen dem Helfer, die Kräfte des »Hilflosen« wieder zu mobilisieren oder ihm Möglichkeiten zu zeigen, wie er sich ihrer gar erst bewusst werden kann. Diese helferimmanente Vertrauensbasis ist unbedingte Voraussetzung für hilfreiches Handeln im professionellen sozialen Kontext, unabhängig von der verwendeten Technik. Es fällt mitunter schwer, diesen Glauben nicht selbst zu verlieren, angesichts der Fülle der zu lösenden sozialen Probleme. Hier liegt die Gefahr, als Helfer zum Macher zu werden, die Kompetenzen des Hilflosen erst gar nicht entdecken zu wollen – aus vermeintlichem Zeitmangel, erlebter eigener Hilflosigkeit oder gar aus überzeugtem Aktivismus.
So entsteht ein Kreislauf von Inkompetenz, Hilfe, erfahrener Inkompetenz mit Verringerung des Selbstwertgefühls und Manifestierung der Inkompetenz. Auch wohlgemeinte Hilfe kann schon zu viel sein auf dem Weg zu den verschütteten Fähigkeiten. Hier geht es um die Entscheidung der Beraterin, die Klienten mit Begriffen der Pathologie oder der Kompetenz wahrzunehmen.
Woran merkt nun unser Klient, dass wir an ihn glauben? Welche grundsätzliche Haltung leitet mein Handeln? Diese Haltung ist schwer in Worte zu fassen. Es ist die Art, wie wir miteinander in Kontakt treten, wie wir unseren Dialog gestalten und wie kongruent unser Verhalten ist. Interessieren wir uns für seine Geschichte? Bewerten wir seine Meinung oder bekämpfen wir sie gar? Halten wir das Gefühl der Hilflosigkeit aus oder verlieren wir in Zeiten des Schweigens oder bei Tränen die Orientierung? Gelingt es uns, mit den Klienten gedankliche Freiräume zu schaffen, um mögliche Lösungen als Visionen kreieren zu können?
Wir können im Gespräch mit zirkulären Fragen Außensichten einführen und so das bevorzugte Spiegelbild des Klienten in seinem sozialen Beziehungsnetz erkunden. Wie ist seine Wahrnehmung, wie konstruiert er sich seine Welt und wie erklärt er sie sich? Kommen in seinem Weltbild positive Veränderungen vor? Wie erklärt er sich seine Erkrankung? Dabei setzte ich voraus, dass ich als Helferin neugierig bin auf seine Art, Leben zu gestalten und Beziehungen zu leben. Es geht nicht darum, die Welt zu verbessern und jeden vor seinem Unglück zu bewahren oder zu heilen. Ich bin dort, um sie in Zeiten der verborgenen Fähigkeiten ein Stück des Weges zu begleiten. Diese ressourcenorientierte Arbeitshaltung verlangt von mir eine große Ruhe und Gelassenheit in der Beratung. Ich muss mich mit meinen Werten und Ansichten zurücknehmen, um den Kompetenzen des anderen Raum zu verschaffen.
Um zu dieser Haltung zu gelangen, ist die Auseinandersetzung mit der eigenen privaten Weltgeschichte notwendig. Was weiß ich von mir und