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Papst und Zeit: Heilsgeschichte und Weltpolitik
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eBook1.859 Seiten60 Stunden

Papst und Zeit: Heilsgeschichte und Weltpolitik

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Über dieses E-Book

Wahre Lehre und falsche Dokumente, heilige Kriege und diplomatische Kunst: Die katholische Kirche kennt die Abgründe der Politik; schließlich entstand sie aus messianischer Antipolitik. Wie aber konnte eine verfolgte Migrantensekte aus dem Nahen Osten zur größten Institution der Weltgeschichte werden? Warum ist das immer wieder gefährdete Papsttum heute die Verkörperung von Kontinuität? 

Der Philosoph und politische Theoretiker Otto Kallscheuer analysiert die Kirche als Corpus, erzählt von der Orthodoxie als Erfindung, vom Klerus als Rückgrat und von der Rettung des Katholizismus durch die Frauen. Er berichtet von den Päpsten als Kriegsherren und Friedensvermittler, als Feinde der Aufklärung und Befreier von weltlicher Ideologie – und von ihrer Verzweiflung angesichts der Weltkriege des Zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Problemgeschichte des kirchlichen Rom bringt auch die spirituelle Grammatik des Westens zum Vorschein. 

Längst verlagert sich der Schwerpunkt der katholischen Christenheit in den globalen Süden. Gelingt es heute einem lateinamerikanischen Papst, in den neuen-alten Weltkonflikten, gegenüber dem Haß aktueller Volks- und Religionskriege zum Friedensstifter zu werden?

Papst und Zeit liefert die historischen und politischen Hintergründe zu den aktuellen Debatten in der katholischen Kirche – auch zu Zerreißproben im Vatikan. Um das Papsttum zu begreifen, braucht es Weltgeschichte und Theologie.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. März 2024
ISBN9783751820318
Papst und Zeit: Heilsgeschichte und Weltpolitik
Autor

Otto Kallscheuer

Otto Kallscheuer, Philosoph und politischer Theoretiker, lebt in Berlin und Rom. Zu seinen Veröffentlichungen zählen Die Wissenschaft vom Lieben Gott, Zur Zukunft des Abendlandes, Das Europa der Religionen, Gottes Wort und Volkes Stimme. Er war regelmäßiger Autor in Die Zeit, der NZZ, der FAZ, im Kursbuch und im Merkur, und ist derzeit Mitglied der Grünen Akademie sowie der Jury »Sachbücher des Monats« für Die Welt und den rbb. Als Grenzgänger interessieren ihn diskursive Brücken zwischen verschiedenen Disziplinen und Wissenschaftsbereichen – über Fachgrenzen und nationale oder kontinentale »Forschungsblasen« hinaus.

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    Buchvorschau

    Papst und Zeit - Otto Kallscheuer

    I. INTROITUS

    EIN WUNDERBARER SONNTAG

    Morto un papa se ne fa un altro.

    Vox populi romani

    Zwei, drei, vier Päpste

    Dass in Rom zwei Päpste gleichzeitig residieren, war in den letzten Jahrhunderten unüblich. Nur im christlichen Mittelalter kam dies mitunter vor. Dann freilich war es undenkbar, dass beide Pontifices gedeihlich zusammenarbeiteten: Zwei Päpste in der Ewigen Stadt – das bedeutete eo ipso, dass sie auf Kriegsfuß miteinander standen. Also residierte jeder der beiden in einer anderen römischen Basilika, wenn er sich nicht in der uneinnehmbaren Engelsburg am Tiberufer verschanzte (dort konnte ihm der andere Papst nichts anhaben). Jeder der beiden wurde von einer anderen stadtrömischen und/oder kirchlichen Partei unterstützt, vielleicht sogar von einer auswärtigen Großmacht (häufig Frankreich oder Spanien). Und so setzte ein jeder der beiden Pontifices den jeweils anderen ab, exkommunizierte ihn mit päpstlichem Edikt als üblen Betrüger, verdammte diesen »falschen« oder »Gegenpapst« per Bannspruch. Leider musste er noch warten, bis dessen städtische Parteigänger geschlagen waren … oder bis dessen auswärtige Schutztruppen wieder aus Rom abzogen. Dann erst konnte er den Usurpator aus dem Lateranpalast oder dem Vatikan vertreiben, um als einziger, wahrer Nachfolger Petri auf dessen Bischofsstuhl Platz zu nehmen. – Gütliche Einigung? – Undenkbar. Einer von beiden musste der falsche sein.

    Ein römisches Wunder also, dass am 27. April 2014 nicht weniger als vier Päpste gleichzeitig und in voller Harmonie den Petersplatz als Zentralbühne der katholischen Weltkirche vor über einer Million katholischer Pilger in einer gemeinsamen Zeremonie bespielten.¹ – Aber war nicht nur einer davon der echte? – Zugegeben, der tatsächlich seit nun einem Jahr amtierende Pontifex war Papst Franziskus.² Doch auch sein Vorgänger, der im Vorjahr vom römischen Bischofsamt zurückgetretene Benedikt XVI., nahm prominent und für alle sichtbar – urbi et orbi – im weißen Papsthabit an der Feier dieser doppelten Heiligsprechung teil. Und zur Ehre der Altäre erhoben wurden zwei Kollegen, zwei im Bewusstsein vieler Gläubiger äußerst lebendige Päpste des zwanzigsten Jahrhunderts: Johannes XXIII. (1958–1963), der Papst des Zweiten Vatikanischen Konzils, und Johannes Paul II. (1978–2005), der polnische Pontifex, der das Schiff der katholischen Kirche durch die Schlussphase des Kalten Kriegs gesteuert und ins neue Jahrtausend geführt hatte.

    Himmlische Karrieren …

    Schon länger auf der Warteliste für Heiligsprechungen stand der rundliche Bauernsohn Angelo Roncalli, il papa buono, der sogar bei den italienischen Kommunisten populäre »gute Papst« Johannes XXIII. Der ehemalige Patriarch von Venedig hatte nur wenige Monate nach seiner Wahl das für die katholische Kirche bahnbrechende Zweite Vatikanische Konzil angekündigt, alsdann vorbereitet … und 1962 auch tatsächlich einberufen. Von Pius IX. und dem Ersten Vatikanum einmal abgesehen, ist das vielen Päpsten im Hin und Her früherer Konzilien und Konzilsankündigungen nicht gelungen.

    Außerdem war mitten im Kalten Krieg Roncallis letzte Enzyklika Pacem in Terris (1963) als ein weit über die katholische Kirche hinaus relevanter Aufruf verstanden worden, weil er eine aktuelle, für die Überwindung sozialer Krisen und struktureller Kriegsgefahren bedeutsame Friedensbotschaft enthielt und diese auch in einer neuen Sprache verkündete. Deshalb hatten sich schon bald nach seinem Tod einige Bischöfe dafür ausgesprochen, Johannes XXIII. zeitnah auf dem Konzil per acclamationem heiligzusprechen – vergeblich. Seliggesprochen wurde Johannes XXIII. dann erst vier Jahrzehnte später von Johannes Paul II.³

    Dessen eigene posthume Heiligenkarriere hingegen hätte nicht steiler verlaufen können. Zur Totenmesse des athletischen Polen, des ehemaligen Erzbischofs von Krakau und nach viereinhalb Jahrhunderten ersten Nichtitalieners auf dem Stuhle Petri, waren neben einem Staraufgebot gekrönter Häupter und einer ganzen Riege amtierender wie ehemaliger Staats- und Regierungschefs über drei Millionen Menschen aus aller Welt in die Ewige Stadt gekommen. Auf dem Petersplatz erschallten gen Himmel die Rufe: Santo subito! Und es waren nicht allein polnische Patrioten, die von den Zuständigen im Vatikan eine »sofortige Heiligsprechung!« ihres Helden forderten. Nach seinem Pontifikat von mehr als einem Vierteljahrhundert war das Charisma von Johannes Paul II. unter Gläubigen in aller Welt lebendig geblieben – umstritten, aber ungebrochen, trotz und wegen seiner unnachgiebigen Haltung in der Abtreibungsfrage und der christlichen Sexualmoral. Die Begeisterung für den »Medienpapst« Wojtyła war kein fake.

    … und irdische Kampagnen

    Und dann gab es noch die organisierte weltweite Mobilisierung zur Heiligsprechung des polnischen Papstes: Für die Erhebung Johannes Pauls II. zur »Ehre der Altäre« engagierten sich ganz besonders einige neue kirchliche Bewegungen, insbesondere die italienische Comunione e Liberazione (CL) und das im franquistischen Spanien entstandene Opus Dei.⁴ Beide hatten sich in den letzten Jahrzehnten auch transnational ausgebreitet – und beide unterhielten beste Beziehungen bis in die Spitzen der römischen Kurie. Papst Wojtyła selbst hatte gerade diese beiden Gruppen ganz besonders gefördert, neben einigen anderen, oft von charismatischen Führern gegründeten neuen geistlichen Gemeinschaften (unter denen es freilich auch etliche faule Früchte gab: sektenartige Zwangsverbände wie Das Werk oder die Legionäre Christi).

    Der polnische Papst sah in solchen Gruppen zukunftsträchtige Formen einer Dynamisierung der Kirche und Gegengewichte zu manchen schwerfälligen (oder widerspenstigen) Bischofshierarchien. Zudem waren sie ad hoc einsetzbar … und ausgesprochen kampagnenfähig: Abertausende organisierte Jugendliche einer begeisterten »Generation Wojtyła« waren aus den Reihen solcher Bewegungen zu den Weltjugendtagen und anderen Massenevents des Papstes in aller Welt gereist. Jetzt, Jahrzehnte später, bildeten sie – im Bunde mit einigen Netzwerken von (neo-)konservativ eingestellten Bischöfen – eine Art innerkirchliche Lobby für die alsbaldige Heiligsprechung Wojtyłas, gewissermaßen im Vorhof des offiziellen Kanonisierungsprozesses. Das Motto dieser diffusen Pressure-Group: Jetzt, nach dem Tod des großen Steuermanns, drohe der Kirche allenthalben die Anpassung an den unheiligen Zeitgeist – und dagegen gelte es, mit dem Heiligen Johannes Paul II. sofort ein energisches Signal zu setzen: Santo subito!

    Nachfolger Benedikt XVI. war unter Johannes Paul II. für fast ein Vierteljahrhundert der oberste Glaubensprüfer der katholischen Kirche gewesen und teilte solche Ängste vor dem Abdriften in eine Welt ohne jeden Gottesbezug ganz offensichtlich. Er selbst hatte sie als Dekan des Kardinalskollegiums auf den Begriff gebracht, als er in seiner Rede zur Eröffnung des Konklaves (am 18. April 2005) die Kirche vor einer »Diktatur des Relativismus« warnte. [ FOCUS (2) Körperhaltung] Jetzt ließ der ansonsten – in dogmatischen Fragen – so hyperkorrekte Deutsche die Fristen für kirchliche Heiligsprechungen einfach unter den Tisch fallen: Benedikt XVI. wartete die vorgeschriebenen fünf Jahre nicht ab, welche eigentlich nach dem Tod eines im »Geruch der Heiligkeit« stehenden Menschen verstreichen müssen, bevor ein Kanonisierungsverfahrens überhaupt eröffnet werden darf. Nur einen Monat nach Karol Wojtyłas Tod startete Papst Ratzinger das Verfahren zu dessen Heiligsprechung – und bereits fünf Jahre später sprach er seinen Vorgänger selig! Die Santo-subito!-Bewegung hatte erfolgreich aufs Tempo gedrückt.⁵

    Kritische Erwähnung verdient leider eine der fragwürdigsten Nebenfolgen dieses (auch in der Kurie nicht unumstrittenen) kurzen Prozesses – es handelt sich um ein Nichtereignis: Fragen zu den seit einigen Jahren ans Tageslicht und in einigen Staaten vor die Gerichte drängenden sexuellen Missbrauchsaffären von allerhöchsten Würdenträgern der katholischen Kirche unter Papst Johannes Paul II. spielten in seinem Santo-subito-Verfahren praktisch keine Rolle. [ Kapitel XXIII. Missbrauchte Reinheit] Wenn sie am Rande zur Sprache kamen, so nur, um sogleich beiseitegewischt zu werden. Nein, es sei »keinerlei persönliche Verwicklung des Dieners Gottes [sc. Johannes Pauls II.] in das Verfahren gegen Pater Marcial Maciel bekannt«, erklärte Ratzingers Nachfolger als Präfekt der Glaubenskongregation, William Levada, im Seligsprechungsverfahren.⁶ Wie aber war es möglich, dass während Wojtyłas Pontifikat serielle Kinderschänder – wie der österreichische Kardinal und Wiener Erzbischof Hans-Hermann Groër, wie der US-amerikanische Purpurträger und Erzbischof von Washington Theodore McCarrick, wie der von Papst Wojtyła hochgeschätzte Gründer der Legionäre Christi, der Mexikaner Marcial Maciel Degollado – ihre kirchlichen Spitzenkarrieren über Jahrzehnte ungestört fortsetzen konnten?⁷

    Ließ sich Johannes Paul II. etwa von den militanten Bekenntnissen dieser vermeintlichen Diener der Kirche zu einer restriktiven Sexualmoral und zum resoluten Kampf gegen die Abtreibung über Gebühr beeindrucken? War der polnische Pontifex aufgrund seiner Lebenserfahrung unter zwei totalitären Systemen vielleicht zu wenig wählerisch bei der Auswahl von antikommunistischen Hardlinern innerhalb der Kirche? Hatte Johannes Paul II. nicht gerade die Legionäre des Bigamisten und Sexualstraftäters Marcial Maciel stets mit besonderem Wohlwollen bedacht? Welche Rolle spielten dabei Wojtyłas engste außen- und personalpolitische Berater, sein Privatsekretär Stanisław Dziwisz und sein Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano?

    Sollte vor 2017, als ein als Knabe missbrauchtes ehemaliges Opfer Mc-Carricks erstmals vor der New Yorker Erzdiözese Anklage erhob und Entschädigung forderte, tatsächlich niemand in der kirchlichen Hierarchie von McCarricks Neigungen geahnt, von seinen Missetaten gewusst, niemand die Zuständigen im Vatikan informiert haben? In den 1990er Jahren war (wie der 2020 vom vatikanischen Staatssekretariat veröffentlichte 450-seitige McCarrick-Report belegt) die Gewohnheit des damaligen Bischofs von Newark, junge Männer aus dem Priesterseminar in sein Bett einzuladen, nicht nur unter den Bischofskollegen der Nachbardiözesen (von Trenton, Camden, Metuchen, New York City) längst ein offenes Geheimnis; doch manche von ihnen gaben ihre Kenntnisse oder persönlichen Zeugnisse von McCarricks Unzucht mit Abhängigen eben nicht nach oben weiter. Und am Ende reichte offenbar allein ein persönlicher Brief von McCarrick an Wojtyłas Privatsekretär Stanisław Dziwisz im August 2000 aus, um das Veto dreier wichtiger (und mit McCarricks Fall befasster) Kardinäle wider seine mögliche Ernennung zum Erzbischof von Washington gegenstandslos zu machen.

    Johannes Paul II. kannte McCarrick bereits seit den 1970er Jahren aus seiner Zeit als Erzbischof von Krakau und mochte den Anschuldigungen gegen den alten amerikanischen Freund und Unterstützer des polnischen Freiheitskampfs in den Vereinigten Staaten einfach keinen Glauben schenken. Dreimal hintereinander beförderte er ihn auf der bischöflichen Karriereleiter nach oben, zuletzt zum Erzbischof der US-Hauptstadt Washington D. C., und schließlich machte er ihn sogar zum Kardinal – und dies allen kritischen Nachfragen aus der US-amerikanischen Kirche zum Trotz!¹⁰ Am Rande notiert: Ebenso wie Maciel war auch McCarrick ein begnadeter Fundraiser.¹¹

    Zeichen und Wunder

    Unterdes ward auch das erste »Beglaubigungswunder« in der causa Johannes Paul II. bezeugt. Denn auch nachdem vor der vatikanischen Kongregation für Selig- und Heiligsprechungen alle Fragen zum herausragenden Tugendgrad des oder der fraglichen Heiligen geklärt sind, so braucht es immer noch ein Wunder. Zumeist handelt es sich dabei um eine »medizinisch unerklärliche« Heilung, die der verstorbene »Diener Gottes« im Himmel durch seine Fürsprache bewirkt haben soll. Pro Seligsprechung genügt ein Wunder, für eine Heiligsprechung braucht es deren zwei.

    Und wenn Rom für die causa des oder der möglichen Heiligen empfänglich ist, dann bereitet es zumeist auch keine Probleme, in einem abgelegenen Nonnenkloster oder einer tieffrommen katholischen Familie solche Fälle von wundersamer Spontanheilung ausfindig zu machen: hier einen hoffnungslos Erkrankten oder dort eine unheilbar dahinsiechende Patientin, welche plötzlich und auf »wissenschaftlich unerklärliche« Weise dem medizinisch sicheren Tod entgangen sind. Etwa nach ihren ausdrücklich an diese(n) Heilige(n) im Himmel gerichteten Gebets- und Hilferufen und vielleicht gar verbunden mit einer persönlichen Vision des (oder der) Heiligen.¹²

    Solche Wunder finden sich immer – früher oder später. Für Johannes Pauls II. Heiligsprechung im Frühjahr 2014 (die nun bereits Benedikts Nachfolger Franziskus verkündete) musste in letzter Minute noch schnell das zweite Heilungswunder nachgeliefert werden: Nach der von Parkinson geheilten französischen Nonne war es nun eine Anwältin aus Costa Rica, die nach intensiven Gebeten zum verstorbenen Papst von ihrem Hirnaneurysma genesen war.

    Im Falle des ebenfalls bereits seligen Johannes XXIII. aber wollte der neue Papst nicht mehr auf ein zweites Wunder warten. Franziskus erließ es der Kongregation für die Heiligsprechungen, für die causa Roncalli eine weitere Wunderheilung zu präsentieren und wissenschaftlich gegenchecken zu lassen. In seinen Augen bedurfte die Heiligkeit Johannes’ XXIII. keiner weiteren Bestätigung. Papa Francesco hatte im ersten Jahr seines Pontifikats eindeutig an den pastoralen Zugang von Papa Giovanni angeknüpft: Ein halbes Jahrhundert nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil versucht Papst Bergoglio erneut ein Aggiornamento der katholischen Kirche, eine Generalüberholung ihrer Antworten auf die drängenden Fragen und Konflikte der heutigen Welt, die Erneuerung ihrer Sprache und Daseinsform.¹³

    Der argentinische Jesuit setzt dabei andere, deutlich offenere oder (vermeintlich) liberalere Akzente als sein direkter Vorgänger, der professore tedesco Ratzinger, und auch an den messianischen Führungsstil des polnischen Reise- und Tele-Evangelisten Wojtyła knüpft Bergoglio nicht an. Johannes Paul II. hatte nicht nur die Großen der Weltpolitik mit prophetischer Schärfe angeprangert – im Osten und im Westen, im Kalten Krieg wie in den Golfkriegen. Er hatte ebenso wenig davor zurückgescheut, weitverbreitete Lebenshaltungen (nicht nur) der westlichen Welt radikal infrage zu stellen und dabei insbesondere die Einstellungen der weltlichen Moral zur Zeugung und Abtreibung von Menschenleben scharf zu verurteilen. Gerade aus dieser moralischen Intransigenz gegenüber dem Saeculum speiste sich Johannes Pauls II. enorme religiöse wie politische Autorität.¹⁴

    In seiner Predigt an jenem Vier-Päpste-Sonntag im April 2014 charakterisierte Papst Franziskus den polnischen Pontifex als »Papst der Familie«.¹⁵ Das war gewiss nicht falsch, aber seine Wortwahl hatte auch damit zu tun, dass Bergoglio im Herbst desselben Jahres eine weltweite Bischofssynode zum Stand der katholischen Ehe- und Familienmoral nach Rom einberufen hatte. Erfolg oder Misserfolg dieser Versammlung würde zu einem nicht geringen Teil von der Haltung der in diesen Fragen resolut konservativen Wojtyła-Fraktion in der Kirche abhängen. In seinem »Plebiszit für Heilige« (Jörg Bremer) auf dem Petersplatz musste es also für Papst Franziskus darum gehen, beide gegensätzlichen Vorgänger für das eigene Pontifikat zu mobilisieren – beide, aber gemeinsam: den modernitätsoffenen Johannes XXIII., der sich bei der Einberufung des Zweiten Vatikanischen Konzils »vom Heiligen Geist feinfühlig [hatte] führen lassen«, wie Franziskus den neuen Heiligen in seiner Predigt lobte – gleichzeitig aber auch den dramatischen Kritiker der liberalen Moderne und führungsstarken Chef Joseph Ratzingers, Superpapst Johannes Paul II.

    Doppelspitzen

    Der argentinische Papst war keineswegs der erste, der diese Methode einer symbolischen Doppelbesetzung himmlischer Ehren zur Unterstützung irdischer Koalitionen in der katholischen Kirche eingesetzt hat. Auch der neue Heilige Papst Wojtyła, selbst absoluter Weltmeister in Sachen Heiligsprechungen, war bei der Seligsprechung von Papst Johannes XXIII. ähnlich verfahren. Ursprünglich hätte Angelo Roncalli nämlich gemeinsam mit einem anderen Papst geehrt werden sollen – und zwar einem Pontifex, welcher in fast jeder Hinsicht sein genaues Gegenteil verkörperte: mit Eugenio Pacelli, Papst Pius XII. Dessen »Beatifizierung« war in der vatikanischen Congregatio de Causis Sanctorum bereits seit Jahrzehnten vorbereitet worden. Angeblich fehlte nur noch ein Wunder.¹⁶ »Ich kenne die Gepflogenheiten nicht, die es dem Vatikan zur Pflicht machen, hin und wieder Heilige zu kreieren. Nun soll Pius XII. in die engere Wahl gekommen sein«, wunderte sich der Autor des Dramas Der Stellvertreter Rolf Hochhuth am 18. November 1999 im Spiegel: »Könnte man nicht einen anständigen Menschen wie Johannes XXIII. heilig sprechen?«

    Gerade noch rechtzeitig war sich Johannes Paul II. darüber klar geworden, dass diese Seligsprechung Pius’ XII. ein völliges Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre, zumal im Jubiläumsjahr 2000. Der polnische Papst hatte schließlich selbst dieses Jubiläum unter das Leitthema der »Reinigung des Gedächtnisses« gestellt.¹⁷ Doch eine solche, aufrichtige Reinigung stand (und steht) für das Pontifikat Pius’ XII. noch aus. [ Kapitel XIV. Tabula rasa] Das moralisch umstrittene, politisch unverständliche und historisch bis heute nicht vollständig aufgeklärte Schweigen des Pacelli-Papstes im Zweiten Weltkrieg angesichts des millionenfachen deutschen Massenmords an den europäischen Juden überschattet nicht nur die Erinnerung an die Person Pius XII. und seine Politik. Bis heute belastet es jedes Gespräch zwischen Juden und Christen – insbesondere natürlich von Verantwortlichen der römischen Kirche. Nun war gerade Karol Wojtyła derjenige Papst, welcher eine historische Versöhnung zwischen der katholischen Christenheit und dem jüdischen »Volk des Bundes« energischer betrieben hat als jeder andere römische Bischof vor ihm.¹⁸ Johannes Paul II. wusste also: Eine offizielle Seligsprechung des Pacelli-Papstes hätte auf dem schwierigen Weg zu einem ernsthaften christlich-jüdischen Erinnern und Versöhnen einen gewaltigen Rückschlag bedeutet – und so ließ der polnische Papst sie fallen.

    Doch damit musste jetzt – auch aus Gründen des binnenkirchlichen Konsenses – ein anderes himmlisches Gegengewicht zu Johannes XXIII. gefunden werden.¹⁹ Gesucht war ein konservativer Kontrapunkt zum Konzilspapst, zum Papst einer gefährlich »modernistischen« Öffnung der Kirche. Denn der Krakauer Erzbischof Wojtyła war zwar selber ein aktiver Protagonist auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil gewesen, aber Teile der Kurie (und konservative Kreise unter den Bischöfen weltweit) hatten Papa Giovanni dieses Zweite Vatikanum nie verziehen. Und dessen Folgen waren schließlich immer noch nicht ausgestanden …

    Und so tat Papst Wojtyła am Ende einen anderen Fehlgriff, indem er neben Papa Giovanni statt des zwölften nun einfach den neunten Pius-Papst beatifizierte: Pio Nono, den 1792 im Kirchenstaat geborenen Grafen Giovanni Maria Mastai Ferretti und ehemaligen Bischof von Imola – der Papst, der den Kirchenstaat verloren hatte, und der Papst mit der längsten Amtszeit der Kirchengeschichte (1846–1878). Dessen Seligsprechungsakten dämmerten schon fast ein Jahrhundert in den Schubladen der römischen Kongregation für Heiligsprechungen vor sich hin. (Fehlte da vielleicht ein Wunder?)

    Ebendieser neunte Pius hatte aber auch das Dogma von der unbefleckten Empfängnis der allerheiligsten Gottesmutter Maria zu verantworten. [ FOCUS (11) Unfehlbar unbefleckt] Und so war es nun offenbar ein Leichtes, vom glühenden Verehrer der Madonna Karol Wojtyła die päpstliche Zustimmung für seine Seligsprechung zu erhalten. Ein unnötiger Fehler war diese dennoch: Pio Nono war eben nicht nur der Papst enttäuschter liberaler Hoffnungen in Italien und des autoritären Backlash in der Kirche, der Pontifex eines Kalten Krieges wider Aufklärung, Liberalismus und Demokratie: Pius IX. war auch der Papst des Ersten Vatikanischen Konzils, das gegen alle Warnungen führender katholischer Intellektueller und Theologen 1870 das völlig überflüssige Dogma von der »päpstlichen Unfehlbarkeit« beschlossen hatte. [ Kapitel XIII. Ohnmächtige Machtergreifung]

    Johannes Paul II. mochte mit den autokratischen Neigungen des »letzten Papst-Königs« Pius IX. wenig Probleme gehabt haben. Papst Franziskus aber will an Wojtyłas charismatisch-autoritären Stil der Ausübung des päpstlichen Primats nicht anknüpfen, so wie er auch Johannes Pauls II. harte Linie in der katholischen Ehemoral nicht fortsetzen will. Doch für den Erfolg seines Pontifikats braucht Papst Bergoglio auch die loyale Mitarbeit der Wojtyła-Partei in der katholischen Hierarchie. An diese und andere konservative Gruppierungen im Kirchenvolk weltweit richtete sich denn auch das freundschaftliche Signal des vierten Papstes in dieser denkwürdigen römischen Szene vom 27. April 2014. Benedikt XVI., der nunmehr emeritierte Bischof von Rom, war anwesend. Ex-Papst Ratzinger, der engste theologische Kampfgefährte von Johannes Paul II., erschien bei der Heiligsprechungszeremonie seines ehemaligen Chefs, nun ebenfalls in weißer Robe, und wurde am Ende der Feier von Franziskus herzlich begrüßt. – Das Wort ergriff Ratzinger nicht. Seine Anwesenheit war die Botschaft.

    FOCUS (1) PRIMUS

    Wer war der erste Papst?

    Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen.

    Mt 16,18

    Heute ist der Papst in Rom das wohl markanteste institutionelle Charakteristikum der katholischen Kirche, und das Verhältnis zu »Rom« ist für viele, innerhalb und außerhalb dieser Kirche, auch das entscheidende Kriterium katholischer Identität.²⁰ Das war schließlich schon immer so. Oder? – Nun, diese Erinnerung täuscht. Nach allem, was wir aus der religions- und kirchenhistorischen Forschung wissen können, ist die katholische Kirche ohne Zweifel weitaus älter als das Papstamt. Und zwar um etliche Jahrhunderte. Gewiss schlugen die sogenannten Christen, zunächst eine in der jüdischen Diaspora des Römischen Imperiums entstandene Migrantensekte, schon ab ihren frühesten Anfängen auch in der Hauptstadt des Reiches Wurzeln. Mit den Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte unserer Zeit wurde Rom bald auch zur Hauptstadt der Märtyrer. Schon deshalb genoss die römische Gemeinde, samt ihrem Vorsteher, episkopos oder »Bischof«, im häufig gefährdeten Netzwerk der Jesus-Anhänger eine gewisse Autorität. Zu einer Zentrale der entstehenden Kirche wurde ihre römische Gemeinde zunächst dennoch nicht.

    Mehr noch: Alle entscheidenden Konstituentien von Kirchlichkeit, inklusive ihrer bischöflichen Verfassung, entstanden völlig unabhängig vom weitaus späteren Anspruch eines einzigen, nämlich des römischen Bischofs auf den Primat innerhalb der gesamten ökumenischen (oder Reichs-)Kirche. Das betrifft nicht zuletzt jene wesentlichen, die katholische Kirche als Kirche definierenden Charakteristika, die im Zentrum unserer folgenden vier Kapitel stehen:

    Es gilt für ihre Konsolidierung als eine Körperschaft: als innerweltliche Gemeinschaft der Verkündigung eines transzendent ausgerichteten Heils; [ Kapitel II]

    das gilt für den Universalismus ihrer Brüderlichkeitsethik mit ihrer Verpflichtung auf Lebensformen praktischer Nächstenliebe jenseits von Familie, Sippe oder Ethnie; [ Kapitel III]

    das betrifft ihre neue Form der Konstituierung der Gemeinschaft durch Sakramente: die Teilhabe der Gläubigen an der rituellen Präsenz des Erlösers in der Gemeinde; [ Kapitel IV]

    und nicht zuletzt betrifft es auch die kirchliche Disziplin und Identität des Klerus, von Bischöfen und Presbytern, als personelles Rückgrat und institutionelle Leitungselite der Kirche. [ Kapitel V]

    Doch um wie viel jünger als die Kirche ist nun die Institution des Papsttums? Wann genau ist es entstanden, oder wenigstens: in welchem Jahrhundert? – Die Antwort hängt davon ab, wo man die Grenze zieht zwischen dem nur virtuellen Bestehen einer Institution, als normatives Konstrukt oder Postulat, und ihrer realen Existenz, so umstritten, prekär oder gefährdet diese auch sein mochte. (Um gefährdet zu sein, muss diese Institution ja zum Mindesten existieren.) Um diese Frage zu beantworten, reicht der retrospektive Hinweis auf die schlichte Sukzession ihrer Amtsträger – Bischof Z ist Nachfolger von Bischof Y und dieser von Bischof X … bis zurück zum »Gründungsbischof« A – kaum aus. Die Erinnerung eines Anfangs kann trügen, insbesondere dann, wenn wir es mit einem institutionalisierten Gedächtnis zu tun haben, einem ideologischen Apparat. Der Anfang einer Abfolge muss nicht ihr Ursprung sein. Mutationen, qualitative Entwicklungssprünge gibt es nicht nur in der Naturgeschichte.

    Im historischen Rückblick lässt sich bestenfalls eine Art legitimatorischer Kontinuität der römischen Päpste behaupten, das heißt in (mehr oder weniger) nahtloser Folge (re-)konstruieren. Und genau das tun auch die offiziösen Papstlisten des mittelalterlichen Liber pontificalis mit ihrer fiktiven Nachfolge aller römischen Bischöfe auf den hebräischen Fischer Petrus als den »ersten Bischof Roms« – auf denselben Apostel also, welchen zuvor Jesus von Nazareth selbst in der berühmten biblischen Episode bei Cäsarea Philippi zum »Felsen« seiner künftigen Kirche ernannt haben soll (Mt 16,18). Noch das Zweite Vatikanische Konzil – also das große Konzil der Erneuerung der katholischen Kirche – berief sich 1965 in seinem Grundsatzdokument, der Kirchenkonstitution Lumen gentium (LG), wiederholt auf diese vermeintliche Gründungserklärung (LG n.18 und ff.). Und Kurienkardinal Gerhard Müller – bis Ende 2017 war er immerhin Präfekt der vatikanischen Kongregation für die katholisch-korrekte Glaubenslehre – argumentiert immer noch genauso: »Den [päpstlichen] Primat hat Simon, der Fischer vom See Genezareth, nach Rom mitgebracht und in das Fundament der römischen Kirche eingesenkt.«²¹

    Was ist davon zu halten? – Recht wenig. Schon Jesu Wortspiel mit dem Namen des Simon »Petrus« (Fels) und dem Bild des Felsens lässt sich schließlich ganz verschieden auslegen. Ein Fels an Charakter und Glaubensstärke ist keine Institution. Aber gehen wir ruhig davon aus, dass derselbe Galiläer Simon aus dem biblischen Bethsaida später im Migrantenmilieu der Reichshauptstadt Rom tatsächlich zum Vorsteher (oder Bischof) der dortigen Christengemeinde wurde.²² Damit war er gewiss für Jesusjünger und Christusprediger aus allen anderen Teilen des Imperiums eine informelle Anlaufstelle. Vermuten darf man weiterhin, dass dieser Simon Petrus als persönlicher Weggefährte Jesu und führender Kopf unter dessen Jüngern auch über diese römische Gemeinde hinaus über eine besondere Autorität verfügte. Sollte schließlich derselbe Petrus in Rom als Zeuge Christi (als Martyr) hingerichtet worden sein, und sollte er dort jenseits des Tibers am vatikanischen Hügel begraben liegen (ganz sicher ist auch das nicht) … nun: So folgt aus all dem immer noch kein päpstlicher Primat.

    Die apostolische Tradition der römischen Gemeinde oder auch die besondere Autorität ihres Bischofs begründen innerhalb der Anhängerschaft der neuen Religion per se noch kein über diese Stadtgemeinde hinausreichendes monarchisches Führungsamt (als »Hirt« der Gesamtkirche). Ganz zu schweigen von einem Primat: einer weltweit absoluten, ebenso juridischen wie doktrinären Entscheidungskompetenz des römischen Bischofs für alle Christengemeinden. So nämlich bestimmt der aktuelle Codex Iuris Canonici (CIC, 1983) die höchste, volle, unmittelbare und universale Amtsgewalt des Papstes innerhalb der katholischen Weltkirche: als eine potestas, die sich auch direkt auf alle Teilkirchen bezieht (CIC, can. 331 ff.). Und jenseits aller Erklärungen zur synodalen, dialogischen, demütigen, barmherzigen und für alle Peripherien offenen Kirche kann auch Papst Franziskus diesen Jurisdiktionsprimat weiterhin in Anspruch nehmen.²³ – Wann immer er es für nötig hält, kann (und wird) er bis in die Ortskirchen durchregieren. Das zeigte sich zuletzt auch an der gestörten Kommunikation zwischen Rom und der deutschen Ortskirche. Stichwort: der Synodale Weg.

    Aber wenn nicht Simon Petrus, wer war nun tatsächlich der erste Papst? – Jedenfalls war es nicht Clemens I. (ca. 90–100?), ein ansonsten völlig unbekannter Presbyter, der gegen Ende des ersten Jahrhunderts im Namen der römischen Gemeinde einen Mahnbrief an die notorisch unruhige christliche Community in Korinth schrieb. Das ist jener famose »Clemensbrief«, mit dem später viele Papstapologeten eine von Anbeginn übergreifende Autorität des römischen Bischofs für die Gesamtkirche belegen wollten.

    Und ebenso wenig war es der Heilige Silvester. – Noch heute feiern wir ihn bei jedem Jahreswechsel und lassen jedes Mal die Korken knallen. Aber wann lebte dieser Silvester überhaupt? Als Held einer Legende erlitt er das Martyrium, allerdings bereits unter Kaiser Diokletian – als römischer Bischof Silvester I. (314–335) lebte er etliche Jahrzehnte später und war nun ein Zeitgenosse Kaiser Konstantins. Doch bei keiner der beiden wichtigen Bischofssynoden seiner Amtszeit spielte dieser Silvester eine Rolle, weder bei der Synode von Arles (314) noch im Konzil von Nikaia (325). Stattdessen wird er posthum zum Protagonisten einer weiteren dramatischen fiction, in der es um die Bekehrung des Kaisers nach einer Wunderheilung geht: Wir werden dieser »Konstantinischen Schenkung« noch begegnen, der berühmtesten fake history der Kirchengeschichte. [ FOCUS (6) Found in Translation]

    Seit wann aber gibt es einen realistischen Führungsanspruch des römischen Bischofs innerhalb der Kirche(n) in aller Welt: jenen römischen Primat, auf den sich auch noch sein aktueller Nachfolger in einer globalen Weltkirche berufen könnte? Und seit wann fordert der römische Bischof auch theologische Richtlinienkompetenz gegenüber den christlichen Kaisern Roms und ihren (vermeintlichen) Nachfolgern in Mittelalter oder Neuzeit? Politisch relevant werden beide Aspekte des päpstlichen Primatsanspruchs – die religiöse Führung innerhalb der Kirche und die theologische Autorität gegenüber der politischen Macht – erst mit der Auflösung des Römischen Reichs im Westen Europas.

    Historisch plausible Anwärter auf die Position eines ersten Papstes mit Primatsanspruch finden wir damit frühestens im vierten oder fünften Jahrhundert: War es vielleicht Damasus I. (366–384)? – Dieser Bischof betrieb mit der Namensgebung von Kirchen bereits eine explizit »römische« Erinnerungspolitik; in den christlichen Katakomben vor den Toren Roms ließ er zahlreiche (von ihm selbst gedichtete) Epigramme mit den Namen und heroischen Leiden der dort begrabenen Märtyrer in monumentale Marmorblöcke gravieren (und beglaubigte so ihre Verehrungswürdigkeit mit dem eigenen Rang und Namen).²⁴ Zudem war Damasus der erste römische Bischof, der gegen seine Gegner, also Anhänger eines »Gegenpapstes«, auch blutige Gewalt einsetzte. Und in der Rangliste einer Bischofssynode des Reiches firmierte sein Bischofssitz sogar an erster Stelle –²⁵ noch vor Konstantinopel, der östlichen Reichshauptstadt, und den anderen Patriarchaten des Ostens.

    Oder sollten wir doch eher an Leo den Großen (440–461) im folgenden Jahrhundert denken?²⁶ – Mit seinem spektakulären Auftritt gegenüber dem Hunnenkönig Attila soll Sankt Leo 452 diesen rex barbarorum und seine bewaffneten Horden allein durch die Macht des Wortes von der Eroberung Roms abgehalten haben – eine filmreife Szene, wie gemacht für eine Heiligenlegende. Papst Leo hat selbst den Führungsanspruch seines Bischofssitzes in der Kirche mit dem Hinweis auf die »bindende und lösende« Schlüsselgewalt des Petrus betont und auch die eigene Stellung gegenüber den anderen Bischöfen mit dem »Prinzipat« Petrus’ unter den Aposteln verglichen. Im notorischen Dogmenstreit der Alten Kirche um die »beiden Naturen« des gottmenschlichen Erlösers Jesus Christus erfuhr sein Bemühen um eine vermittelnde Schiedsrichterrolle sogar im Osten des Reichs eine gewisse Bestätigung: Das Konzil von Chalkedon (451) griff zur Beendung der theologischen Kontroverse auf Formulierungen Leos I. zurück. [ Kapitel VI. Spiegelung]

    Vielleicht aber war derjenige Bischof Roms, welcher den päpstlichen Primatsanspruch nicht nur formuliert, sondern als Erster tatsächlich ausgeübt und damit nachhaltig geprägt hat, erst Gregor der Große (590–604): Aristokrat und Theologe, Mönch und Bischof, Kirchenlehrer und Politiker in Krisenzeiten. Angesichts einer in Rom längst nur mehr nominellen Hoheit des byzantinischen Kaisers musste dieser »Konsul Gottes« gegenüber den aus Norditalien vorrückenden Langobarden sein Bistum machtpolitisch selbst sichern. Zugleich verfocht Gregor I. energisch auch den kirchlichen Primat des römischen Bischofs gegenüber allen anderen Bistümern, von Afrika bis zu den Britischen Inseln. Im »griechischen« Osten des Reiches, der politisch vom »zweiten Rom« Konstantinopel regiert wurde, blieb der Bischof am Tiber machtlos; doch in den Kirchen des ehemaligen Westreiches, in der »lateinischen« Christenheit, disziplinierte Gregor den Klerus nach neuen und – geistlich wie organisatorisch – einheitlichen Standards. Und mit der Förderung eines aktivistischen, missionarisch einsetzbaren Mönchtums schuf er zugleich eine wichtige operative Voraussetzung für den kirchlichen – normativen wie liturgischen – Universalismus Roms im Westen. [ Kapitel VII. Doppelung]

    Wer also war der erste effektive Papst? – Die Frage kann offenbleiben. Für die Zukunft des Papstamts ist es völlig irrelevant, welcher römische Bischof der Alten Kirche tatsächlich der erste war, der mit einiger Aussicht auf Erfolg mehr als einen Ehrenvorsitz unter den Bischöfen im christlichen Imperium beanspruchen konnte, um in Streitfällen sowohl über dogmatische Grundsatzfragen zu entscheiden (wie das Credo und die Gotteslehre) als auch liturgische Festlegungen (zum Kirchenjahr oder zum Gottesdienst) zu treffen. Zwar waren in den dogmatischen Auseinandersetzungen der ersten christlichen Jahrhunderte die Auffassungen der Gemeinde Roms und natürlich die Haltung des römischen Bischofs eine unter allen Christen schon früh hoch angesehene, »privilegierte Tradition« (Klaus Schatz). Doch ein Primat des Papstes, eine von den anderen Christengemeinden zu akzeptierende römische Entscheidungsvollmacht in Glaubensfragen oder auch zur Gemeindedisziplin in anderen Bistümern folgte daraus keineswegs.

    Ganz ohne Zweifel jedenfalls sind Amt und Profil des Papsttums ein Produkt des »lateinischen« Westens: Latein war die Verwaltungs- und Herrschaftssprache des Imperiums, Latein wurde die Liturgie und Reflexionssprache der Kirche (West-)Roms, ein kulturell »lateinischer« (aktivistischer, pragmatischer, juridischer) Handlungsmodus wurde zur Form der kirchlichen Expansion im Westen des zerfallenen Reiches. Zwar war auch hier die Autorität des römischen Bischofs keineswegs unumstritten. Doch der Anspruch des Papstes auf eine universale Führungsrolle in der Christenheit (ent-)steht von vornherein in einem kirchlichen Ost-West-Konflikt: als Folge einer nach dem Untergang des Römischen Reiches zunehmenden kulturellen Entfremdung des lateinischen Westens gegenüber den Patriarchaten des östlichen Mittelmeers, deren Liturgie, aber auch deren Theologie, Meditation und Mystik in weit höherem Maße »griechisch« blieb und die es politisch nie zu einer echten Autonomie gegenüber dem Kaisertum brachten. Umgekehrt verstärkte jeder am Tiber lautstark verkündete römische Primatsanspruch auch am Bosporus unweigerlich die in der byzantinischen Reichskirche gefühlte Distanz zur lateinischen Kirche. [ Kapitel IX. Ermächtigung] Das dann im elften Jahrhundert zwischen Rom und Byzanz vollzogene kirchliche Ost-West-Schisma hatte somit eine mehrhundertjährige, nicht allein religiöse Vorgeschichte. Und wie wir noch sehen werden, ist dieser kirchliche Ost-West-Konflikt bis heute nicht beendet. Denn die Scheidungsfolgen betrafen in beiden Kirchenfamilien nicht allein das theologisch korrekte Gottesbild oder die rechte Liturgie. Sie hatten weitreichende (geo-)politische Konsequenzen. Übrigens auch für die unterschiedlichen Beziehungen dieser Christenheiten zur neuen, machtvollen und im Süden des Mediterran siegreichen monotheistischen Religion: zum Islam.²⁷

    Gegenfrage: Sind solche Überlegungen zum historischen Ursprung und zum politischen Profil des römischen Papsttums nicht ohnehin überholt, zwecklos? Erst recht für Außenstehende, sprich: für alle Nichtkatholiken! – Nein, im Verhältnis der christlichen Konfessionen zueinander sind sie jedenfalls nicht völlig bedeutungslos: Wenn andere Kirchen das römische Papsttum (oder: den päpstlichen Primat in seiner aktuellen Form) nicht akzeptieren, wie können sie und die katholische Kirche einander trotzdem wechselseitig als »Schwesterkirchen« anerkennen? (Oder als »Teilkirchen der einen Kirche Jesu Christi«?) Jüngere Vorschläge für eine »ökumenische Zukunft des Papsttums« orientierten sich darum zumeist am ersten Jahrtausend der Kirchengeschichte: also an der Zeit vor dem Schisma zwischen Rom und Byzanz und vor der päpstlichen Revolution des elften Jahrhunderts.²⁸

    Aber müsste man darüber nicht hinausgehen? Wäre nicht – gerade heute! – ein offener Dialog zwischen den Kirchen des Westens und den alten und neuen National- und Reichskirchen der christlich-orthodoxen Welt notwendiger denn je? Ein streitbarer Dialog freilich, der sich gerade nicht auf theologische Formeln und diplomatische Höflichkeiten einschränken ließe? Auch deshalb, um im einundzwanzigsten Jahrhundert den ethnischen Säuberungs- oder imperialen Eroberungskriegen zwischen christlichen Nationen Osteuropas von vornherein ihre religiöse Legitimation zu entziehen! [ FOCUS (19) Die Christenheit oder Europa]

    Auch jenseits der Streitfragen einer innerchristlichen Ökumene spielt das Papsttum in der heutigen Welt eine unzweifelhaft politische Rolle. Sollte der Papst diese Rolle in der internationalen Arena noch stärker akzentuieren – sollte er also (wie dies Papst Franziskus tut) seine religiöse Autorität ganz bewusst für humanitäre oder ökologische Ziele einsetzen? Bei seinem letzten Besuch (als Papst) in der Heimat empfahl sein Vorläufer der deutschen Kirche eine stärkere »Entweltlichung«. Damit meinte Benedikt XVI. den Rückzug der Kirche aus den »materiellen und politischen Lasten und Privilegien« ihrer Zusammenarbeit in und mit dem deutschen Sozialstaat oder Gesundheitswesen, um sich der Welt stattdessen stärker missionarisch zuzuwenden: »Eine vom Weltlichen entlastete Kirche vermag gerade auch im sozialkaritativen Bereich den Menschen, den Leidenden wie ihren Helfern, die besondere Lebenskraft des christlichen Glaubens zu vermitteln« (Benedikt XVI., Freiburger Rede, 25. September 2011). – Wie immer man zu dieser Vorstellung stehen mag: Für die Rolle der katholischen Kirche in der internationalen Politik hat Papst Ratzinger interessanterweise keinen vergleichbaren Vorschlag des Rückzugs aus den weltlichen Institutionen gemacht.

    CORPUS

    VOM ÜBERLEBEN DES ERLÖSERS

    II. THE DAY AFTER

    WIE ENTSTEHT EINE NEUE RELIGION?

    … denn nur über Gott, in Gott ermöglicht die Religion dem Menschen, das [ganze] Menschengeschlecht zu lieben …

    Henri Bergson, Les deux sources de la morale et de la religion (1932)¹

    Taufe durch Ideen?

    Der christliche Universalismus ist weitaus älter als die Papstkirche. Er ist schließlich auch älter als das Christentum selber: »Bevor Christus sich zeigte, atmete man bereits ein Vorläufer-Christentum«.² Der französische Historiker Edgar Quinet war weder der Erste noch der Letzte, der schon in der Philosophie Platons einen christianisme précurseur, ein »Vorläufer-Christentum« erblicken wollte. Einer der Letzten war übrigens ein deutscher Theologieprofessor: Papst Benedikt XVI. charakterisierte in einer (leider aus ganz anderen Gründen) notorischen Vorlesung am Katheder seiner ehemaligen Universität Regensburg das »Zusammentreffen der biblischen Botschaft und des griechischen Denkens« als eine geradezu heilsgeschichtlich notwendige Fügung.³

    Da hatte sich Quinet, der revolutionäre Historiker am Collège de France, vor anderthalb Jahrhunderten weitaus pointierter ausgedrückt: Wie der Täufer Johannes als »Vorläufer Jesu« die Jünger aus Judäa im Wasser des Jordan taufte, so hatte schon Platon das klassische Griechenland getauft – nicht im Wasser einer Flussströmung, sondern in einem Fluss von Ideen. Edgar Quinets Vorlesung Le Christianisme et la Revolution Française (1845) ist wohl eines der schönsten Bücher über das Christentum überhaupt. Der revolutionäre Republikaner aus calvinistischem Elternhaus skizziert in klarer Sprache und dennoch nicht ohne romantische Verve eine Geschichte, wie sie in deutschen Landen etwa ein junger Hegel oder Hölderlin erzählt haben mochten – freilich politisch selbstbewusster und also auch theologisch anstößiger. Immerhin war dieser Historiker des Mittelmeerraums selbst eine Art Prophet: Künder eines aus der Freiheit des Geistes brüderlichen und daher immer schon revolutionären Christentums. Doch diese Frohbotschaft sollte Edgar Quinet unter der französischen Julimonarchie schon bald seine Professur kosten.

    Was aber hat es mit der philosophischen »Taufe durch Ideen« auf sich? Antike Philosophen und Lebenslehrer hatten natürlich ihre Jünger, Adepten und Anhänger; es gab konkurrierende Schulen oder Fangemeinden; die Meister der Lebenskunst bemühten sich durchaus um Klienten. Einige (wie die Pythagoräer) mochten gar ihre eigenen Mysterienkulte pflegen; andere initiierten neue Moden, Trends, Mentalitäten; einige Haltungen und Argumente der »Kyniker« scheinen sich vor der Jahrtausendwende im östlichen Mittelmeerraum auch als gegenkulturelle Gestalten der Lebensreform verbreitet zu haben.⁴ Doch die antiken Philosophenschulen tauften niemanden und sie hatten nicht den mindesten Bekehrungsimpuls.⁵ Wen der rechte Weg zur Selbsterkenntnis (oder zur Selbstsorge) nicht kümmerte, nun, der sollte es eben bleiben lassen. Weder die platonische »Akademie« noch die aristotelischen Peripatetiker waren Missionsanstalten. Nicht einmal die Stoiker verfolgten eine Mission – obwohl sich in ihren ethischen Grundauffassungen durchaus »Parallelbildungen« (Ernst Troeltsch) zum prinzipiellen Individualismus und zum prinzipiellen Universalismus der ethischen Botschaft eines Jesus von Nazareth finden ließen.⁶ Doch in ihren Lehren gibt es keinerlei Gedanken von Schuld und Verdammnis, ganz zu schweigen vom Versprechen einer künftigen Erlösung durch einen liebenden Gott oder Messias. Und philosophische Wahrheitssucher oder Lebensberater – personal trainer für die Seelen der römischen Oberschichten – gerieten in der Regel auch nicht in Konflikt mit der weltlichen Macht vor Ort oder gar den kaiserlichen Reichskulten. Ein Fall wie die Hinrichtung des Sokrates blieb in der antiken Welt die absolute Ausnahme.⁷ Der Stoiker Lucius Annaeus Seneca, dem eine christliche Legende sogar einen Briefwechsel mit Paulus (dem »Apostel der Heiden«) zuschreibt, gehörte schließlich selber zur höfischen Elite um Kaiser Nero – er wurde aus ausschließlich politischen Gründen zum Suizid gezwungen. Das Verhältnis der Philosophie zur Vielfalt der Götter und Kulte der griechisch-römischen Religion war hingegen recht entspannt.

    Allerdings mochte das Medium philosophischer Argumentation bestehende religiöse Selbstverständnisse durchaus beeinflussen. Das galt für aufgeklärte Heiden, aber auch – wiewohl auf ganz andere Weise – für Juden, die sich von Platon inspirieren ließen. Man lese nur die »religionsphilosophischen« Dialoge des kosmopolitischen Griechen Plutarch aus Chaironea im 1. und 2. Jahrhundert unserer Zeit, in denen dieser erfolgreiche Historiker und Philosoph und zugleich Priester des pythischen Apoll in Delphi im Umgang mit fremden Riten und Mythen eine inklusive Hermeneutik praktiziert und für ein tolerantes, gewissermaßen ökumenisches Verhältnis zwischen den philosophisch Aufgeklärten und den Anhängern überlieferter Kulte eintritt. (Nur Christen scheint er überhaupt nicht gekannt zu haben.)

    Keine Atempause!

    Auch jüdische Intellektuelle der hellenisierten Diaspora des östlichen Mittelmeers hatten die platonische Idee vom Logos als dem »Wort Gottes« ernst genommen.⁹ Hier liegt auch der Anhaltspunkt für Edgar Quinets »Geist-Taufe«: Für die durch einen derart interpretierten Logos aufgeklärten Juden seien eben »nicht nur Isaias oder Daniel Propheten, sondern die gesamte Menschheit«. Doch sogleich fällt Quinet sich selbst ins Wort: Solche universalistischen Ideen könnten schließlich auch »vorüberziehen wie eine Welle; vielleicht fügen sie ja nur eine weitere Lehre anderen Lehren hinzu; womöglich sind sie auch nur eine intellektuelle Sophisterei; ein bloßer Schatten – wenn nicht das Leben selbst, der ewige Lebensprozess, diese Idee annimmt«.¹⁰

    Wo also die Idee der universellen Brüderlichkeit aller Menschenkinder keine Inkarnation findet, bleibt sie folgenlos. Der Beginn der christlichen Mission besteht nicht in ihren Ideen, sondern in einer Person. Verkündigt, verkörpert wurden die neuen Ideen von der Gegenwart des Reiches Gottes im Palästina der Zeitenwende durch Jesus von Nazareth, einen jüdischen Wanderprediger mit seinen zwölf Jüngern – eine codierte Kennzahl: Sie erinnert an die Anzahl der Stämme Israels und beansprucht damit die Gesamtheit der jüdischen Heilsgeschichte. In diesem Meister nun habe sich »die moralische Kraft der gesamten Menschheit versammelt und den Geist mit göttlichen Ideen erfüllt«; und derart von göttlichem Geist erfüllt, fährt Quinet fort, wie anders denn als »Sohn Gottes« hätte Jesus sich fühlen sollen und proklamieren können?¹¹

    Es gab in der Botschaft Jesu freilich noch kein »Wesen des Christentums«;¹² und erst recht kein System von Glaubenswahrheiten, das man in allgemeinen Lehrsätzen, universellen Geboten oder speziellen Verheißungen hätte zusammenfassen können. Was »die Kirche im Geist ihres Urhebers« (Quinet) auszeichnete, das war eher ein élan vital, ein Bewegungsimpuls, und zwar ein doppelter. Erstens: Sequere me! Am Anfang des Weges ins Gottesreich steht stets eine persönliche Aufforderung, Jesu Aufruf: Lass alle Gewissheit, Verpflichtung, Tradition hinter dir und folge mir nach! Und zweitens: Keine Atempause! In allen Worten und Taten Jesu herrscht die Anspannung ununterbrochener Zukunftserwartung, welche »den Geist auf ein beständig neues Morgen verweist« (Quinet).

    Kaum glauben die Jünger Jesu, sie hätten Seine Gleichnisse entschlüsselt und »Seine Botschaft verstanden, da kündigt Er ihnen auch schon Seinen Tod an. Und wieder beginnt die Erwartung; erneut öffnet sich die Zukunft; der Seele, die dem Meister nachfolgt, wird kein Moment der Ruhe gegönnt; nach Jesu Tod erwarten wir Seine Auferstehung; und nach Seiner Auferstehung erscheint Seine Majestät über dem Berg Tabor in verwandelter Gestalt. Voilà – wohin Er selbst Seine Kirche führt!«¹³ – Es geht voran!

    Nach der Katastrophe

    Gewiss hat die christliche Verkündigung diverse ältere ethische Universalismen beerbt. Als Bewegung der Nachfolge Jesu hat sie diese aber auch aktiviert, dynamisiert, radikalisiert. Dies gilt zunächst für die prophetischen Verheißungen, die messianischen Hoffnungen und den ethischen Monotheismus des Judentums. Diese wurden übrigens um die Jahrtausendwende im östlichen Mittelmeer längst auch in griechischer Sprache verkündet – und teilweise sogar im Logos hellenistischer Philosophie rationalisiert.¹⁴ Später dann musste sich auch das Christentum – als Messianismus neuen Typs – über mehrere Jahrhunderte immer wieder mit verschiedenen Gestalten eines heidnischen, häufig philosophisch reflektierten Monotheismus auseinandersetzen, welche auf dem kulturell hellenisierten (aber religiös orientalischen) Weltanschauungsmarkt des Römischen Reiches zirkulierten.¹⁵

    Doch in den Jahrzehnten nach dem bellum Iudaicum, dem Jüdischen Krieg (66–70 u. Z.), sprich: nach der gnadenlosen Zerschlagung der letzten Reste politischer Autonomie des Judentums durch das Römische Imperium, waren die ersten (juden-)christlichen Gemeinden, ob nun in Palästina oder in der jüdischen Diaspora, unweigerlich geprägt durch die Erfahrung dieser gleichermaßen nationalen wie religiösen Katastrophe. Gewiss verstanden sie die Frohbotschaft – das euangelion – ihres Meisters Jesus von Nazareth auch als Versprechen einer Erlösung aus dieser Katastrophe: als Perspektive der Befreiung Israels durch den vom himmlischen Vater Gesalbten (griechisch: Christos).¹⁶ Doch sollte die erhoffte Erlösung von Gottes erwähltem Volk durch diesen Messias eben nicht nur Israels nationale Wunden heilen, sondern zugleich aller Welt das Heil bringen. Der (proto-)christliche Universalismus sieht sich zwar als Nachfolger des ethischen Monotheismus des jüdischen Bundes – darauf deutet schon der Symbolismus der zwölf Apostel als Schüler des Messias: Zwölf ist die Zahl der Söhne Jakobs, die Zahl der Stämme Israels. Aber sein Adressat sind alle Völker: Um den »festgefügten Kreis der Zwölf« reihen sich siebzig oder zweiundsiebzig Jünger (Lk 10,1–20): Das entspricht der Zahl der gentes, der nichtjüdischen Weltvölker. Würde das Reich Gottes am Ende Israels nationale Existenz übersteigen? Könnte die endzeitliche Inklusion aller Gottesfürchtigen unter den gentes Israels Sonderexistenz – vielleicht! – sogar überflüssig machen?

    Moment! Mit solchen Fragen bewegen wir uns schon auf ausgesprochen unsicherem Terrain: im Feld der nach der Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels unter den Juden wie unter den (künftigen) Christen gleichermaßen heftig umstrittenen Selbstverständnisse und Identitätsbehauptungen. Zwischen versprengten messianischen Zeloten und zerstreuten protochristlichen Gemeinden machte sich nach dem bellum Iudaicum Verzweiflung breit. Wie ließ sich jetzt – nach der grausamen Hinrichtung des charismatischen Meisters Jesus und nach der Vernichtung des Tempels in Jerusalem, der zentralen Kultstätte des Judentums – das feste Vertrauen (pistis) in den Vatergott Jahwe wiederfinden? Und was hatte sich eigentlich verändert durch die Ankunft dieses unerwarteten Messias? Welchen Sinn konnte seine Folter zum Tode – und sein Ende in Gottverlassenheit (Mt 27,46; Mk 15,34) – überhaupt noch haben?¹⁷

    Brauchte jetzt die Hoffnung auf kollektive Befreiung oder individuelle Erlösung vielleicht neue Gründe, ein neues Verständnis von Gotteskindschaft, neue Gemeinden? Eine Vielzahl von aus der Entstehungsphase des Christentums überlieferten Texten und Fragmenten, sei es aus seinen kanonischen Büchern, sei es aus später verworfenen »verborgenen« (apokryphen) Offenbarungen oder dissidenten Prophezeiungen,¹⁸ dokumentiert die recht unterschiedlichen Varianten religiöser Gruppen(neu)bildung nach der kollektiven Katastrophe. Ihre Extreme reichen von den diversen gnostischen Evangelien der Weltverweigerung über spiritualistisches Sektierertum der Selbstbesinnung bis hin zu nationalreligiösen Durchhalteparolen und messianischen Siegesutopien. Und solche Identitätskonflikte betrafen wohlgemerkt nicht nur und nicht erst die neuen Messianisten oder »Christen«. Zwischen einem exklusiven und einem eher inklusiven (Selbst-)Verständnis des Judentums hatte es auch schon vor der Zerstörung des Tempels im Judentum Spannungen gegeben.¹⁹ Nicht zuletzt in der Diaspora: Neben der gesetzesreligiösen Reform der jüdischen Gemeinden durch eine »schriftgelehrte Führung«²⁰ gab es diverse Versuche einer (philosophischen oder eschatologischen) Reformulierung des biblischen Bundes als universeller Heilsbotschaft an die gesamte oikoumene (für die gesamte bewohnte Welt). Ähnliche Konflikte durchlebten nun auch die nach dem Kreuzestod Jesu entstandenen neuen Christos-Gemeinden.

    Sollten sich diese Messias-Jünger jetzt, nach der von Jesus selbst prophezeiten Zerstörung des Jerusalemer Tempels, wieder einfügen in einen sich reorganisierenden jüdischen Mainstream, der im Rahmen der politisch siegreichen Ordnung Roms wohl oder übel einen neuen Modus Vivendi finden musste? (Aus diesem Mainstream der Diaspora ging dann das heutige rabbinische Judentum hervor.) Doch auch nach dem Sieg des Römischen Imperiums gärten im jüdischen Untergrund alle möglichen Varianten antirömischen Widerstands – zwischen gewaltfreiem Aufstand und bewaffneter Rebellion – weiter, in der verzweifelten Hoffnung auf eine Wiederherstellung des »Königreiches Davids«. Sollten nun auch die Jünger von Jesus Davidsohn jede Kollaboration mit den Herrschenden verweigern, ähnlich wie schon ihre unmittelbaren Vorläufer, die charismatische Täuferbewegung des Johannes? Dieser puritanische religiöse Erneuerer hatte der Jerusalemer Tempelaristokratie (und ihrem Opferkult) den Rücken gekehrt und sich mit seinen Anhängern in die Wüste zurückgezogen; die Jerusalemer religiöse Elite und das mit Rom kollaborierende Herrscherhaus des Herodes hatten ihn verfolgt; für seine Kritik an der Herodes-Dynastie war er am Ende enthauptet worden.

    Würden sich jetzt die Jesus-Jünger wieder in die Wüste zurückziehen? Sollten sie sich dort reinigen für das letzte Gefecht, die baldige Ankunft des Messias? Das taten etwa die messianischen Endzeitkrieger, deren Schriften uns in der jüdischen Wüstenbibliothek von Qumran bezeugt sind. Ähnliche Akzente von »Kriegsliteratur« (Elaine Pagels) finden wir aber auch im letzten kanonischen Buch der christlichen Bibel, in der Apokalypse des Sehers Johannes von Patmos.²¹ Vielleicht war auch ihr Autor selber noch ein Kriegsflüchtling aus Judäa.²² Jedenfalls strotzt sein Szenario von der Entscheidungsschlacht zwischen dem »Reich des Bösen« – Rom alias »Babylon« (Offb 14,8; 16,19; 17–18) – und dem kommenden Königreich des Messias nur so vor Massenvernichtungswaffen, im Himmel wie auf Erden. Seine Endkampfvisionen hatte sich der Seher von Patmos aus älteren jüdischen Apokalypsen entliehen – bei Jesaja, Hesekiel, Daniel. In der Region zwischen Kleinasien, Syrien und Palästina, von Babylon bis Palmyra, von Antiochien über Gaza bis ins Nildelta muten sie heute verdammt vertraut an!

    Jüdisches und neues Gottesvolk

    Mehrheitlich entschieden sich die Jesus-Gemeinden letztlich weder für die Rückkehr zum Judentum noch für den Exodus in die Wüste. Sie wandten sich nicht zurück nach Jerusalem.²³ Ihr Weg – wir finden ihn bereits in den ersten christlichen Texten vorgezeichnet – ging zunächst in die Städte des östlichen Mittelmeers. Die Schriften des Neuen Testamentes sind eher programmatische Texte als historische Beschreibungen; und schon die Berichte der Apostelgeschichte sowie die Briefe und Reisen des Diasporajuden Paulus skizzieren alternative Routen: sowohl zur Rückkehr nach Jerusalem als auch zum apokalyptischen Endkampf. Die Reise führte von der Peripherie des Imperiums zum Zentrum: von Jerusalem nach Antiochien, nach Korinth und Ephesus, nach Athen … und schließlich nach Rom.²⁴

    Dass die Verkündung des Reiches Gottes nicht auf die jüdischen Gemeinden in Israel und der Diaspora beschränkt bleiben darf, diesen Schluss zog nach seiner Bekehrung vor den Toren von Damaskus der hellenistische Jude, römische Bürger und erste programmatische Universalist des Christentums Paulus von Tarsos – und er löste damit offenbar den ersten Richtungsstreit in der Jesusgemeinde aus: Im Gegensatz zu den Anhängern des Petrus und Jakobs »des Jüngeren« (eines Bruders Jesu), welche offenbar die Mission der Verkündung des Gottesreichs kulturell und rituell weitaus stärker an ihr jüdisches Ursprungsmilieu hatten koppeln wollen, zielte die metanoia oder radikale Umkehr, die Paulus als rastloser Missionar predigte, auf eine neue Ökumene aus bekehrten Juden und Heiden.²⁵

    Die zunächst in den Paulus-Briefen akzentuierte und dann im Johannesevangelium vollzogene Umdeutung, Universalisierung und Spiritualisierung des mosaischen Gesetzes führt die Gemeinschaft der künftigen Christen binnen einiger Jahrzehnte entschieden aus ihrer ethnisch-religiösen Ursprungsgemeinschaft hinaus.²⁶ Und die religiöse Überschreitung des ethnischen Judentums produziert am Ende auch eine soziologische Transformation der Jesus-Bewegung. Die jüdische Idee vom Gottesvolk wird programmatisch radikalisiert zur Bewegung, sie wird zur Sendung – missio. Doch diese Aussendung der Heilsbotschaft an alle Menschen verändert bald auch die Identität des Senders: Sie führt zur Transformation des Gottesvolkes auf seiner Wanderschaft, aus der Sklaverei zur Freiheit, durch die Wüste zum Heil.²⁷ Denn immer weniger versteht sich nun die wachsende Diaspora christlicher Gemeinden noch als Volk oder Nation.²⁸ Sie wird etwas völlig Neues – sie wird Kirche.

    Gewiss wurde auch das Programm einer Transzendierung des jüdischen Horizontes zunächst noch in expliziter Anknüpfung an jüdische Bildwelten formuliert. Schließlich war die für das Ende der Zeiten angekündigte Einheit aller Völker in der Verehrung des Einzigen Gottes selber eine jüdische Prophezeiung – von Jesaja gefasst im Bild der heiligen Wallfahrt aller Völker zum Zionsberg in Jerusalem, um dort Jahwe anzubeten (Jes 2,2 ff.); und immerhin wird auch in den christlichen Evangelien noch großer Wert darauf gelegt, dass Jesus, der neue Messias, wie verheißen aus dem Geschlecht Davids stammt (Mt, 1,1–25). Doch gleichzeitig lösen sich in den Evangelien die utopischen Visionen oder prophetischen Szenarien der erhofften Ankunft des Messias (bzw. seiner Wiederkehr) ab vom Wunschbild des über seine Feinde triumphierenden Königreichs, das heißt von einer Projektion, die in der jüdischen Tradition häufig in der Sprache einer nationalistischen »König-David-Ideologie« formuliert worden war.²⁹ An die Stelle eines endzeitlichen Siegs in der Schlacht des Gottesvolkes wider die Feinde Israels treten in den protochristlichen Gründungsformeln der späteren Kirche zwei neue Gestalten: die Ausbreitung des göttlichen Pneuma, des Gottesgeistes – und das Corpus Christi, der Leib des Herrn.

    Medium und Pneuma

    In der jüdischen Bibel hatte Jahwe dem Propheten Joel in einer apokalyptischen Botschaft nicht nur den Sieg Israels über seine Feinde im »Tal der Entscheidung« angekündigt, sondern auch eine kollektive Erleuchtung des Gottesvolks: Am Ende der Zeiten werde Sein Geist über »alles Fleisch« kommen, auf dass das ganze Volk, alt und jung, mit Träumen, Visionen, Gesichten begabt werde. »Auf meine Knechte und auf meine Mägde werde ich in denselben Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie alle sollen weissagen« (Joel 3, 1–2) – ein Volk von Priestern, Weisen, Propheten werden. An diese Prophezeiung sollte (sich) Apostel Petrus in seiner Predigt am Pfingstfest erinnern. Jetzt geschehe, so verkündete er beim ersten öffentlichen Auftritt der Jesus-Gemeinde den Schaulustigen, Herbeigelaufenen und Umherstehenden, »was durch den Propheten Joel zuvor gesagt« ward: »Wer den Namen des Herrn anrufen wird, soll selig werden« (Apg 2,16–21).

    Was war geschehen? »Fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel« waren zum Versammlungsort der Apostel zusammengeströmt – und auf einmal verstand jeder der Hörer ihrer Predigt in seiner eigenen Sprache, was der Geist Gottes ihnen allen sagte: »Wie hören wir denn jeder seine eigene Muttersprache? Parther und Meder und Eleamiter und die wir wohnen in Mesopotamien und Judäa, Kappadozien, Pontus und der Provinz Asien, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Einwanderer aus Rom, Juden und Judengenossen, Kreter und Araber: wir hören sie in unsern Sprachen von den großen Taten Gottes reden!« (Apg 2,5–11).

    Die alte Prophezeiung – Joels Endzeitvision – sollte sich in der Fruchtbarkeit des von Wein und Milch und Wasser überquellenden gelobten Landes erfüllen; die Feste Zion würde dann Jerusalem für alle Zeiten vor durchziehenden Heeren fremder Imperien schützen (Joel 4,17–18). Die Pfingstbotschaft der neuen Christos-Bewegung aber setzt eine völlig andere geopolitische und ideologische Situation voraus: den herrschenden Augusteischen Frieden des über alle äußeren und inneren Feinde siegreichen Römischen Reiches.³⁰

    Innerhalb der Infrastruktur dieses Imperiums setzt nun das Pfingstwunder eine Kettenreaktion der Aus-Streuung (griechisch: dia-spora) des göttlichen Geistes in Gang, eine Zerstreuung, welche das Reich Gottes über alle Grenzen, in alle Herzen kommunizieren soll. Es geht zwar immer noch, wie in Joels »Tal der Entscheidung«, um das Reich Gottes. Aber dieses Königreich selbst hat sich verändert: Erstens ist das Reich Gottes, dessen unmittelbare »Nähe« der Meister Jesus verkündet hatte,³¹ zur Frage der persönlichen Gesinnung geworden, zu einer inneren Zielsetzung der Beteiligten. Damit aber hat sich zweitens auch der Endkampf zwischen Gut und Böse in das Herz jedes Einzelnen verlagert; und somit sind drittens das Reich und das Heil für alle Völker relevant, sie sind also in jeder Sprache kommunizierbar geworden. Und natürlich hängen diese Veränderungen direkt miteinander zusammen: Denn nur dadurch, dass das Gottesreich neu codiert wurde (also zur individuellen Umkehr, zur inneren Einstellung, zur aktiven Orientierung geworden ist), ist es auch universalisierbar geworden. Und eben davon handelt das Pfingstfest. In diesem mythischen Gründungsereignis der christlichen Mission wird der Endkampf um die feste Burg Zion ersetzt durch die Geburt eines neuen Mediums: den Heiligen Geist globaler Kommunikation.

    Dass ein Ort mit der gesamten Welt in Verkehr treten kann, lesen wir somit bereits im zweiten Kapitel der Apostelgeschichte. Aber im Zentrum dieser potenziell universalen Begeisterung stand nicht etwa Rom, die Hauptstadt des Weltreiches – sondern Jerusalem. Doch Vorsicht: Gottes neue Gegenwart, die Initialzündung der weltweiten Ausstrahlung des Gottesreiches, ereignet sich auch nicht etwa im Jerusalemer Tempel – also nicht in der zentralen jüdischen Kultstätte, deren prachtvoller Wiederaufbau das Verdienst und die Glorie des Königs Herodes gewesen war (eines Königs von Roms Gnaden). Nein, Ort des Geschehens ist vielmehr eine Gebetsrunde der Apostel, die sich »mit den Frauen und mit Maria, der Mutter Jesu«, in einem Privathaus versammelt haben.

    Der Tempel von Jerusalem, das religiöse Zentrum des Judentums, wird also durch diesen Bericht über die Taten der Apostel bereits depotenziert – und dies geschieht Jahrzehnte vor seiner tatsächlichen Zerstörung.³² Gottes unsichtbare Nähe im Tempel wird zu Pfingsten gewissermaßen dezentriert, in ein kommunikatives Ereignis transformiert und somit potenziell universalisiert. Und im zuvor nur äußerlich (durch Recht und Macht) vereinheitlichten Römischen Reich, welches die Augusteische Ideologie doch als Reich des ewigen Friedens verstand, inauguriert nun der Geist Gottes durch seinen an alle gerichteten Aufruf zur metanoia (zur inneren Umkehr) eine neue Form der Universalität.³³

    Auf die in allen Sprachen verständliche Pfingstpredigt – »Kehrt um und jeder von euch lasse sich auf den Namen Jesu Christi taufen zur Vergebung der Sünden, dann werdet ihr die Gabe des Heiligen Geistes empfangen« – folgt sogleich die erste erfolgreiche Mission, ebenfalls ohne jede Erwähnung des Tempels: »An diesem Tag schlossen sich [der Gemeinschaft der Jesus-Jünger] etwa dreitausend Menschen an.« (Apg 2,38–41) Und wie zur Bestätigung der Verortung dieser neuen Gemeinschaft jenseits des jüdischen Mainstream steigen im auf das Pfingstwunder folgenden dritten Kapitel der Apostelgeschichte Petrus und Johannes den Tempelberg hinauf; sie heilen an der Schönen Pforte des Tempels einen von Geburt an Gelähmten … und sie predigen der »in der Halle Salomons« (!) zusammenlaufenden Menge die neue Kunde von Jesus als dem Messias, der nach den Weissagungen aller Propheten leiden musste, aber von den Toten auferstand, in den Himmel zurückkehrte, um in den »Zeiten des Aufatmens« wiederzukehren. Daraufhin werden sie im vierten Kapitel von den Priestern und der Tempelwache festgenommen und wie zuvor Jesus in der Passionsgeschichte vor den Hohen Rat geführt. Doch die Wunderheilung »im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, den ihr«, so Petrus an die jüdische Tempelaristokratie gerichtet, »gekreuzigt habt«, schützt die beiden Apostel; sie kehren zu ihrer Gemeinschaft zurück, beten den HErrn an, sie bitten Ihn um Kraft zur Verkündigung des Wortes Gottes … und das Pfingstwunder wiederholt sich: »der Ort, an dem sie versammelt waren, bebte, und alle wurden mit dem Heiligen Geist erfüllt und verkündigen freimütig das Wort Gottes« (Apg 4,31).

    Geistesgegenwart

    Wie funktioniert nun das neue Medium, ohne welches die neue Erlösungsbotschaft von der allgemeinen Gotteskindschaft unverständlich geblieben wäre? Wenn Gottes Geist das Medium dieser universalen Verständigung ist, wer sind hier die Sender, wer die Empfänger? Für die Gesandten des Messias, die Übermittler von Gottes Heilsbotschaft (also die Sender) gilt: Das Feuer des Heiligen Geistes setzte alle Apostel einzeln in eine neue Beziehung zueinander. Die Anwesenheit der Mutter Maria, welche den Erlöser leibhaftig aus Gottes Geist empfangen hatte, bekräftigt (oder bezeugt) dessen geistige Gegenwart. Die Feuerzungen auf dem Haupte eines jeden der Anwesenden stiften (oder symbolisieren) eine neue Gemeinschaft der Sender, in ihnen manifestiert sich der Geist »als ein Ergriffensein und als Beobachtung dieses Ergriffenseins, in einem außergewöhnlichen Zustand der durch ihn ergriffenen Personen, der sich in wirren Reden (Zungenreden) und in der öffentlichen Sichtbarkeit dieses Geschehens äußert«.³⁴

    Das Pfingstwunder ist somit eine erste, noch unstrukturierte Gestalt der künftigen Kirche Christi. Sie entsteht als charismatische Gemeinde; und diese verkörpert die Erfahrung von Gottes Gegenwart direkt, ohne jede weitere Vermittlung, in aller Welt. Dabei belebt der Heilige Geist nicht etwa Völker oder anderweitig vorgegebene Gruppen oder Kollektive.³⁵ Er begeistert Individuen aus aller Welt, aus allen Nationen, in allen Zungen; die neue Gemeinschaft der Verkündung der Frohbotschaft entsteht im Modus der Propaganda.³⁶

    Im »Brausen vom Himmel«, dem Wehen »eines gewaltigen Windes«, der das Versammlungshaus erbeben lässt, erfüllt der belebende Atem-Geist Gottes das ganze Versammlungshaus der Jünger Christi.³⁷ Durch die Ausbreitung des Geistes unter Hörern aller Nationen wird zwar die babylonische Verwirrung der Sprachen überwunden, mit welcher der HErr in den Anfängen der Geschichte den Hochmut der heidnischen Tempelstädte des Zweistromlandes strafte (Gen 11). Doch »da nun diese Stimme geschah«, stellt das Pfingstwunder keineswegs die mythische Einheitssprache des Ursprungs wieder her. Der Geist Gottes fixiert übrigens auch keine neue, allen gemeinsame Verkehrssprache, kein messianisches Esperanto. Aufseiten der Empfänger findet vielmehr eine partikulare, individuelle Anverwandlung der allgemeinen Erlösungsbotschaft statt.

    So verstanden alle Hörer zu Pfingsten in Jerusalem die Heilsbotschaft in ihrer eigenen Sprache – doch darin äußerte sich nur ihre universelle Übersetzbarkeit in alle Zungen, sogar in Sprachen, die es noch gar nicht gab. Alle waren erfüllt von demselben Geist »und fingen an zu predigen mit anderen Zungen«. Gottes Geist vermittelt in dieser Sprachenmultiplikation vor allem sich selbst: »Er kommuniziert in der Form der Unverständlichkeit der Kommunikation, die aber eben in der Form der Unverständlichkeit als seine Gegenwart verständlich ist.«³⁸ Glossolalie und Xenolalie, die Zungenrede und das Reden in Fremdsprachen, sind die ersten Kommunikationsformen der neuen Botschaft, »wie der Geist ihnen gab auszusprechen«; und diese machtvolle Heilig-Geist-Kommunikation steht offenbar zugleich für den schnellen Erfolg der ersten Mission.

    Wie ein Lauffeuer verbreiten und vervielfältigen sich die charismatischen Jesus-Gemeinden von Palästina nach Syrien, von Kleinasien nach Griechenland; von ihren Erfolgen und Konflikten handeln die paulinischen Briefe, die pastoralen und die (sogenannten) katholischen Briefe oder Rundschreiben der christlichen Bibel, vielleicht sogar (in chiffrierter Form) die Johannesapokalypse. In dieser Urszene des Christentums begegnen wir noch allen möglichen Kommunikationsformen als Feuer einer initialen Explosion des Heiligen Geistes: in ekstatischen Gruppenprozessen, Zungenreden, Wunderheilungen, charismatischer Prophetie. Noch heute können wir solche pfingstlichen Urkirchen oder charismatischen Gottesversammlungen (Assembleas de Dio) aus wiedergeborenen Enthusiasten in aller Welt entstehen sehen – vor allem in Afrika, Lateinamerika, Ostasien, im globalen Süden der Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts. [ FOCUS (20) Die Konkurrenz]

    Corpus Christi

    In der entstehenden Christenheit war offenbar die Hafenstadt Korinth, Verkehrsknotenpunkt zwischen Attika und dem Peloponnes, ein Hotspot der neuen charismatischen Sekte: alle Formen und Sprachen der göttlichen Geistesgegenwart traten hier gleichzeitig auf und predigten einander (teils auch gegeneinander) das Reich Gottes … bis es am Ende dem Völkerapostel Paulus zu bunt wurde. In seinem ersten Brief an die Korinther Gemeinde ruft er den spirituellen Wildwuchs zur Ordnung.³⁹ Nachdem die pfingstliche Zerstreuung des Gottesgeistes die Jesus-Gemeinde in lauter einzelne, durch Gottes Anwesenheit begeisterte Seelen (mit je eigenen Versionen des Gottesreichs) aufgelöst hatte, müssen diese nun in einer sie übergreifenden und ihre Gemeinschaft stabilisierenden Struktur wieder zusammengefügt werden. Der charismatischen Unordnung einer sich unkontrolliert ausbreitenden Christus-Bewegung und ihren dabei unvermeidlichen inneren Spannungen (wenn nicht Spaltungen) setzt Paulus das Bild vom einen Leib Christi entgegen. Er begründet (und postuliert) damit einen institutionellen Korpsgeist für die entstehende Gemeinschaft der Gläubigen. Diese sollen nicht nur die apokalyptische Wahrheit der kommenden Erlösung verkünden, sie sind bereits in der Gegenwart dazu aufgerufen, zum Tempel des Heiligen Geistes zu werden (1 Kor 3,16; 6,19). Und dies erfordert ebenso sehr theologische Radikalität wie soziologischen Realismus. Der paulinische Code für beides lautet: die Kirche als Leib Christi.

    Der Vergleich eines kollektiven Körpers mit einem individuellen menschlichen Organismus hat eine lange Tradition, die auf einer Mikro-/Makro-Analogie beruht: auf dem Vergleich des Staates mit einem Organismus.⁴⁰ Diese Metapher ist ein klassischer Topos aller Rechtfertigungen von Ständegesellschaften – im Westen wurde sie vor allem verbreitet unter dem von Titus Livius in seiner römischen Geschichte überlieferten organologischen Gleichnis des Menenius Agrippa (Ab urbe, II. 32). Wenn dieser in seiner Rede an die aufsässigen Plebejer die Gesellschaftsklassen der Römischen Republik mit Körperorganen vergleicht, ist die Botschaft klar: Ebenso wenig wie im menschlichen Organismus der Magen sich anmaßen kann, die Leitungsfunktion des Gehirns zu übernehmen, dürfen die Volksklassen beanspruchen, an der Leitung des Gemeinwesens gleichberechtigten Anteil zu haben. Diese bleibt dem senatorischen Adel vorbehalten.

    Demgegenüber spielt im ersten Korintherbrief (12,12–30) des Apostels Paulus, der ersten christlichen Verwendung der Körpermetapher für eine Kollektivität, neben der Verschiedenheit der Organe auch der radikale Egalitarismus des Frühchristentums eine Rolle: »Denn wie der Leib einer ist und doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obwohl sie viele sind, doch ein Leib sind: so auch Christus«. Corpus Christi steht jetzt für die Einheit innerhalb der und zwischen den christlichen Gemeinden. Es ist die Taufe als Wiedergeburt in Christo,⁴¹ die alle innerweltlichen Unterschiede zwar nicht beseitigen will,⁴² aber doch durch die neue, geistgewirkte Einheit zwischen allen Gliedern der Gemeinde relativieren soll – ja, ihre Vielfalt sogar fruchtbar machen kann: »Denn wir sind durch einen Geist alle zu einem Leib getauft, wir seien nun Juden oder Griechen, Sklaven oder Freie,⁴³ und wir sind alle mit einem Geist getränkt« (1 Kor 12,13).

    Es gibt also unterschiedliche Rollen in der Gemeinde, aber die christliche Solidarität folgt Gott darin, »dem geringeren Glied höhere Ehre [zu] geben, damit im Leib kein Zwiespalt entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen« (1 Kor 12,24–25). Paulus war eben weder ein apokalyptischer Revolutionär noch ein innerweltlicher Egalitarist: Untereinander gleich sind die Getauften nur, soweit sie in Christo zum Reich Gottes berufen sind; in der Welt aber und auch im sozialen Leben der Gemeinde plädiert Paulus eher für eine kommunitäre denn eine egalitäre Solidarität. Jene hebt die hierarchischen Unterschiede und sozialen Rollen nicht auf, sondern vermag sie gewissermaßen zu funktionalisieren, das heißt zum Ansatzpunkt und Material der Liebe innerhalb der Gemeinde zu machen. Hierbei ist Paulus’ rhetorisches Argument dasselbe wie das bei Livius referierte des Menenius Agrippa: »Wenn der ganze Leib Auge wäre, wo bliebe das Gehör? Wenn er ganz Gehör wäre, wo

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