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Toleranz und Gewalt: Das Christentum zwischen Bibel und Schwert
Toleranz und Gewalt: Das Christentum zwischen Bibel und Schwert
Toleranz und Gewalt: Das Christentum zwischen Bibel und Schwert
eBook1.463 Seiten25 Stunden

Toleranz und Gewalt: Das Christentum zwischen Bibel und Schwert

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Über dieses E-Book

Der international renommierte Kirchenhistoriker Arnold Angenendt behandelt in seinem neuen Buch die heute gängigen Anklagen gegen das Christentum. Die Liste der aufgerechneten 'Todsünden' ist lang: Leib- und Geschlechterfeindlichkeit, Erzeugung falscher Schuldgefühle, Anspruch auf alleinseligmachende Wahrheit und damit Intoleranz, Absegnung der Kreuzritter als Beihilfe am Tod unschuldiger Moslems, die Inquisition mit Folterung und Verbrennung der Ketzer wie der Hexen, die Mission als Kolonialkrieg bei Ausrottung ganzer Volksstämme, Antijudaismus als Wegbereiter des Holocaust. Eine 'Blutspur' von neun Millionen Opfern habe das Christentum in der Geschichte hinterlassen. In Summe sei es eine altgewordene Weltreligion, die am besten abdanke. Auf breiter Faktenlage fußend legt Angenendt souverän dar, was die religions-, kultur- und allgemeingeschichtlichen Forschungen zu diesen Anklagen in den letzten zwanzig Jahren erbracht haben. Die Ergebnisse sind frappierend.
SpracheDeutsch
HerausgeberAschendorff
Erscheinungsdatum31. Juli 2012
ISBN9783402196779
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    Buchvorschau

    Toleranz und Gewalt - Arnold Angenendt

    umkommen.

    |19|

    ERSTER TEIL

    TOLERANZ UND GEWALT ALS

    MENSCHLICHE ERSTAUFGABE

    |20|

    1. KAPITEL

    Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt

    I. Der Mensch: das Kulturwesen

    Menschen töten Menschen. Weil dem Leben Gewalt droht, benötigt der Mensch Schutz. Diesen Lebensschutz sicherzustellen ist die grundlegende, die erste Stufe der Toleranz. Bis in den heutigen Diskurs der Menschenrechte gilt als Minimalforderung „das Verbot von Mord, Sklaverei, Folter und Genozid" ¹. Um dieser Mindestanforderung gerecht zu werden, bedarf es wiederum der Gewalt, nämlich der Gegengewalt, die der Unterdrückungs- oder Tötungsabsicht entgegentritt. So sind Toleranz und Gewalt von vornherein ineinander verwoben. Die englische und die französische Sprache unterscheiden, im Gegensatz zum Deutschen, zwischen Willkür-Gewalt und Schutz-Gewalt: violence und authority, violence und puissance; im Hintergrund steht die lateinische Unterscheidung von violentia und potestas/auctoritas. In dieses Spannungsfeld gehören auch die Religionen. Neigen sie zur Willkür-Gewalt oder zur Schutz-Gewalt? Und wie versteht sich das Christentum? Ist es, wie angeblich alle Monotheismen, gewalttätig? Hinterläßt es, wie ein soeben vorgelegtes religionspädagogisches Buch über ›Gewalt in den Weltreligionen‹ behauptet, eine breite Blutspur? ²Wir stoßen hier auf ein Problem, daß der Mensch von Anfang an zu bewältigen hatte, nämlich Tötungshemmung durch Aufbau von Kultur.

    „Keine menschliche Bevölkerung lebt in der Wildnis von der Wildnis; jede hat ihre Jagdtechniken, Waffen, Feuer, Geräte" – so der Kulturanthropologe Arnold Gehlen († 1976)³. Den Menschen gibt es nicht in einem kulturlosen Ur- oder Naturzustand. Er ist ein ‚Mängelwesen‘ und hat sich deswegen allzeit Kultur aufbauen müssen. Der Mensch ist – so Gehlen explizit – „,organisch mittellos‘, ohne natürliche Waffen, ohne Angriffs- oder Schutz- oder Fluchtorgane, mit Sinnen von nicht besonders bedeutender Leistungsfähigkeit, denn jeder unserer Sinne wird von den ‚Spezialisten‘ im Tierreich weit übertroffen. Er ist ohne Haarkleid und ohne Anpassung an die Witterung. Um zu überleben, muß sich der Mensch vorsehen, die angeborenen Mängel ausgleichen und Kultur aufbauen, nämlich Nahrung suchen, ein Kleid weben und ein Schutzdach

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    errichten". So lebt er immer schon als ‚Kulturwesen‘, nämlich „von den Resultaten seiner voraussehenden, geplanten und gemeinsamen Tätigkeit, die ihm erlaubt, aus sehr beliebigen Konstellationen von Naturbedingungen durch deren voraussehende und tätige Veränderung Techniken und Mittel seiner Existenz zurechtzumachen… Irgendwelche Techniken der Nahrungsbeschaffung und -zubereitung, irgendwelche Waffen, Organisationsformen gemeinsamer Tätigkeit und Schutzmaßnahmen vor Feinden, vor der Witterung usw. gehören daher zu den Beständen auch der primitivsten Kultur und ‚Naturmenschen‘, d.h. kulturlose gibt es überhaupt nicht"⁴. Kultur ist nichts anderes – so Sigmund Freud († 1939) – als die Summe der Leistungen und Einrichtungen, „in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander"⁵.

    Heute sind wir allerdings vorsichtig geworden, diesen Aufbau anhand wertender Kulturstufen zu erklären. Der Titel von Gehlens zuerst 1943 erschienenem Buch ›Urmensch und Spätkultur‹ drückt es eher schillernd aus; denn wie anders würde man assoziieren, hieße es ‚Frühmensch und Hochkultur‘. Spätkultur deutet auf Verfall, Hochkultur auf Überlegenheit hin. Anzuvisieren ist die vielgefächerte Differenz von Natur und Kultur, von Stamm und Staat, Steinzeit-Werkzeug und Technik-Zivilisation, von Brauchtums- und Buchreligion, von Mythos und Wissenschaft. An diesen Gegenüberstellungen ist freilich problematisch, daß sie Wertungen suggerieren, die ein elitäres Fortschrittsdenken unterstellen, das sich jedoch angesichts der heutigen Dritte-Welt-Problematik verbietet. Bevorzugt wird darum die nicht-wertende Abfolge von einem Primär- zu einem Sekundärstatus: also Primär- und Sekundärkultur, Primär- und Sekundärgesellschaften, Primär- und Sekundärreligionen.

    1. Tötungshemmung durch kulturelle Regeln

    So sehr der Mensch auf Werkzeuge angewiesen ist, so gefährlich können sie ihm werden. Sie sind zweischneidig: Wie die Werkzeuge einerseits dem Leben dienen, so andererseits dem Töten. Ausgehend von der These, „daß die Aggressionsneigung eine ursprüngliche, selbständige Triebanlage des Menschen ist"⁶, formulierte Sigmund Freud als Kulturtheorie: „Die Kultur muß alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen"⁷.

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    Eine Tötungshemmung aufzubauen und einzuhalten ist Erstaufgabe der Toleranz: das Lebenlassen. Diese Aufgabe reicht weit in die Vorgeschichte zurück. Bei Helmstedt/Niedersachsen aufgefundene Speere, die auf 400.000 Jahre geschätzt werden, gelten derzeit als „die bisher ältesten vollständig erhaltenen hölzernen Jagdwaffen der Menschheit"⁸. Damit vermochte der Mensch Großwild zu erjagen und seine Nahrungsbasis zu verbessern; damit konnte er aber auch seine Artgenossen effektiver denn je töten. Walter Burkert, der mit seinem Buch ›Homo necans‹ eine Geschichte der menschlichen Aggression geschrieben hat, nennt den im Feuer gehärteten Speer „die älteste wirksame Fernwaffe, so daß schon „die älteste Technik ein Werkzeug des Tötens schuf . Darum Burkerts Schlußfolgerung: „Wenn der Mensch trotzdem überlebt, ja sich ausgebreitet hat, so darum, weil an Stelle angeborener Instinkte die Regeln kultureller Tradition traten … Vor allem muß der Waffengebrauch strengsten – wenn auch künstlichen – Regeln unterworfen sein: im einen Bereich ist erlaubt und notwendig, was im anderen absolut verboten ist; was dort eine glänzende Leistung ist, ist hier Mord. Entscheidend ist, daß der Mensch überhaupt in der Lage ist, sich solchen Gesetzen zu unterwerfen, die seine individuelle Intelligenz und Anpassungsfähigkeit einschränken zugunsten gesellschaftlicher ‚Voraussagbarkeit‘⁹. Die seit der Vor- und Frühgeschichte bestehende Herausforderung, eine Tötungshemmung durch ‚kulturelle Regeln‘ aufzubauen, gilt bis heute, ja stellt sich in erhöhter Dringlichkeit. Schon vor dem Atom-Zeitalter prognostizierte Freud als „Schicksalsfrage der Menschenart, „ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden¹⁰. Mit Hans Jonas steht heute dem Menschen dringender denn je an, „die Unversehrtheit seiner Welt und seines Wesens gegen die Übergriffe seiner Macht zu bewahren¹¹.

    Der Tötungsrausch war noch im Mittelalter, wie der von Freud inspirierte Soziologe Norbert Elias († 1990) aufgezeigt hat, eine gesellschaftlich erlaubte Freude. Zur mittelalterlichen Kriegergesellschaft gehörte das Rauben, Plündern und Morden; zwar herrschte unter Standesgenossen Ritterlichkeit, aber Untergebene, Hörige, Bauern, Bettler konnte man verstümmeln, ihnen die Augen ausdrücken, sie sogar erschlagen, erst recht ihre Äcker, Ernten, Häuser und Höfe niedermachen und abbrennen. „Die Freude am Quälen und Töten anderer war groß, und es war eine gesellschaftlich erlaubte Freude"¹². Solche Ausbrüche von Gewalt gibt es bis heute; man denke nur an Ruanda, wo im Verlaufe des Sommers 1994 fast eine Million Menschen getötet wurden¹³. Gegen

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    diese regellose Rausch-Gewalt sind kulturelle Regeln aufzubauen: Zurückdrängung des eigenen Leidenschaftsausbruchs, Niederdrückung der gegen andere gerichteten Angriffslust, Regulierung des eigenen Affekthaushalts, Absicherung gegen die schockartigen Einbrüche des Gewaltrausches, Verzicht des Siegers auf Freilauf seiner Triebe. Eine in jeder Generation herbeizuführende Neumodellierung des psycho-physischen Apparates steht an, wofür die von Elias erfundenen Formulierungen Zitatworte geworden sind: „Selbstkontrollapparatur"¹⁴ bzw. „Selbstzwangsapparatur¹⁵, jeweils mit dem Ziel eines „genau geregelten An-sich-Haltens¹⁶ und einer „leidenschaftslosen Selbstbeherrschung¹⁷. Eine Verschiebung mußte erfolgen zu einem ethisch-innerlichen Selbstzwang, so daß die zunächst nur äußerlich aufgezwungenen Verhaltensregeln „sich in Selbstzwänge verwandelten¹⁸.

    Die Regeln, die wegen des Fehlens einer angeborenen Gewalthemmung notwendig sind, bedürfen nicht nur der Erhebung zu ethischen Normen, sie bedürfen auch der Durchsetzung. Bei drohender Willkürgewalt braucht es zur Abwehr Gegengewalt, die den Regellosen in die Schranken weist. Toleranz und Gewalt stehen folglich nicht einfach nebeneinander oder gar gegeneinander, sondern bewegen sich zirkular ineinander. Alle Rechtsverletzung erfordert – so der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann († 1998) – „vorbeugende oder verhindernde Abwehr"¹⁹. Als Maßstab für diese Gegenwehr diente zunächst die Talion: ‚Wie du mir – so ich dir‘. Angesichts der ursprünglich maßlosen Rache – so Luhmann – war die talionsartige Vergeltung „gleichsam das zuerst einfallende Rechtsprinzip; mit ihrer genauen Entsprechung bildete sie „eine kulturelle Errungenschaft spätarchaischer Gesellschaft en²⁰. Der nächste Schritt war dann, die Talion bei Tötung aufzuheben, so daß nicht immer wieder eine Gegentötung erfolgen mußte.

    Wir sehen: Gewalt und Toleranz sind von Anfang an ineinander verwoben, nämlich als Bemühen um gewaltfreies Lebenlassen und um gewaltbereiten Schutz. Die Regeln für das Ineinanderspiel formten sich anhand historischer Gegebenheiten und Voraussetzungen, so anhand von ethisch geweckter Gewissenhaftigkeit, wachsendem Wissen und vergrößertem Zivilisationsapparat, nicht zuletzt anhand von verändertem Person- und Freiheitsbewußtsein. Tatsächlich war die Ausformulierung und Etablierung „ein Prozeß sukzessiver Verrechtlichung von Freiheits-, Gleichheits- und Partizipationsforderungen"²¹.

    Für die oben vorgeschlagene Sprachregelung von Primär- und Sekundärwelt ergeben sich hier bereits erste Präzisierungen. Diese Bezeichnungsweisen bedeuten keineswegs, es sei völlig einerlei, ob man

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    sich im Primär- oder Sekundärbereich befindet. Der primäre Bereich ist nicht der grundsätzlich ‚natürliche‘ und der zweite nur der nachträglich ‚künstliche‘. Sofern die kulturellen Regeln sekundär sind – und sie sind tatsächlich keine Instinkt-Mitgift –, bleibt kein Zweifel an der einzuschlagenden Richtung: hin zur kulturellen Regel. Und deren erste heißt: Du sollst nicht töten. Mit Freud ist zu wiederholen: „Die Kultur muß alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen"²². Jegliche Art von Fortschritt macht, weil damit oft genug neue Tötungsmöglichkeiten entstehen, die ‚kulturellen Regeln‘ zur neuen Aufgabe. Das betrifft den Einzelnen wie die jeweiligen Sozietäten, was im Folgenden weiter zu bedenken ist.

    2. Vom Clan zur Menschheit

    Der Aufbau einer Tötungshemmung geschah und geschieht gesellschaftlich, und zwar zunächst in der eigenen Familie, im Clan und Stamm, immer innerhalb der Blutsverwandtschaft. Diese Binnensozialität wird heute oft biologisch gedeutet, daß nämlich unsere Gene ‚selbstsüchtig‘ seien und eine ‚kin selection‘ (Verwandtschaft s-Bevorzugung) bewirkten²³. Dem Göttinger Philosophen und Biologen Christian Vogel († 1994) zufolge agieren wir gemäß einem uralten stammesgeschichtlichen Erbe, nach dem „Prinzip des genetischen Eigennutzes, welches jeweils nach außen und nach innen unterschiedlich reagiert: „einerseits das Mißtrauen, die Ablehnung oder gar die Feindlichkeit gegenüber Nichtverwandten, Fremden und Außenstehenden, und andererseits der Altruismus, die Hilfsbereitschaft und der Opfermut gegenüber Verwandten, uns ‚nahestehenden‘ und vertrauten Menschen²⁴. Ein Universalismus, verstanden als Ausgerichtetheit auf das größere Ganze von Welt und Mensch, sei gerade nicht angeboren, müsse vielmehr der Menschennatur abgerungen werden. Wiederum ist es eine ‚kulturelle Regel‘, die nicht aus der Natur hervorgeht, sondern dieser abgetrotzt werden muß.

    Das ingroup/outgroup-Verhalten darf ethnologisch als primäre Form sozialer Organisation gelten, die auch als Gentilismus bezeichnet wird, um die Konzentration auf das jeweils eigene Volk (gens) zu verdeutlichen. Traditionelle Gesellschaften sehen sich – so der am Essener Wissenschaftskolleg tätige Ethnologe Klaus E. Müller – „eingebunden in ein System konzentrischer, sie ringförmig umschließender Kreise": Im Zentrum steht die Familie, um sie herum dann die Verwandtschaft, das Dorf, das Territorium, zuletzt noch der Stamm. Die jeweils eigene

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    Gruppe, das eigene Dorf bildet das Zentrum der Welt, erhebt den Anspruch, in gerader Linie vom ersterschaffenen Menschen abzustammen, hält die eigenen Leute für die tüchtigsten, klügsten und schönsten der Menschen, die eigene Kultur als ältestgestiftete, auch für die höchstentwickelte. „Die Weltanschauung traditioneller Gesellschaft en bestimmen Optik und Doktrin des Ethnozentrismus"²⁵. Der Clan garantiert Leben und Ansehen; der Nichtzugehörige ist verloren. Im inneren Kreis aber herrschen, trotz aller Solidarität, keineswegs individuelle Freiheit und Toleranz, denn ein jeder muß sich des Überlebens wegen in den Gesamtverband einfügen.

    Nach außen herrscht Feindschaft, denn „die Menschen, die ‚da draußen‘ existieren [und] quasi regellos, bar aller vernünftigen Ordnung leben, nur über wenig entwickelte ‚primitive‘ Gerätschaft en verfügen, keine schickliche Kleidung besitzen, lediglich Dämonen, tote ‚Götzen‘ und ohnmächtige Gottheiten verehren, sind ohne jedes höhere Empfinden für Moral, Sittlichkeit und Recht usw.; mit einem Wort: sie vegetieren gleichsam als rechte Barbaren und ‚Wilde‘ dahin"²⁶. Indem jedes Volk auf diese Weise das andere herabsetzt, herrscht ‚natürliche Feindschaft ‘. Gerade die Stammesgesellschaft mit Häuptling und Gefolgschaft realisiert beständig das ingroup/outgroup-Verhalten. Nach innen geht die Sozialpflicht so weit, „daß das einzige, meist nicht wieder aufhebbare Vergehen ein gegen den Stamm oder einzelne Stammesangehörige gerichtetes asoziales Verhalten ist"²⁷. Nach außen aber muß die Stammesgesellschaft stets aktionsbereit sein, und dafür braucht sie interne Geschlossenheit und eine schlagkräftige Spitze. Es sind also zwei Sphären: Sozialität im Innern und Feindschaft gegen die Äußeren. Wir werden noch sehen, daß diesem Gentilismus auch eine Gentilreligion entspricht: Die eigenen Götter sind die besseren und stärkeren, die der anderen nur schwächlich und verkehrt. Darum kann man die anderen Götter ‚lassen‘, nicht eigentlich aus Toleranz, sondern aus Verachtung. Im eigenen Bereich herrschen die besseren Götter und dulden keinen Nichtverehrer.

    Die Geschichte bietet Beispiele für die ingroup/outgroup-Moral in Fülle. Im Blick auf die homerische Welt schreibt etwa der Althistoriker Georg P. Landmann : „Gerne geben wir uns der Illusion hin, zwischen Völkern sei Friede der Normalzustand und Krieg nur eine Störung. In Wirklichkeit muß Friede seit je vertraglich geschlossen und bewahrt werden. Wer nicht zur eigenen Gemeinschaft gehört, wer ‚draußen‘ steht, ist zunächst ‚echthros‘, Feind. In der Frühzeit gehören Frauenraub, Herdenraub zum Alltäglichen"²⁸. Als Ausdruck der Geringschätzung Anderer benutzte die Antike das griechische Wort Barbar, ursprünglich

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    verwendet zur Deklassierung von Nichtgriechen, Fremden, Ausländern, Landesfeinden, kulturlosen Wilden, Ungebildeten, Dummen, überhaupt von Angehörigen eines fremden (Kultur-)Volkes. Erst in hellenistischer Zeit kamen positive Aussagen hinzu, insgesamt blieb die Einstellung jedoch weiterhin feindlich²⁹. In der germanischen Welt war – so der Bochumer Religionswissenschaftler Hans-Peter Hasenfratz – „alles, was außerhalb des Sippenfriedens steht, …Feind³⁰. Für die frühmittelalterliche Welt konstatiert der französische Mediävist Georges Duby († 1996) eine „natürliche Feindschaft zwischen den Volksstämmen³¹. Noch die ethnischen Säuberungen des 20. Jahrhunderts wiederholten das uralt-angeborene Feindschema, jetzt neu begründet mit rassistisch-nationalen Argumenten und verheerender denn je ausgeführt mit moderner Waffentechnik. So schreibt der amerikanische Historiker N. Naimark, der den Begriff ‚ethnische Säuberung‘ eingeführt hat: Absicht sei immer die Entfernung des anderen Volkes von einem bestimmten Territorium; die jeweils fremde Nationalität, ob nun als ethnische oder religiöse Gruppe, gelte es auszurotten und ihre Wohnsitze zu übernehmen, wobei Massenmorde geradezu selbstverständlich würden, um das Land vom anderen Volk zu säubern. „Seit den Anfängen der dokumentierten Geschichte haben dominierende Völker weniger mächtige und Gruppen, die sie als untergeordnet und fremd ansahen, angegriffen und von ihrem Territorium verjagt. Homers Ilias ist voller brutaler und schockierender Beispiele dessen, was man ethnische Säuberung nennen könnte, gleiches gilt für die Bibel"³².

    Vom modernen Verständnis einer universalen Menschheit her laufen wir leicht Gefahr, die uns wie selbstverständlich gebotene Humanität und Individualität als immer schon gegebenen Maßstab vorauszusetzen. Verkannt wird dabei, daß primäre Gesellschaften und zumal Stammeskulturen wesentlich anders agieren und strukturieren: Die Blutsgemeinschaft ist das Vorgegebene, und auf sie hin lebt jedes Mitglied. Bis heute gilt: „In vielen Teilen der nichtwestlichen Welt definiert sich der Mensch nicht zuerst als Individuum, sondern als Teil einer bestimmten Gruppe, meistens einer verwandtschaftlichen Gruppe: einer Familie, einer Lineage, eines Klans"³³. Persönliches Freiheitsbewußtsein und Emanzipation des Einzelnen spielen allenfalls eine nachgeordnete Rolle, und damit entfällt auch die Notwendigkeit einer individuellen Toleranzgewährung. Ja, man will gar nicht die eigene Sonderrolle, sondern will sein wie alle, oder besser noch: wie das Sippenhaupt bzw. der Spitzenahn. Sollen wirklich individuelle Menschenwürde und -rechte definiert und realisiert werden, sind neue Schritte zu tun: der Übergang von der Clan-und

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    Stammesgesellschaft zur einer den Einzelnen individuell respektierenden Menschenwürde.

    3. Die Hierarchie der theopolitischen Ordnung

    Vergesellschaftung und Religion gehen regelmäßig zusammen. An zahlreichen religionsgeschichtlichen Beispielen läßt sich zeigen, wie bestimmte Religionsansätze auch ganz bestimmte Konzepte menschlicher und gesellschaftlicher Entfaltungsmöglichkeiten einerseits befördern wie andererseits behindern. Religion bestimmt mit über die Maßstäbe von Gewalt und Toleranz. Will man hier die Unterscheidung in ‚Primär-‘ und ‚Sekundärreligion‘ beibehalten, kann damit positiv ausgedrückt werden, daß die Primärform die Bausteine religiöser Grunderfahrung erfaßt und darum nicht als eine zu überwindende Primitivstufe gelten darf. Dennoch dürfen erweisliche Unterschiede zur Sekundärreligion hin nicht verwischt werden, gerade nicht in der Gewaltfrage.

    Die Primärform von Religion bedeutet, wie der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann sagt, „Weltbeheimatung"³⁴, nämlich Eingebettetsein in den Kosmos und dessen ewige Gesetzlichkeit: Morgen und Abend – Tag und Nacht – Sommer und Winter. Der Mensch existiert ganz in und mit der Welt und ihrer Rhythmik. Angesichts der ewigen Wiederkehr verheißt der Kosmos dem Menschen ebenfalls Wiederkehr: nach dem Tod wieder Leben. Gleichzeitig erfahren die Menschen ein oft genug auch grausames Geschick, indem ihnen die Kosmosmächte gnadenlos mitspielen. Wie einerseits eine eherne Gesetzlichkeit vorherrscht, so wütet andererseits blinde Willkür: Donner und Blitz, Unglück und Tod, Krankheit und Seuchen. Folglich muß es sowohl Ordnungsmächte wie Willkürmächte geben, die miteinander im Streit liegen. Zu optieren ist natürlich für die Ordnungsmächte. Dabei stabilisiert die primärreligiöse Weltbeheimatung, sofern sie Blut- und Boden-Beheimatung in Familie, Clan und Stamm einschließt, immer auch die Primärgesellschaft; sie sakralisiert das eigene Volk als erstes der Welt und macht den Herrscher zum göttlichen Stellvertreter auf Erden: „Hauptakteure alter Religionen sind die Könige und die sonstigen Obrigkeiten"³⁵.

    Die sich daraus ergebenden Folgewirkungen für Menschenverständnis, für Freiheit und Toleranz sind im einzelnen zu bedenken. Weil Primärreligion immer ‚kosmologische Ordnung‘ ist, errichtet sie gesellschaftlich eine „theopolitische Ordnung"³⁶: Von oben, von den Himmlischen her, ist der ganze Kosmos bis in die Niederungen der Welt

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    hinein durchstrukturiert. Als solche ist sie von eherner Stabilität, vermittelt einerseits die feste Hoffnung auf Wiederkehr des Lebens nach dem Tode, zwingt andererseits strikt in ihre kosmische Hierarchie. Gemäß dieser ewigen Hierarchie stammen die Herrscher aus höherer Sphäre oder sind zumindest von dort her legitimiert.

    Auf Erden gipfelt dieser Kosmopolitismus im himmlisch/irdischen Gottkönigtum. Die Folge ist, wie wiederum Jan Assmann sagt, „die Verehrung eines Höchsten Gottes, der als Schöpfer, Erhalter und Gottkönig das Prinzip Herrschaft verkörpert, was der [irdische] König als sein Sohn oder Statthalter in der Menschenwelt ausübt"³⁷. Positiv vermag die theopolitische Ordnung vor allem dort zu wirken, wo Herrschaft und Ordnung erst durchzusetzen sind, sozusagen in Zeiten eines notwendigen Absolutismus. Nur darf man dabei nicht eine allgemeine Gleichheit erwarten, denn es herrscht eine vom Himmel zur Erde hinabreichende Hierarchie, die die Menschen jeweils abstuft und für ewig festlegt. Der soziale Rang in dieser Welt bestimmt sogar noch über die Stellung im Jenseits: Wer auf Erden König ist, wird es ebenso im Himmel sein³⁸. Infolgedessen bedeutet jeder irdisch-soziale Umsturz, etwa den König entthronen oder Sklaven befreien, eine Revolte gegen die ewige Kosmosordnung, stellt sogar den freventlichen Versuch dar, das Weltengesetz von Sonne und Sternen umzustoßen. Wo immer politische und religiöse Ordnung identisch sind, bleibt eine Trennung von Religion und Herrschaft ganz undenkbar. Ja, umgekehrt: jeder Verstoß gegen König und Staat ist ein Religionsvergehen.

    Die Antike kannte Züge eines „Naturalismus zugunsten von Ungleichheit, bei Platon sogar „in Form eines gegen Veränderung gefeiten Kastenstaates³⁹. Den vorderorientalischen Religionen hat man insgemein nachsagen können, „daß sie immer ‚Weltordnung‘ mit-bedeuteten: gerechtes Handeln ist ein Handeln in Übereinstimmung mit dem der Welt inhärenten Sinn"⁴⁰. Selbst in der europäischen Neuzeit konnten solche theopolitischen Vorstellungen aktiviert werden. Jean Bodin († 1596), Erfinder der Staatssouveränität und Beförderer des Absolutismus, stellt den irdischen Fürsten in Relation zum universalen Gott als dem Beherrscher der Planeten und aller Kreaturen, so daß sich Kosmos und Staat entsprechen und beide eine geschichtete Hierarchie aufweisen; folglich sind auch die Menschen ungleich⁴¹. Für Thomas Hobbes († 1679), einen weiteren Theoretiker des Absolutismus, entspricht die uneingeschränkte Herrscher-Souveränität der Allmacht Gottes: „Der souveräne Herrscher ist deus mortalis [sterblicher Gott]"⁴². Der kosmologischen Ordnung folgen auch die ostasiatischen Religionen: Nach den Lehren des

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    Konfuzius besteht die Welt als Einheit (‚Universum‘) aus ineinandergefügten, konzentrischen Kreisen, die eine hierarchische Ordnung darstellen. Der jeweils höherstehende Würdenträger ist verpflichtet, seine Untergebenen gerecht zu behandeln und zu schützen, während diese ihm ihre Dienste und strikten Gehorsam schulden. „Jede Form eines ‚dualistischen‘ Denkens, wie es aus westlicher Sicht etwa im Gegensatz von Recht und Moral, Herrschaft und Freiheit, Staat und Gesellschaft, Kollektiv und Individuum zum Ausdruck kommt, ist den fernöstlichen Kulturkreisen fremd"⁴³.

    Die kosmopolitisch-hierarchische Weltordnung zu erschüttern, bewirkte das Konzept der persönlichen Ethik. Sie reißt den Menschen aus der primären Weltbeheimatung heraus, indem ein Gott bzw. der eine Gott in Erscheinung tritt, welcher das sittlich Gute repräsentiert und ewiges Leben verheißt. Der Mensch sieht sich nun, statt primärreligiös in die eine theopolitische Ordnung eingeordnet zu sein, als Einzelner vor einen sittlich-wahren Gott gestellt. Dieser offenbart sich ihm, gibt seine Gebote und beansprucht dafür des Menschen Innerstes, sowohl Geist wie Herz. So hat der Mensch sein Sinnen und Handeln jeweils zu überdenken, um zu einem inneren Entscheid für den wahren Gott und dessen sittlich gute Forderungen zu kommen. Wer sich hierin bewährt, ist ein Gottesfreund, mag er in Wirklichkeit nur Sklave sein; wer sich hiergegen versündigt, wird verworfen, mag er selbst König sein. Den Entscheid darüber fällt der ethische Gott in seinem Gericht nach dem Tod jedes einzelnen Menschen.

    Dieses persönlich zu erwartende Gericht bezeichnet Jan Assmann als den großen Beitrag Ägyptens zur Religionsgeschichte; denn das anhand der ethischen Lebensführung gefällte Urteil habe über den Zugang zum Jenseits entschieden, und zwar für Hoch und Niedrig in gleicher Weise. Dies habe eine doppelte Wirkung gehabt, einmal eine egalisierende und sogar demokratisierende, denn vor diesem Richtergott galten nicht mehr Rang und Stand, sondern allein die Person⁴⁴; zum anderen eine individualisierende, sich nämlich wegen der Verantwortung vor Gott gebotenenfalls gegen alle anderen zu stellen und Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Auf diese Weise erst entsteht die gewissenhaft e, ethisch handelnde Person, und dies wird göttlicherseits anerkannt, ja gefordert und belohnt; dadurch bildet sich eine erste Basis für Freiheit und Autonomie⁴⁵. Der Exeget Claus Westermann († 2000) hat im Blick auf das Alte Testament das Individualbewußtsein erst einem relativ späten Stadium zugeordnet, erst einer Zeit nach der geschlossenen Volksreligion, in welcher noch die Volkszugehörigkeit mit der je eigenen Religion identisch

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    gewesen sei und Religion alle Bereiche des Volkslebens, so auch Politik und Wirtschaft, mitbestimmt habe; das aber habe bedeutet, daß „die freie Religionswahl undenkbar und unvollziehbar war"⁴⁶.

    Der kosmisch-religiöse und ethisch-religiöse Ansatz sind tief geschieden. In primär kosmischen Religionen geht es um die ewige Ordnung, deretwegen das Kosmosgefüge unbedingt aufrechtzuerhalten und jede Störung zu beheben ist. Stets muß sich die Ordnung der ewigen Verhältnisse wieder herstellen, und daran hat der Mensch mitzuwirken, sonst trifft es ihn tödlich. Nötigenfalls sind Opfer darzubringen, auch solche von Menschen, etwa bei der Winterwende, damit die kosmische Sonne wieder erstarkt. Letztlich zielen diese Wiedergutmachung und die Ahndung von Verstößen darauf, den entstandenen ‚Riß‘ oder die ‚Lücke‘ im Ordnungsgefüge durch entsprechende Sühneleistungen, Kasteiungen und Opfer wieder auszugleichen, ebenso Verunreinigungen durch kathartische Riten zu tilgen – „alles, um den ‚ursprünglichen‘ Zustand der Gesellschaft, ihre ‚Unversehrtheit‘ und damit volle Funktionsfähigkeit stets wieder aufs neue zu ‚restituieren‘"⁴⁷. Hierbei ist ethisches Verhalten, das sich in der Innerlichkeit des Menschen begründet, nachgeordnet oder irrelevant. Selbst die Götter richten sich nicht nach Recht und Gerechtigkeit; eher umgekehrt agieren sie wie willkürlich, treiben die Menschen zu Krieg, Mord und Ehebruch. So gibt es in der griechischen Frühwelt „Szenen der gebrochenen Versprechen und Verträge, der ungezügelten Grausamkeit und der schieren Mordlust, auch seitens der Götter⁴⁸. Ebenso ist der alttestamentliche Gott zunächst nicht ein Gott der Ethik; vielmehr herrschte „eine vorkultische, vorpolitische und vormoralische Religion⁴⁹. Im kosmischen Verständnis sind religiöse Vergehen ‚objektiv‘ zu büßen; sie verlangen, ob willkürlich oder zufällig begangen, immer einen Ausgleich der gestörten Weltbalance. Was ein ethisch bestimmter Gott soziologisch zu leisten vermag, bringt ein Vers des neutestamentlichen ›Magnificat‹ zum Ausdruck: „Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen" (Lk 1,52).

    Im Hinblick auf die kulturellen Regeln ist festzuhalten: Die kosmopolitische Ordnung schafft menschliche Ordnungen und stabilisiert irdische Hierarchien. Sie schafft Ordnung, vermag aber keine soziale Dynamik freizusetzen. Dem Tüchtigen freie Bahn zu geben ist hier grundsätzlich nicht möglich. Dafür bedarf es einer anderen Ordnung, einer solchen mit je individueller Initiative, die dem Geist und Herzen des Einzelnen entspringt und entspricht.

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    4. Von der Primärethik zur Sekundärethik

    Das Vordringen eines verinnerlichten Ethos war ein langdauernder Prozeß, dessen Auswirkungen sich historisch aufzeigen lassen. Für die Frühzeit gerade auch der kosmisch bestimmten Religionen ist mit dem Kieler Rechtshistoriker Hans Hattenhauer vorauszusetzen: „Das alte Recht fragte nicht nach dem Täter, nicht nach Fahrlässigkeit und Vorsatz. Anlaß der Bußpflichtigkeit war der Rechtsbruch als ein äußeres Ereignis; er wurde nicht ethisch gewertet, so schwer verständlich dies auch modernem Denken ist"⁵⁰. Noch die homerische Gesellschaft agierte frühzeitlich, beurteilte Handlungen eher vom Ergebnis als von den Absichten her und unterschied beispielsweise nicht zwischen Totschlag und Mord; jede Tötung, ob gewollt oder ungewollt, war eine kosmische Störung und darum auszugleichen⁵¹. Erst die Philosophie formulierte die neue intentionale Ethik. Platon († 348/47 v. Chr.) proklamierte: „Wenn jemand mit Willen beabsichtigt, einen … Menschen zu töten …, diesen aber nur verletzt, ohne daß es ihm gelingt, ihn zu töten, so … soll man … ihn zwingen, sich wegen Mordes zu verantworten⁵². Zugleich galt nun aber auch umgekehrt: „Wenn jemand …ungewollt einen befreundeten Menschen tötet, so soll er …rein sein⁵³. In Israel haben die Propheten diese Wende vollzogen, nämlich „in der Stärkung der ethischen Dimension der Jahwereligion⁵⁴. Zu Recht gilt der Übergang von der ‚faktizistischen‘ zur ‚voluntaristischen‘ Schuld-Auffassung als „weltgeschichtlich einmalige und bahnbrechende Entwicklung⁵⁵, für Paul Ricoeur († 2005) sogar als „wahre Revolution"⁵⁶. Denn erst dadurch entsteht Raum für innere und persönliche Entscheidungen.

    Der Unterschied von vorethischer und ethischer Religion zeigt sich besonders auch darin, wie kosmische und vorethische Ordnungen das Ungute ahnden. Kosmisch orientierte Religionen verlangen bei jeder Störung sofort den Ausgleich, ob nun der Mensch sich seiner Verursachung bewußt ist oder nicht. Der Kosmos muß schleunigst wieder ausbalanciert werden, und das führt zu einem Phänomen, das der Moderne höchst anstößig ist und umschrieben wird mit ‚Strafe für fremde Schuld‘. Denn der kosmische Verstoß muß nötigenfalls vom Kollektiv, in dessen Bereich er sich ereignet hat, behoben werden, wobei Andere stellvertretend für den Verursacher eintreten können, damit nur ja die Störung beglichen wird. So anstößig heute dieses Phänomen erscheint, aus der Sicht des kosmischen Ausgleichs ist es nur folgerichtig. Bei ethischen Einstellungen zählt allein, was der Einzelne an Gutem bzw. Bösen gewollt hat. Sofern er Böses gewollt hat, muß er als Einzelner büßen, und kein Anderer

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    kann seine Buße erledigen. Wer aber seine Untat nicht gewollt und ihre Bösartigkeit nicht beabsichtigt hatte, bleibt sogar frei, mag die Untat noch so gravierend sein und die Weltordnung aus dem Gleichgewicht bringen. Wo immer kosmisch orientierte Religionssysteme mit solchen ethischer Art zusammenstoßen, ergeben sich notwendig Konflikte, die gerade auch die individuelle Schuld betreffen. Im Christentum bietet ein Beispiel die heute oft als empörend empfundene Erbsünde, die zunächst nichts anderes als ‚Strafe für fremde Schuld‘ bedeutet⁵⁷. So sehr das Christentum die je individuelle Schuld hervorhob, so erklärte es dennoch die allenthalben feststellbare Störung in Welt und Menschenleben mit einer ‚Erbsünde‘ (worauf noch näher einzugehen ist).

    Mit der Weckung der ethischen Eigenpersönlichkeit, wie sie im alttestamentlichen Prophetismus und im griechischen Philosophentum hervortrat, entstand ein neues Verständnis von Freiheit und Selbstbestimmung, nun sogar mit dem Verlangen, sich gegebenenfalls von der Gruppe loszulösen, um ganz Selbst zu werden. Das bedeutete persönliche Freiheit, forderte aber zugleich ethische Anstrengung: Man mußte sich von Lob und Schmeichelei, zumal von der Angst des öffentlichen Ansehensverlusts freimachen, nötigenfalls sich der Allgemeinheit mitsamt ihren Mächtigen entgegenstellen. Die eigene Absicht war unabhängig von der herrschenden Meinung rein auf ihre ethische Qualität hin zu prüfen, vom eigenen Gewissen her zu rechtfertigen und öffentlich zu bezeugen. Hier geschieht eine „große Änderung, daß nämlich, um Sigmund Freud zu zitieren, „Gewissensphänomene auf eine neue Stufe gehoben werden, nämlich von der sozialen Angst, der „Angst vor dem Entdecktwerden, zur Gewissensangst mit „Schuldgefühl⁵⁸. Dem englischen Althistoriker Eric Dodds († 1979) zufolge ist es „die Aufrichtung der inneren Autorität, der Übergang von der „shame culture zur „guilt culture, ob man sich nämlich der öffentlichen Meinung anpaßt, um sich nicht zu blamieren, oder ob man seinem Gewissen folgt und sich gegebenenfalls gegen alle sonst stellt, um nicht vor sich selber schuldig zu werden⁵⁹. Für die menschliche Freiheitsgeschichte bedeutet das: Erst nach Weckung eines solchen inneren Ethos gibt es jenes Individuum, das wesentlich eigene Person sein will; erst jetzt entsteht das Verlangen, die eigene Individualität voll zu verwirklichen und dafür Toleranz zu erhalten. Immer aber stellt sich dabei der Anspruch, dem Gebot des Gewissens zu folgen. Somit beginnt hier jene ‚Selbstverwirklichung‘, die der Soziologe Hans Joas auf die Formel bringt: „Das mir bestimmte Entwicklungsziel unterscheidet sich von deinem und dem aller anderen⁶⁰. Und das gilt gerade für die Moderne.

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    Der Wechsel von primärer bzw. kosmologischer zu personal-ethischer Religion hat im einzelnen noch eine Vielzahl spezieller Freiheitsfolgen, von denen hier nur eine, nämlich die veränderte Stellung der Frau, angeführt sei. Nach kosmologischer Ordnung entspricht der Mann für gewöhnlich der Sonne und die Frau dem Mond, womit letztere immer nur ein Abglanz ist und nie Gleichberechtigung erhält. Hingegen kann sie bei ethischer Lebensauffassung eine eigene und gleichwertige Personalität gewinnen. Damit ändert sich zum Beispiel auch die Ehe, die nun zur partnerschaftlichen Konsens-Ehe wird.

    Das Neue Testament setzt die im Alten Testament eingeleitete Internalisierung der Ethik konsequent fort: Wer im Herzen begehre, habe schon getan! Eine Fehltat zählt folglich auch dann, wenn sie nur erst im Herzen, nicht aber in Wirklichkeit geschehen ist (cf. Mt 5,28). Weiter wird auch die ‚shame-culture‘ aufgelöst: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten …, sondern fürchtet euch vor dem, der Seele und Leib ins Verderben der Hölle stürzen kann (Mt 10,28). Paulus ist als Lehrer des Gewissens aufgetreten, daß sich „vor Gott und den Menschen immer ein reines Gewissen gebiete (Apg 24,16). Er setzt dieses Gewissen als „allen Menschen eigen voraus, bei Juden wie bei Heiden"⁶¹, fordert von jedem, mit sich selbst ins Gericht zu gehen und zu handeln „nicht allein aus Furcht vor Strafe, sondern vor allem um des Gewissens willen (Röm 13,5). An die Stelle eines von außen drohenden Strafgerichts soll der Spruch des eigenen Gewissens treten. Hier herrscht verinnerlichte Ethik, in welcher Geist und Herz die entscheidende Qualität ausmachen. Infolgedessen mußte sich das Christentum von allen vorethischen Schemata lösen. So bezeugt beispielsweise das Neue Testament eine „eigenartige Freiheit Jesu gegenüber den Reinheitsgeboten⁶², die er zugunsten ethischer Reinheit entwertet: „Was aus dem Herzen herauskommt, das macht unrein" (Mk 7,20), und nicht, was etwa als unreine Speise in den Magen gelangt oder an Sexualstoffen ausgeschieden wird. Diese Ethisierung verschaffte allgemein und insbesondere den Frauen eine Befreiung zu einem stärker gleichberechtigten Menschsein⁶³.

    Halten wir fest: Solange die primärsoziale Ordnung mit Clan- und Kosmosbindung vorherrscht, bleibt der Mensch ein- und untergeordnet. Erst das Ethos der Sekundärreligion sprengt ihn daraus frei, verschafft seinem Denken und Handeln einen Individualraum, sowohl gegenüber Clan und Volk wie gegenüber den kosmisch fixierenden Ordnungen. Erst jetzt sieht sich der Einzelne zu überlegter Lebensführung verpflichtet, weckt in sich eine intensivierte Geistigkeit und ein Freiheitsbewußtsein. Somit dürfte deutlich sein: Grundsätzlich bedarf es, wo immer Individualrechte

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    und deren Tolerierung durchzusetzen und abzusichern sind, der Konzeption eines ‚freien‘ Menschenbildes und dessen gesellschaftlicher Tolerierung. Mit der Wende zur personalisierten Sekundärsozialisation hat sich jene menschliche Personalität, wie wir sie heute verstehen, zu bilden begonnen. Zugleich wird aber auch klar, daß es unmöglich ist, von diesem ethischen und sozialen Zugewinn abzusehen, ebenso unmöglich, diesen Zugewinn historisch relativierend von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ loszulösen. Denn für uns ist die ‚sekundär‘ entstandene Personalität ‚richtig‘ und die Rückkehr in die Primärsituation ‚falsch‘, ja ‚barbarisch‘, wie etwa die Anwendung der ‚archaischen‘ Sippenhaft in den modernen Terrorsystemen zeigt.

    5. Das kulturelle Gedächtnis

    Wo immer eine Erfindung, ob nun technisch-zivilisatorischer oder auch mental-ethischer Art, gemacht wird, muß sie erprobt und, wenn für positiv befunden, festgehalten und allgemein angeeignet werden. Weil die kulturellen Regeln nicht einfach von Natur aus da sind, müssen gerade sie erfunden, erprobt, gespeichert und publiziert werden, damit sie allen zu eigen werden. Hierhin gehört Jan Assmanns inzwischen vielzitierte Theorie über das ‚kulturelle Gedächtnis‘. Ein solches bildet sich zunächst durch Aneignung der Tradition und bestätigt sich durch Wiederholung, nämlich in der kollektiven Teilnahme an den kultischen Erinnerungsfesten und im Hören der Mythen mit der Einprägung entsprechender Lebensregeln. Ziel ist „die Verfestigung des kulturellen Sinns"⁶⁴.

    Einen neuen Schub brachte die Erfindung der Buchstaben und des Buches: „Der Erwerb der Schrift gilt als Evolutionsschritt gleichen Ranges wie der Erwerb der Sprache"⁶⁵. Die Schriftkultur vermag wichtige Erkenntnisse und Regeln in neuer Präzision festzuhalten und ‚kulturelle Kohärenz‘ mittels Repetition und Interpretation in einer neuen Dichte zu erstellen: Alle müssen sich mit den inzwischen erstellten Normtexten beschäftigen und sie im eigenen Bewußtsein verankern. Diese Verfestigung bewirken die Schrift-Kulturen in doppelter Weise: „als eine Rückkehr zu den großen fundierenden Texten und als die Institutionalisierung einer Ausbildungskultur bzw. ‚Sinnpflege‘, die dafür sorgt, daß die in den Texten kodifizierte Wirklichkeitsvision durch alle Epochen hin gegenwärtig und maßgeblich bleibt"⁶⁶. Mittels ‚Kodifizierung‘ und ‚Kanonisierung‘ – so die entscheidenden Stichworte Assmanns – lassen

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    sich die kulturellen Regeln in feste Gesetze umsetzen. Zugleich kann der Aneignungs- und Durchsetzungsprozeß von Wissen schneller vorangetrieben und besser begründet werden. Die Verschriftlichung macht unabhängig von der oft schwankenden Erinnerung der Alten, garantiert Konstanz über die Generationen hinweg, wie obendrein das Wissen effektiver und egalitär verbreitet werden kann. Die Folgen gestalteten sich geradezu unübersehbar. Ermöglicht wird der „Übergang zu anspruchsvolleren Formen der gesellschaftlichen Differenzierung"⁶⁷, denn die Schrift erlaubt „die reflexive Haltung zur Tradition und führt durch schlagartige Ausweitung des Gedächtnisses zu einer veränderten Struktur des Wissens, verändert damit gerade auch „das Leben in Staaten⁶⁸. Die nun verschriftlichten Gesetze werden allgemein verbreitet, und jeder kann sie als sein Recht ergreifen. Wer immer sich auf begründetes und verbrieftes Recht zu berufen vermag, gewinnt Halt gegen den Druck der Allgemeinheit und bekommt Wissen für die eigene Entscheidung⁶⁹. Für die Gegenwart braucht nur auf die Bedeutung der Helsinki-Akte und der Menschenrechtskonventionen für die Bürgerrechtsbewegungen im ehemaligen Ostblock verwiesen zu werden.

    Voraussetzung des kulturellen Gedächtnisses ist ein effektiver zivilisatorischer Apparat: Schulen entstehen, Bildung reichert sich an und Administration baut sich auf, wofür Primär-Gesellschaften keine Voraussetzungen bieten. Das kulturelle Gedächtnis, sobald es verschriftlicht wird, verortet sich in der Gelehrtenstube und in der Schulstube. Beide bedingen sich: der spezialisierte Gelehrte und die ihn hörenden und dann fortsetzenden Schüler. Noch Jürgen Habermas’ Habilitationsschrift ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹ behandelt die Dialektik von ‚Einzelzimmer‘, wo der Einzelne sinniert, und von ‚Salon‘, wo die Gemeinschaft diskutiert: „Die Privatleute treten aus der Intimität ihres Wohnzimmers in die Öffentlichkeit des Salons hinaus"⁷⁰.

    Ganz wesentlich ist die Religion betroffen: Sie wird zur Buchreligion. Bei einem heiligen Buch – so schon Kant – „verschlägt nichts wider den alle Einwürfe niederschlagenden Machtanspruch: da steht’s geschrieben"⁷¹. Das hat grundlegende Folgen, wie sie etwa der englische Ethnologe Jack Goody darstellt: „Die ursprünglichen Worte der Propheten, die hohen Ziele der Religionsstifter wurden in Texte eingeschlossen und können machtvolle Potenzen der Veränderung darstellen"⁷². Andererseits entsteht die Gefahr, daß Schriftreligionen ihre Flexibilität verlieren, zur buchstäblichen Orthodoxie gerinnen und Lebensprozesse einzwängen. Der Streit um ‚wahr‘ und ‚falsch‘ kann dadurch neuartig eskalieren.

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    Als eindringlichste Beispiele großer und revolutionärer Durchbrüche gelten die ‚achsenzeitlichen Kulturen‘, die im ersten vorchristlichen Jahrtausend in bestimmten Hochkulturen eine neue ‚Rationalität‘ und ‚Ethisierung‘ hervorbrachten. Die hierdurch bewirkte Revolution ist „wahrscheinlich die radikalste vor dem Heraufziehen der Moderne" gewesen⁷³, denn hier habe sich die Weltgeschichte ein erhebliches Stück ‚weitergedreht‘. Breiter bekanntgemacht hat Karl Jaspers († 1969) diese Achsenzeit: „Die Gottheit wurde gesteigert durch Ethisierung der Religion, wobei gleichzeitig „der Mensch über sich hinausgreift, indem er sich seiner im Ganzen des Seins bewußt wird, und daß er Wege beschreitet, die er als je Einzelner zu gehen hat⁷⁴. Shmuel Eisenstadt von der Hebrew Uni-versity/Jerusalem hat sich zum unermüdlichen Propagator einer „Achsenzeit der Weltgeschichte gemacht. Obwohl eine solche heute als zeitlich wie sachlich breiter angesetzt wird, spricht Eisenstadt betont von den ‚Saatbett-Gesellschaften‘ Griechenland und Israel⁷⁵. Eindringlich warnt er vor nur ‚natürlicher Evolution‘; denn die kulturellen Programme und institutionellen Formen dieser Revolution gingen „nicht aus einem natürlichen evolutionären Potential … hervor⁷⁶. Darum seien die achsenzeitlichen Zugewinne immer auch gefährdet, müßten stetig neu gesichert und vor Amalgamierungen mit primordialen Verhaltensstrukturen geschützt werden: „Die neuen ‚kulturbezogenen‘ … – ‚religiösen‘ – Kollektive hoben sich zwar deutlich ab von den politischen und auch von ‚primordialen‘, ‚ethnischen‘, lokalen oder religiösen Kollektiven, aber jene wirkten auf sie ein, interagierten mit ihnen, forderten sie heraus, so daß alle ihre Identität ständig neu herstellen mußten. Die Handelnden … waren die autonomen kulturellen Eliten"⁷⁷.

    Gesellschafts- und geistesgeschichtlich gesehen verstärkt sich in diesen Prozessen – um die Perspektive wieder auf unsere Thematik zurückzulenken – die Identität des Einzelnen. Denn jetzt entsteht – so Jan Assmann – „das im Bewußtsein des Einzelnen aufgebaute und durchgehaltene Bild der ihn von allen (signifikanten) Anderen unterscheidenden Einzelzüge"⁷⁸. Voraussetzung dafür ist der Aufbau von ‚rationalen‘ wie ‚ethischen‘ Kulturen, die diese Individualisierung ermöglichen. Immer aber droht eine Gefährdung durch Rückfall in primordiale Gesellschafts- und Religionsstrukturen, wogegen jedoch die Verschriftlichung ihre bewahrende und erinnernde Wirkung setzt. Das alles ist aber, wie gesagt, nur erst in Sozietäten gesteigerter Zivilisation möglich, wie freilich umgekehrt bei gesteigerter Zivilisation sich auch die Gewalt brutalisieren kann.

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    II. Die Geburt der modernen Freiheit

    1. Von der Selbstjustiz zur Staatsgewalt

    Die pure Gewalt zu überwinden und statt dessen Recht walten zu lassen ist Aufgabe des Staates. Wortgeschichtlich erklärt sich ‚Staat‘ aus dem indogermanischen sta/,stehen‘ oder ‚stellen‘, womit generell auf Stabilität verwiesen ist. Im Mittelalter verband sich das Wort mit dem lateinischen status in der Bedeutung von ‚Stand/Verfassung‘. Der moderne Staat versteht sich „als ein Zusammenschluß von Menschen zum Zwecke des physischen Überlebens, des materiell besseren Lebens und schließlich des sittlich guten Lebens"⁷⁹. Was wir heute als Staat bezeichnen, ist „auf eine fortgeschrittene historische Entwicklungsstufe sozialer Organisation zu beziehen⁸⁰, kann also wieder nicht einfach als ‚natürlich‘ gelten. „Natürliche, unbegrenzte Freiheit bedeutet das freie Walten naturhaft er Kräfte, letztlich die Macht des Stärkeren. Erst im Recht und durch Recht wird Freiheit als beständige, gesicherte Freiheit und als Freiheit für alle möglich⁸¹.

    Ein fortgeschrittener Staat hat in der Antike bestanden und weiter ausgebaut dann wieder in der Neuzeit. Angesichts des historisch gesehen jungen Phänomens wendet sich das Interesse heute zunehmend auch den vorstaatlichen Gesellschaften zu. So ist das mittelalterliche römischdeutsche Reich „nie Staat geworden"⁸²; es war ein ‚Personenverbandsstaat‘, in dem statt rechtlicher Administration ‚Spielregeln der Politik‘ galten, wie der Münsteraner Mediävist Gerd Althoff sagt⁸³. Eine Minister-Berufung muß man sich für damals so vorstellen, daß der Berufene neben dem König an der Tafel zu sitzen kam, und die Abberufung in der Weise, daß der Entlassene dort keinen Platz mehr fand. Die Spielregeln waren keineswegs willkürlich, sondern beruhten auf persönlicher Beziehung wie auf Herkommen und konkretisierten sich in Ritualen. Am wichtigsten aber war, ob und wie dieser Vor-Staat Gewalt regulierte, wie er Recht setzte und Recht sprach. Tatsächlich herrschte zunächst Selbstjustiz, so daß der Einzelne, zumal der Adlige, sich sein (vermeintliches) Recht mit dem Schwert holte. Zum Mittel der bewaffneten Selbsthilfe griff im Mittelalter, so Althoff, wer immer sich zurückgesetzt, ungerecht behandelt oder beleidigt fühlte: „Er schädigte Leute oder auch Land des Gegners so lange, bis der [andere] sich bereit fand, einzulenken und den Streit mittels geeigneter Genugtuungsleistung aus der Welt zu schaff en. Die Gewaltanwendung selbst … war kein Regelbruch, sondern nach allgemeiner Auffassung legitim"⁸⁴. Noch in den hoch- und spätmittelalterlichen

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    Städten, die mit Waffenverbot, Rechtsverordnungen und bewaffneten Stadtsoldaten erste Ansätze zur staatlichen Friedenswahrung schufen, blieb die Gewaltbereitschaft hoch, wie der Göttinger Mediävist Ernst Schubert († 2006) schreibt: „Eine spätmittelalterliche Stadt ist ohne Gewalt, ohne Handgreiflichkeiten beim Austrag zwischenmenschlicher Konflikte nicht vorstellbar; zuweilen waren „ein Drittel aller im 15. Jahrhundert vom Rat bestraften Vergehen Gewaltdelikte, und das „bei allen Ständen"⁸⁵. Heute ist ein Recht auf gewaltbereite Selbstjustiz undenkbar, und doch realiter immer wieder aufflackernd. In Abständen bringen Medien Nachrichten wie: „Mann wegen Streit um geparktes Auto erschossen".

    Um den ‚Krieg aller gegen alle‘ zu beenden, hat der neuzeitliche Staat als erstes jedem Einzelnen die Waffen genommen, alle Gewalt rechtlich lizenziert und obrigkeitlich konzentriert. Erst nach Beseitigung des ‚natürlichen Krieges‘ und bei Befestigung des Rechtes als verbindlicher Norm wächst die Chance für Gerechtigkeit und Gleichbehandlung, dergestalt nämlich, daß die physisch Schwächeren, so gerade auch Frauen und Kinder, nicht einfach vergewaltigt und ausgebeutet werden, die Armen nicht weiter erniedrigt, die Mächtigen nicht länger ihrer Willkür folgen und die religiösen Abweichler nicht mehr vernichtet werden. Da aber der hierfür notwendige Staat erst eine Spätschöpfung ist, lassen sich bereits die Chancen einer Humangeschichte voraussagen: Ohne den Rechtsstaat kann die Lebens- und Freiheitsgeschichte, wenn überhaupt, nur mühsam gedeihen. Es sei denn, diese Humangeschichte hätte sich aus anderen Wurzeln genährt, etwa – wie es unser Thema ist – aus religiösen. Dafür gibt es Beispiele. Während des 10. und 11. Jahrhunderts, das für Frankreich als ‚Jahrhundert des Schwertes‘ gilt, suchten Kirchenleute der Gewalt Einhalt zu bieten, indem sie „die geistlichen Straf- (und Gnaden)mittel zum öffentlichen Wohl mit neuer Schärfe, zum Teil auch auf neue Art handhabten"⁸⁶. Dies konnte insoweit funktionieren, als die disziplinierende Wirkung des für jeden anstehenden Gottesgerichts einwirkte, ebenso kirchliche Bußauflagen drohten, wie vor allem die Exkommunikation. Dem bekannten französischen Mediävisten Jacques LeGoff zufolge erwies sich „die Möglichkeit, einem weltlichen Herrscher Strafen im Jenseits anzudrohen, in den Händen der Kirche [als] ein wirksames Herrschaftsinstrument."⁸⁷ Wie es dabei zugehen konnte, dafür nur das Beispiel eines französischen Adligen, der um 1100 wegen eines Angriffs gegen einen Mönch der Abtei Vendome Buße zu leisten hatte und dafür in den Kapitelsaal des Klosters geführt wurde: Dort gelobte er unter Berührung des Evangeliums Besserung und wurde dann

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    mit von ihm selbst mitgebrachten Ruten gezüchtigt⁸⁸ – ein Beispiel für ‚religiöse Justiz‘ in einer vorstaatlichen Gesellschaft.

    Angesichts des im Mittelalter noch fehlenden Staates lohnt es, nochmals auf den Prozeß der Zivilisation zu schauen, wie ihn Norbert Elias so suggestiv dargestellt hat. Der kriegerischen Männergesellschaft waren Schranken gegen ihre Gewaltentladungen aufzurichten; denn „der Krieger des Mittelalters liebte den Kampf nicht nur, er lebte darin"⁸⁹. Ihm mußten die Waffen genommen werden, die fortan nur noch die rechtmäßige Obrigkeit führen sollte. Streitfälle waren dem Gericht zu unterbreiten, dessen Urteile die Obrigkeit, die nun ob ihres alleinigen Waffenbesitzes allen sonst überlegen war, zur Anerkennung und Ausführung brachte. In dem Maß, wie der Staat Gesetz und Gericht aufbaute, mußte der bis dahin selbstmächtige Adel auf seine eigenhändige Rechtsdurchsetzung verzichten und die ergangenen Gerichtsentscheide anerkennen. Der Gewinn war evident, nämlich Vermeidung von Kampf, Fehde und Krieg; aber der Preis war hoch, nämlich die Rückstufung der Triebe, und diese waren „wild, grausam, zu Ausbrüchen geneigt und hingegeben an die Lust des Augenblicks"⁹⁰. Gegen die Triebentladung mußte jetzt die ‚Überlegung‘ gesetzt werden; der Verstand sollte zur Dominanz kommen, und damit wurde Bildung vorrangig. Typischerweise bildete sich im 12. Jahrhundert die erste Universität für Recht in Bologna, für Theologie dann in Paris.

    Das Ganze hatte übrigens schon Heinrich Heine († 1856) hellseherisch erfaßt, bei deutlicher Betonung auch der Wirkung des Christentums: „Das Christentum – und das ist sein schönstes Verdienst – hat jene brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige Berserkerwut, wovon die nordischen Dichter soviel singen und sagen. Jener Talisman ist morsch, und kommen wird der Tag, wo er kläglich zusammenbricht. Die alten steinernen Götter erheben sich dann aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome. … Wenn ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wisst: der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht… Es wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die französische Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte"⁹¹.

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    2. Endlich: der Rechtsstaat

    Der moderne Staat, wie ihn erstmals die Antike und dann wieder die europäische Neuzeit hervorbrachten, bewirkt den Zusammenschluß von Menschen zu einem Verband mit sowohl vertikalen wie horizontalen Bindungen. Von unserer Fragestellung her gesehen will der Staat jene kulturellen Regeln garantieren, die ein humanes Zusammenleben ermöglichen. Für Streitfälle bietet er Gerichte an, wo Rechtskundige anhand juristisch und ethisch ausgearbeiteter Gesetze die Urteile fällen. Die Staatsangehörigen haben dem Gesetz und dem Gerichtsurteil Folge zu leisten, was bei Verweigerung die Obrigkeit als Inhaberin des Gewaltmonopols zu erzwingen vermag. Dieser Rechtsstaat zählt ohne Zweifel zu den großen humanen Leistungen. Aber er ist nicht ohne Gefahren, die in zweierlei Hinsicht drohen. Die erste Gefahr zeigt sich dort, wo der Staat zu schwach ist, wofür sich noch heute Beispiele bieten, etwa in der größten Demokratie der Welt, in Indien, wo Bürger mancherorts lieber auf Selbstjustiz setzen als auf Gerichte: „Die breite Öffentlichkeit hat kein Vertrauen in die Gerichte. Sie weiß, daß im Bereich der Justiz nur Bestechung und Einfluß weiterhelfen. Gänzlich verloren sind die Armen … Auf frischer Tat ertappte Diebe werden öffentlich gelyncht. Die extreme Form solcher Selbstjustiz … [bedeutet], Verdächtige eher ab[zu]knallen als sie den Gerichten zuzuführen"⁹². Die zweite Gefahr zeigt sich dort, wo der Staat zu stark ist, wie es die Terrorsysteme des 20. Jahrhunderts gezeigt haben. Wer immer die Staatsspitze total vereinnahmt, ob Diktator oder Partei, vermag ob des Gewaltmonopols despotisch zu werden, denn angesichts der Waffenlosigkeit aller sonst ist seine Gewalt unbeschränkt. Diese Mißbrauchsmöglichkeit hatte die aufklärerische Staatsdoktrin von vornherein mitbedacht und dagegen die Gewaltenteilung gestellt, nämlich das Ausbalancieren in Legislative, Judikative und Exekutive.

    Tatsächlich vermag nur ein austarierter Staat sein spezifisches Ziel zu erreichen, nämlich die Gleichheit aller Bürger vor dem Recht, ohne jede Bevorzugung bzw. Benachteiligung nach Stand, Rasse oder Religion. In der europäischen Neuzeit wurden die Geblüts-, Standes- und Religionsvorrechte zwar nicht sofort, aber doch stetig weiter abgebaut. Statt dessen sollte jeder sein Recht bekommen, gemäß seinen Fähigkeiten zu den Staatsämtern aufsteigen können und nur der Beste an die Spitze gelangen. Bis ziemlich genau hierhin war der aufgeklärte Staat im 18. Jahrhundert vorgedrungen, noch mit dem König an der Spitze, aber nun als dem ersten Diener des Staates. Die Amerikanische und Französische Revolution stürzten indes die monarchische Spitze und kehrten

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    revolutionär das Unterste zuoberst. Als ersten Gewalt-Inhaber wollten sie nicht mehr einen von Gottes Gnaden bestellten König, erklärten statt dessen die Bürgerschaft zum Träger aller originären Rechte und Freiheiten, und diese hatte nun demokratisch die Regierenden zu wählen. Die Staatsgewalt sollte dabei die demokratischen Rechte nicht nur anerkennen, sondern zugleich als menschengebotene Freiheitsrechte sichern und schützen. Folglich hatte dieser neue, nun demokratische Staat die Gleichberechtigung aller durchzusetzen, was grundsätzlich bejaht und doch zunächst nur eingeschränkt, etwa wegen des vom Zensus abhängigen Wahlrechtes, verwirklicht wurde. Vor allem aber waren die Demokraten allesamt Nationalisten. Programmatisch heißt es in der französischen Menschenrechtserklärung von 1789: „Der Ursprung aller Souveränität ruht seinem Wesen nach im Volk [nation]"⁹³. In der Nation sollte sich die allgemeine Volksgleichheit realisieren; da diese aber nichts anderes ist als die primärsoziale ‚Volksbeheimatung‘, zeigten sich entsprechende Folgen, nämlich ein aggressiver Nationalismus. Für uns wird endgültig deutlich, welch hochkompliziertes Regelwerk der moderne Staat erfordert, wie aber nur erst dadurch Menschenwürde, Demokratie und Toleranz gesichert werden können.

    Die Herausbildung des neuzeitlichen Staates vollzog sich keineswegs rein säkular, als ob es dabei sofort schon ohne Religion zugegangen wäre. Tatsächlich war dieser neue Staat zunächst ‚konfessionell‘. Das alte Herrscherrecht auf Religionsbestimmung gerann nach der Reformation zu der bekannten Rechtsformel: Cuius regio eius religio – Wer herrscht, bestimmt auch die Religion⁹⁴. In Europa entschieden darüber die Könige, in Deutschland allerdings nicht der Kaiser, sondern die Landesfürsten. In den einzelnen Territorien erhielt die jeweilige Konfession ausschließliche Geltung; sie kam – so der (evangelische) Rechtshistoriker Martin Heckel – „durch den Staat zur Herrschaft ⁹⁵. Umgekehrt erfuhr die Staatsgewalt im Landeskirchenregiment ihre letzte Zuspitzung, mit sogar „überirdischer Weihe, Autorität und Erhabenheit⁹⁶. So setzte sich der moderne Staat zunächst mit religiöser Autorität durch. Dabei stellte sich die jeweilige Konfession voll in seinen Dienst, mit dem Risiko allerdings, als Herrschaftsmittel politisiert zu werden⁹⁷. Für die interne Staatsbildung spielte diese Konfessionalisierung eine sogar entscheidende Rolle, indem sie eine staatsförderliche Sozialdisziplinierung durchsetzte⁹⁸. Erst dadurch entstand das gewissenhaft und strikt für das öffentliche Wohl arbeitende Beamtentum. Dieser neue Typ erfüllte dann jene Bedingungen, die Max Weber zur unabdinglichen Voraussetzung moderner Staatlichkeit erklärt hat, nämlich eine Bürokratie mit fester Kompetenz,

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    behördlicher Institution und rationaler Administration; dazu brauchte es die durch Schulung angeeignete Fachkompetenz, wie aber auch durch Disziplinierung erworbene Unbestechlichkeit, um fachlich und sachlich im Sinne des Allgemeinwohls zu wirken. Erst jetzt konnte die grundsätzliche Gleichbehandlung in Verwaltung und vor Gericht garantiert werden, so „daß die patrimonialfürstliche Justiz des Okzidents nicht in die Bahnen genuin patriarchaler Wohlfahrts- und materialer Gerechtigkeitspflege ausmündete"⁹⁹.

    Es war abzusehen, daß, sobald die Konfessionsbindung weltanschaulich zerbrach, sich auch der Konfessionsstaat verändern mußte: Um der Gleichheit aller Bürger willen mußte die Konfessionsbevorzugung aufgegeben und eine Trennung des Staates von der jeweiligen Kirche herbeigeführt werden. Allerdings wurden die beiden Größen nicht parallel freigesetzt, sondern der Staat führte in weiterer Wahrnehmung souveräner Beaufsichtigungsrechte die Religionskontrolle fort, nun nicht mehr konfessionell, sondern ‚aufgeklärt‘. Dafür mußte jetzt das Staatsbeamtentum eintreten, in Verantwortlichkeit vor Gesetz und Öffentlichkeit.

    3. Trennung von Kirche und Staat

    „Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört (Mk 12,17). Dieses neutestamentliche Wort sollte weltgeschichtliche Folgen haben, nämlich die Trennung von Staat und Kirche herbeiführen. Allgemein wurde Herrschaft als Gottkönigtum gedeutet: Die „Vorstellung von einer besonderen Autorität des Königs ist … in der gesamten nichtchristlichen Antike vorhanden, in Ägypten, Mesopotamien, Iran, Griechenland und Rom: Der König ist erwählt durch die Götter des Staates und kraft dieser Begabung mit königlicher Autorität regiert er als irdischer Stellvertreter der Götter¹⁰⁰. In Israel herrschte dieselbe Idee; der himmlische Jahwe bestellte den irdischen König, und sobald dieser ihm mißfiel, erfolgte die Verwerfung und Berufung eines anderen. Religionsgeschichtlich erscheint der König regelmäßig auch als Priester (rex et sacerdos)¹⁰¹. Das Neue Testament greift diese Vorstellung des Priesterkönigtums auf, verallgemeinert sie jedoch und egalisiert sie: „Ihr seid ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft" (1Petr 2,9).

    Der christliche Westen beschritt einen Sonderweg, den der zwei Gewalten. Papst Gelasius I. († 496) lieferte im Anschluß an den Mailänder Bischof Ambrosius die entscheidende Theorie: Der staatlichen Gewalt ist es nach Gelasius verwehrt, „geistlicher Dienste sich zu bemächtigen,

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    und [sie] erkennt, daß dies ihrem Rechtsbereich nicht zustehe, dem es nur gegeben ist, über rein menschliche Fragen zu befinden, nicht aber göttlichen Dingen vorzustehen … Mag sein, daß vor der Ankunft Christi einige Menschen zugleich Könige und Priester waren; sie waren es nur als Vorbild und in nur fleischlichen Diensten … Darum nannten sich die heidnischen Kaiser auch Pontifex Maximus. Seitdem aber das Zeitalter des wahren Königs und Priesters in einer Person [Christus] angebrochen ist, hat kein Kaiser von sich aus den Titel des Priesters geführt und kein Bischof sich königliche Würde angemaßt – obwohl die Glieder Christi, des wahren Königs und Hohenpriesters, in Kraft ihrer Teilhabe an der göttlichen Natur, nach dem Wort der Schrift beide Würden zu hochheiligem Adel vereinen und in Wahrheit ein ‚königliches und priesterliches Geschlecht‘ sind. Denn Christus hat, eingedenk der menschlichen Schwäche, durch eine großartige Anordnung zum Heil der Seinigen weise abwägend, die Rechtsbereiche beider Gewalten in eigenständige Betätigungsfelder und wohlgetrennte Würden geschieden … So sollten die christlichen Kaiser für das ewige Leben der Bischöfe bedürfen, die Bischöfe dagegen im Bereich der irdischen Dinge nach den kaiserlichen Gesetzen leben."¹⁰²

    Mit dieser Scheidung war allerdings die bis dahin nirgends sonst angefochtene Idee des Priesterkönigtums keineswegs beseitigt, lebte sogar auch im Christentum wieder auf. So nannte sich Konstantin († 337) sofort schon ‚Bischof des Äußeren‘, worin die alte Denkfigur des Priesterkönigs weiterwirkte, wie auch die byzantinischen Kaiser sich direkt als Priester und König (hiereus kai basileus) bezeichneten¹⁰³. Nicht anders verstanden sich die Karolinger und Ottonen: Der jeweilige König lenkte immer auch die Kirchendinge, sowohl die Berufung der Bischöfe wie der Konzilien. In Deutschland bildete sich zur Karolinger- und Ottonenzeit das Reichskirchen-System heraus: der König als Herr der Kirche und die adeligen Bischöfe als Teilhaber an der Reichsregierung wie noch an regionalen Herrschaft srechten¹⁰⁴. Diese Verquickung widersprach direkt der Gelasianischen Gewaltenteilung.

    Die als Investitur-Streit bekannte Auseinandersetzung zwischen Papst Gregor VII. († 1085) und dem deutschen König Heinrich IV. († 1106) versuchte erneut eine Trennung: Der weltliche Herrscher sollte reine Laienperson sein, keine Sakralität mehr beanspruchen und sich auf das Säkulare beschränken, wie umgekehrt die geistliche Gewalt auf das Kirchliche¹⁰⁵. Was eigentlich intendiert war, zeigt am deutlichsten ein Trennungsvorschlag, der 1111 im Vertrag von Sutri ausgehandelt wurde und eine strikte Kompetenztrennung vorsah: „Die Kirchen sollen

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    mit den Zehnten und ihren Opfergaben zufrieden sein; der König aber soll alle Güter und Königsrechte, die seit Karl [dem Großen], Ludwig [dem Frommen], Otto [dem Großen], Heinrich [dem Zweiten] und anderen den Kirchen angetragen worden sind, für sich und seine Nachfolger zurücknehmen und behalten"¹⁰⁶. Die Bischöfe sollten ihre Königsrechte zurückgeben und allein von Spenden und Opfergaben, nicht aber von Einkünften ihrer weltlichen Herrschaftsrechte leben. Diese Vorstellung fand durchaus Unterstützung, nicht nur bei Häretikern, sondern auch bei kirchentreuen Reformern. Dabei wurde oft auch die Konstantinische Wende angeführt: Seit Konstantin sei die Kirche ob ihres Besitzes und der dadurch bewirkten Politik verderbt. Hören wir nur den eigentlich konservativen Gerhoh von Reichersberg († 1169): Laut beklagte er die Vermischung von Geistlichem und Weltlichem; die im Besitz von Bischöfen befindlichen Grafen-, Zoll- und Münzrechte hielt er für unrechtens, wollte nur Zehnten und Opfergaben zulassen, darunter allerdings auch die ‚privat‘ vom König gemachten Schenkungen. Doch forderte er die Bischöfe nicht direkt zur Rückgabe ihrer Herrschaftsrechte auf¹⁰⁷. Daß das Wormser Konkordat, das den Investitur-Streit 1122 beendete, einen nur faulen Kompromiß bot, zeigt sich daran, daß die Bischöfe weiterhin Reichsfürsten blieben, also Stab und zugleich Schwert führen konnten. Eine Trennung hätte jenes Geistliche Reichsfürstentum, wie es seit den Karolingern und besonders den Ottonen praktiziert wurde, abrupt beendet.

    Konsequenterweise hätte auch der Papst auf seinen ‚Kirchenstaat‘ verzichten müssen. Nur, wie hätte das Papsttum in einer staatenlosen Welt seine Unabhängigkeit zu behaupten vermocht! Gleichwohl blieb Kritik. So erhob Pierre Dubois († nach 1321), ein französischer Kronjurist, die Forderung nach einer juristisch präzisen Trennung, daß der Papst, weil immer wieder in militärische und politische Händel hineingezogen, seine weltliche Herrschaft an Fürsten abtreten und sich dafür eine Pension auszahlen lassen sollte¹⁰⁸. Der große Humanist Erasmus von Rotterdam († 1536) konnte nur höhnen: „Wie [paßt] der Hirtenstab zum Schwert? Wie das Evangelium zum Schild?¹⁰⁹ Die ›Confessio Augustana‹ brandmarkte, daß „in unangemessener Weise die Vollmacht der Bischöfe mit der weltlichen Machtausübung (urspr.: Schwert) vermengt sei¹¹⁰. Trotz aller Proteste steigerte sich die obrigkeitliche Kirchenherrschaft noch, bis dann die geistlichen Fürstentümer 1803 revolutionär beseitigt wurden. Der Kirchenstaat verschwand erst 1870.

    Für die Fragestellung nach Gewalt und Toleranz hat die Trennung von Religion und Staat eine kaum zu überschätzende Bedeutung: Erst dadurch

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    verliert der Staat seine Sakralität, so daß Religionsvergehen nicht länger obrigkeitlich verfolgt werden müssen, wie umgekehrt Staatsvergehen nicht sofort auch die Religion berühren. Vielmehr verhält sich der Staat religionsneutral und schützt die jeweilige Religion im Rahmen der allgemeinen Menschen- und Toleranz-Rechte. Der Staat gibt die Gesinnung frei: „Der Zugriff auf die Gesinnung ist Zeichen nicht seiner Stärke, sondern seiner Schwäche"¹¹¹. Angesichts des Islam gewinnt heute die Trennung von Religion und Staat wie aber auch die rechtliche Einhegung rechtlos gewordener Religion höchste Aktualität.

    4. Freiheit zur Selbstwerdung

    Von ‚langer Dauer‘ war nicht nur die Herausbildung des Staates, sondern ebenso die damit verbundene Entwicklung der individuellen Selbstwerdung. Wie sich diese herausbildete und aus welchen Bedingungen sie hervorging, verdeutlicht der Münchener Neuzeit-Historiker Thomas Nipperdey († 1992) an eben jenem seit dem 18. Jahrhundert zu beobachtenden Freiheitsschub, den wir heute als den unsrigen begreifen: „Die Ordnungen des Lebens lösen sich seit dem späteren 18. Jahrhundert zunehmend auf. Der Mensch hat sein Leben nicht mehr traditionsgeleitet in seinem Geburtsstand, sondern er wird ‚innengeleitet‘, gewinnt ‚persönlichen Stand‘, aus Leistung und Bildung. Der Einzelne erhebt gegen die Welt der vorgegebenen Bindungen Anspruch auf einen freien Raum der Betätigung wie der Selbstvergewisserung, der Zwecksetzung, der Reflexion. Der Mensch stellt sich auf sich selbst. Er tritt aus den konkreten – und auch begrenzten – sozialen Gebilden seiner Herkunftswelt heraus, an denen er sich orientiert hatte … Dieser Prozeß hatte mehrfältige Ursachen und Antriebe, religiöse und geistesgeschichtliche: den Pietismus, die ersten Säkularisierungstendenzen, die Aufklärung; sozialgeschichtliche und politische: die Zunahme der neuen, von den ursprünglichen ‚Ständen‘ verschiedenen, ‚eximierten‘ Schicht der Bürgerlichen, und ihre Förderung durch den sich bürokratisierenden Staat; schließlich (und zumeist erst später) ökonomische … All das stellt, seit Beginn unseres Zeitraums, einen deutlichen Schub zur Dekorporierung der Gesellschaft, damit zur Individualisierung dar"¹¹². Halten wir fest: Erst im 18. Jahrhundert setzt sich jenes individuelle Personbewußtsein voll durch, wie es uns heute eigen ist, das damals sofort auch größere Freiheitsmöglichkeiten beanspruchte und sich einen entsprechenden Spielraum erkämpft e. Unsere Vorstellungen von Freiheit und Toleranz sind also recht jung. Ältere

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    Lebensformen einfachhin als zwanghaft und intolerant zu bezeichnen, verkennt die Geschichtlichkeit der Freiheit.

    Für das seit dem 18. Jahrhundert neuartige Verlangen nach Selbstverwirklichung hat der in Potsdam und am Erfurter Max-Weber-Kolleg lehrende Christoph Menke jüngst eingängige Stichworte formuliert: vorneweg die Freiheit zur Verwirklichung und Erfüllung des eigenen Lebens; dafür Autonomie mit selbstgegebenen und nicht von anderen aufoktroyierten Regeln; Selbstunterwerfung zwar unter sich selbst, nicht aber unter andere. So lauteten die Postulate seit ziemlich genau 1800, was sich dann in den vielberedeten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur ‚Authentizität‘ steigerte, zur Vorstellung eines selbstständig zu entfaltenden inneren Kerns, zur ‚Selbstverwirklichung durch das Selbst und am Selbst‘. Die Frage, wie sich diese Eigenbelange dann mit den Fremdbelangen austarieren, ob hier nicht ‚kalifornischer Selbstkult‘ betrieben werde, sei durch die Einsicht zu lösen, „daß wir gar nichts wären und hätten ohne die Hilfe anderer"¹¹³. So erhält die Selbstverwirklichung eine synchrone und zugleich diachrone Dimension, nämlich Subjektwerdung sowohl aus Selbstwerdung wie aus Tradition. Die für die Selbstverwirklichung formativen Neuzeit-Phasen seien, wie es Charles Taylor in seinem vielgelobten Werk ›Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität‹ darstellt, eben auch mit dem Mittelalter und der Antike zu verbinden.

    Die neue Freiheit zur Selbstverwirklichung verlangte Gestaltungsraum: Je kräftiger der eigene Innenkern sich entfalten sollte, desto empfindlicher verletzten Eingriffe von außen. Die neuen Freiheiten wurden infolgedessen als Freiheitsrechte deklariert, daß nämlich zum einen jeder einen Anspruch darauf habe und zum anderen jeder in der Wahrnehmung dieser Rechte zu schützen sei. Aus dieser neuen Freiheit heraus sind die modernen Menschenrechte formuliert worden. Aber keineswegs waren sie sofort schon voll da; vielmehr ist von einer mehrfachen Historisierung zu sprechen, von „drei Menschenrechtsgenerationen"¹¹⁴: die erste im 18. Jahrhundert mit den bürgerlichen und politischen Grundrechten, die zweite im 19. Jahrhundert mit den sozialen und wirtschaftlichen Grundrechten, die dritte nach dem Zusammenbruch der Terrorsysteme mit den Menschenrechten; anzufügen ist noch eine vierte am Ende des 20. Jahrhunderts mit den globalen und ökologischen Grundrechten. Die Zukunft wird weitere Herausforderungen bringen, für die neue menschenrechtliche Lösungen gefunden werden müssen. Bemerkenswerterweise hatte schon Immanuel Kant († 1804) davon gesprochen, daß bei aller Boshaftigkeit der menschlichen Natur doch „eine noch größere, obzwar zur Zeit schlummernde, moralische Anlage im Menschen

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    anzutreffen sei"¹¹⁵. Die Regungen und Weckungen dieser schlummernden Anlage sind weiterhin zu entdecken und herauszuarbeiten. Stärker denn je wird challenge and response zur Aufgabe.

    Für den aufklärerischen Freiheitsprozeß als ganzen bleibt festzuhalten: Wenn wirklich erst Spätphasen das neuzeitliche Freiheitsverständnis ermöglichen, liegt das zum einen an den sozialgeschichtlichen Vorbedingungen. Einzelne oder auch Gruppen mußten sich aus dem religiöspolitischen Gemeinschaftsverband lösen, ja sich zu diesem in Gegensatz stellen, was historisch gesehen erstmals in der Antike geschah und sich in der Neuzeit verstärkte. Zum anderen hat das Aufkommen wie gerade auch das Pochen auf Selbstverwirklichung geistig-aufklärerische Gründe. Es mußte eine Trennung der Philosophie von Mythologie und Mythographie erfolgen, also Aufklärung und Religionskritik aufkommen. Zumal wissenschaftlich lief hier ein komplizierter Prozeß ab. Um das Christentum in seinem Alleinanspruch zu enttabuisieren und in die allgemeine Religionsgeschichte einordnen zu können, bedurfte es ethnologischer Erkundungsberichte, gedruckter Bücher und Bibliotheken, obendrein wissenschaftlicher Betätigungsmöglichkeiten und des gelehrten Austausches, bei Nutzung noch des technischen Buchdrucks und eines funktionierenden Briefverkehrs.

    Wie wenig an einen rein organischen Wachstumsprozeß zu denken ist, zeigen gerade die Anlässe von jeweils schrecklicher Art: im 17. Jahrhundert die Religionskriege, im 20. Jahrhundert die Terrorsysteme, in der Gegenwart sowohl Völkermord wie Terrorismus, obendrein die ökologische Bedrohung. Dementsprechend erfolgten und erfolgen fortlaufende Ausweitungen an der Definition der Menschenrechte: anfangs nur Zensus-Wahlrecht und noch fehlendes Frauen-Stimmrecht; dann zwar Eigentumsgarantie, aber ohne Sozialverpflichtung; derzeit Ausweitung ins Globale mit universalen Menschenrechten. Daß zuweilen erst Katastrophen den Fortschritt erzwangen, muß gesunde Optimisten beschämen, ja tief verstören, wenn etwa der aus Jamaika stammende Harvard-Soziologe Orlando Patterson über Freiheit und Sklaverei schreibt: „Es mußte Sklaverei geben, bevor überhaupt die Idee der Freiheit als eines Wertes entstehen konnte"¹¹⁶. Oder wie der Berliner Bischof Wolfgang Huber im Blick auf Auschwitz bekennt: „Erst nach den Schrecken der Schoa, des durch den nationalsozialistischen Staat verordneten und von vielen Menschen mitgetragenen Mordes am europäischen Judentum, hat an dieser Stelle ein Umdenken begonnen"¹¹⁷. So ist nochmals zu betonen: Die Freiheitsrechte haben ihre höchst komplexe Findungs- und Realisierungsgeschichte.

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    III. Die staatsbürgerlichen Pflichten

    Kulturelle Regeln beruhen auf eingeübten ethischen Fertigkeiten, auf Tugenden. So oft diese schon für vermottet und verrottet erklärt worden sind, so unentwegt finden sie neue Fürsprecher. Wir sollten, sagt der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin, „unter Tugenden Einstellungen und Verhaltensmuster verstehen, die unser Handeln begleiten und formen. Tugenden können nicht unmittelbar gelehrt werden, sie lassen sich erwerben durch Praxis und Vorbild"¹¹⁸. Die konkrete ‚Einübung‘ war zentrales Thema schon der antiken Philosophie, die als erstes, wie der französische Patristiker Pierre Hadot schreibt, die Herausbildung ethischer Lebensformen erstrebte: Um zu höherer Lebensart zu gelangen, war zu ‚üben‘, oder in Fachsprache: Askese zu tun. Ziel war „eine tiefgreifende Umwandlung der Denk- und Seinsweise des Individuums¹¹⁹. Man kann dasselbe auch mit Max Weber ausdrücken, demzufolge die „Einübung des Guten einen der großen religions- und menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsschübe hervorbringt, nämlich den „persönlichen Gesamthabitus, wodurch „eine einheitlich methodisch orientierte Lebensführung entstehe, die „naturgemäß nur durch rationale methodische Richtung der Gesamtlebensführung, nicht durch einzelne zusammenhangslose Handlungen erfolgen" könne. Das Ergebnis ist: „Auf die religiöse Arbeit an der eigenen

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