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Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend: Bindung, Empathie, Theory of Mind
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eBook1.204 Seiten10 Stunden

Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend: Bindung, Empathie, Theory of Mind

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Über dieses E-Book

Gegenwärtig wird Entwicklung überwiegend unter kognitiver Perspektive gesehen. Dabei besteht die Tendenz, sozial kompetentes Verhalten von Kleinkindern aus einer einfachen Vorform der gleichen rationalen Mechanismen zu erklären, die später auch für die entsprechenden Leistungen bei Erwachsenen verantwortlich sind. Motivationale und emotionale Verarbeitungsprozesse führen in solchen Ansätzen eher ein Schattendasein, obwohl gerade sie unter evolutionärer Perspektive als Bestandteile der sozialen Kognition und ihrer Auswirkungen auf das Handeln unverzichtbar sind. Ziel dieses Lehrbuches ist es, diese Komponenten stärker als üblich in die Betrachtung einzubeziehen, und zwar nicht isoliert, sondern unter Herausarbeitung des integrativen und systemischen Zusammenspiels aller beteiligten Faktoren. Damit vermittelt es eine ungewohnte, aber zum Weiterdenken anregende Sicht auf Entwicklungsphänomene.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Jan. 2011
ISBN9783170281905
Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend: Bindung, Empathie, Theory of Mind

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    Buchvorschau

    Soziale Entwicklung in Kindheit und Jugend - Doris Bischof-Köhler

    Vorwort

    Die Themen, die in diesem Buch behandelt werden, sind wesentlich mitbestimmt durch meine Forschungsschwerpunkte in den vergangenen 30 Jahren. Ein maßgeblicher Gesichtspunkt war die Frage, wie sich motivationale Entwicklungsschritte auf die Kognition auswirken und umgekehrt, welche Rückwirkungen kognitive Veränderungen auf das emotionale Erleben und das soziale Verhalten haben. Phylogenetische Überlegungen und tiervergleichende Betrachtungen bildeten dabei den Bezugsrahmen.

    Als ich Mitte der 1980er Jahre am Zürcher Psychologischen Institut begann, den Zusammenhang zwischen Empathie und Selbsterkennen bei Kleinkindern zu untersuchen, betrat ich weitgehend Neuland, denn abgesehen von einer Beobachtungsstudie von Zahn-Waxler gab es keine methodisch befriedigenden Experimente zur Empathie bei Kleinkindern. Es galt also zunächst einmal, ein möglichst naturalistisches und gleichwohl kontrolliertes Versuchsdesign zu entwickeln. Die Themenstellung erwies sich als Fundgrube, der Zusammenhang zwischen Empathie und Selbsterkennen und ergänzend auch zur Bindungsqualität ließ sich in mehreren Studien eindeutig belegen.

    Im gleichen Zeitraum entwickelte sich die Theory of Mind zum Gegenstand eines blühenden Forschungszweiges. Sie wurde zu einem weiteren Schwerpunkt unserer Arbeit. Üblicherweise hat die Forschung zu diesem Thema eine primär sozial-kognitive Stoßrichtung. Aufgrund evolutionstheoretischer Überlegungen interessierten uns jedoch eher die Auswirkungen der neu entstehenden Fähigkeiten auf Motivstruktur und -organisation. Konkret ging es um die spezifisch menschliche Strategie, zukünftige und vergangene Motive in der Gegenwart handlungsrelevant werden zu lassen, also gleichsam auf mentale Zeitreise zu gehen. In diesem Kontext rückte die Entstehung eines expliziten Zeitverständnisses in den Fokus der Betrachtung. Dessen frühestes Auftreten, das bislang auch bei Fünfjährigen vermutet wurde, stellte eine weitere methodische Herausforderung dar. Das Gleiche galt für die Untersuchung der Frage, ob und wie sich die Koinzidenz von Zeitverständnis und Theory of Mind auf Planungsverhalten und Motivmanagement bei Vorschulkindern auswirkt. Eine mehrjährige Förderung durch den Schweizerischen Nationalfonds erlaubte es, in einer ausgiebigen Pilotphase kindgemäße Versuchsdesigns hierzu zu entwickeln und die vermuteten Änderungen zu belegen. Dankbar erinnere ich mich an meine Mitarbeiter beim Nationalfonds-Projekt, aber auch an die vielen Studierenden, die als Praktikanten an Versuchsdurchführungen beteiligt waren beziehungsweise in Form von Lizentiatsarbeiten wichtige Beiträge leisteten. Auf diese Weise wurden im gleichen Zeitraum aufschlussreiche Befunde zum Bindungs- und Explorationsverhalten sowie zur Autonomieentwicklung von Kleinkindern und Jugendlichen erhoben. Dabei ergaben sich auch Hinweise auf geschlechtstypische Verhaltensunterschiede; sie werden an anderem Ort ausführlich behandelt.

    Gegenwärtig besteht die Tendenz, das Konzept »Theory of Mind« eher inflationär zu gebrauchen. Als Folge hat sich zu diesem Stichwort eine Fülle empirischer Ergebnisse und zum Teil recht vage formulierter Theorien angesammelt in Anbetracht derer es unumgänglich ist, eine kritische Evaluation vorzunehmen und theoretisch klar Stellung zu beziehen. Insbesondere geht es darum, verschieden komplexe Mechanismen voneinander abzugrenzen und die Rolle von Emotionen beim Erkennen und der Verhaltenssteuerung zu klären.

    Unbefriedigend ist vor allem die Vermengung von Empathie und Theory of Mind. Während man den Schimpansen und einigen weiteren Tierarten sozial-kognitive Fähigkeiten auf der Basis von Empathie sicherlich zugestehen kann, ist dies bei der Theory of Mind eher fraglich. In den diesbezüglichen Diskussionen waren vor allem David Premack, Hans Kummer und Josef Perner anregende Gesprächspartner.

    Im Unterschied zur Theory of Mind sind Zeitverständnis, Exploration, Autonomieentwicklung sowie das Motivmanagement bei Kleinkindern Themen, zu denen es kaum neuere Forschung gibt, so dass man in diesen Bereichen weitgehend auf ältere Studien zurückgreifen muss. Dabei sind Untersuchungen mit ethologischer Orientierung z. B. zum Rangverhalten sowohl inhaltlich als auch wegen ihres naturalistischen Vorgehens von besonderem Interesse. Es wäre bedauerlich, wenn sie in Vergessenheit gerieten, nur weil sie »aus dem letzten Jahrhundert stammen«, zumal diese Art Forschung unter dem modernen Zwang, ständig zu publizieren, zeitlich kaum mehr realisierbar ist. Hingegen wird man in diesem Buch vergeblich nach Befunden aus bildgebenden Verfahren Ausschau halten. Zwar entspricht es gegenwärtig dem Trend, sich in der Psychologie auf sie zu beziehen, indessen konnte ich bei dem derzeit doch eher noch diffus erscheinenden Kenntnisstand nichts entdecken, das mir in Bezug auf die behandelten Themen erwähnenswert erschien.

    Nach der Zürcher Emeritierung von Norbert Bischof konnten wir unsere Forschung an der Universität München dank finanzieller Förderung durch die Köhler-Stiftung (Dr. Lotte Köhler) und die Heidehofstiftung (Dr. Eva Madelung) weiterführen. Dabei erhielt ich auch dankenswerterweise institutionelle Unterstützung durch das Department Psychologie. Besonders erwähnen möchte ich den fruchtbaren wissenschaftlichen Austausch mit Beate Sodian, an deren Lehrprogramm ich mich regelmäßig beteilige. Der Akzent unserer Münchner Forschung lag nun auf affektiven Umbrüchen in der Eltern-Kind-Beziehung im fünften Lebensjahr, die Freud im Sinne seiner »ödipalen« Theorie gedeutet hat, die sich jedoch zwangloser als Auswirkung der in diesem Altersabschnitt einsetzenden kognitiven Veränderungen identifizieren lassen. Die am Projekt Beteiligten – Gregor Kappler, Jörg Stuckenkemper, Nadja Seel, Annette Mangstl, Norbert Zmyj und Eva-Maria Groh – leisteten mit ihren Diplom- und Doktorarbeiten wertvolle Beiträge zu dem Thema.

    Viele Helfer haben bei der Fertigstellung dieses Buches mitgewirkt. Norbert Bischof übernahm in bewährter Weise die Herstellung der Abbildungen. Norbert Zmyj hat mehrere Abschnitte gegengelesen und war bei der Literaturrecherche behilflich. Meine Tochter und Kollegin Annette Bischof-Campbell hat nicht nur die Register erstellt sondern das gesamte Manuskript sorgfältig redigiert und in unbestechlicher Haltung mit kritischen Fragen und Anmerkungen dazu beigetragen, Unklarheiten zu bereinigen. Schließlich hat das Buch auch davon profitiert, dass es vor der Veröffentlichung anhand von Seminarreferaten einzelner Kapitel mit Studierenden gründlich diskutiert werden konnte. Ein spezieller Dank gebührt unseren Kindern und Enkelkindern, dass sie auf vielfältige Weise zum Nachdenken anregten und im konkreten wie im übertragenen Sinn wesentlich zur Veranschaulichung meiner Ausführungen beitrugen. Schließlich möchte ich Frau Ulrike Merkel und Herrn Dr. Ruprecht Poensgen vom Kohlhammer Verlag für fruchtbare Zusammenarbeit danken.

    1 Phylogenese und Ontogenese

    1.1 Phylogenese

    1.1.1 Vorerörterungen

    Noch ein Buch über soziale Entwicklung? – Da fragt man sich, ob das nötig ist. Deshalb zu Beginn einige Anmerkungen, welche Gründe mich veranlasst haben, dieses Buch zu verfassen. Im Laufe meiner Lehrtätigkeit habe ich in viele Lehrbücher der Entwicklungspsychologie Einsicht genommen und davon durchaus profitiert. Zurück blieb aber immer auch ein Rest von Unbehagen: Die zeitgenössischen Darstellungen und Theorieansätze ließen Fragen offen, weil sie Aspekte nicht berücksichtigten, die mir zentral erschienen. Zum einen betrifft das Unbehagen den theoretischen Bezugsrahmen, innerhalb dessen Entwicklungsphänomene erklärt werden. Zum anderen irritiert die durchgängige Tendenz, motivationale, emotionale und kognitive Entwicklung getrennt abzuhandeln, ohne dass nennenswerte Versuche erkennbar sind, diese aufeinander zu beziehen und zu integrieren.

    Wenn man die entwicklungspsychologischen Ansätze Revue passieren lässt, stellt sich die grundsätzliche Frage, auf welchem Komplexitätsniveau bestimmte Leistungen von Kindern erklärt werden. Mit den kognitiven Fähigkeiten des Erwachsenen als Richtmaß, wie das im Umfeld von Jean Piaget tendenziell der Fall war, erschien kindliches Denken als defizitär. Wie sich indessen zunehmend herausstellte, waren die Befunde, die dies belegten, zum Teil durch Untersuchungsmethoden bedingt, die den kindlichen Fähigkeiten nicht gerecht wurden. Hinzu kam, dass Piaget davon ausging, strukturelle Veränderungen fundamentaler Denkoperationen und Erkenntniskategorien müssten sich synchron über viele Bereiche hinweg auswirken. Von Defiziten in einem Bereich leitete er deshalb verallgemeinernd ab, dass die kindliche Kompetenz generell eingeschränkt sei. Mit kindgemäßeren Untersuchungsmethoden wurde inzwischen nachgewiesen, dass Kinder viel früher als von Piaget angenommen bestimmte Leistungen erbringen können. Das hatte nun allerdings zur Folge, dass man heute geneigt ist, ins gegenteilige Extrem zu verfallen und die kindliche Kapazität zu überschätzen. Da jüngere Kinder ihr Verständnis in einem bestimmten Bereich häufig nicht artikulieren, wohl aber im Handeln bekunden können, spricht man von einem impliziten bzw. intuitiven Verständnis. Damit erhebt sich allerdings grundsätzlich die Frage, ob ein Verständnis, das sich im Handeln zeigt, dem entspricht, das sprachlich artikuliert werden kann. Leistungen, die von außen betrachtet äquivalent erscheinen, können auf unterschiedlich komplexen Mechanismen beruhen, und das wird leicht übersehen, wenn man nur vom Effekt her urteilt.

    So reicht etwa die Feststellung, dass Babys sozial kompetent interagieren, allein noch nicht aus, um zu belegen, dass sie bereits Einsicht in die subjektive Verfassung einer anderen Person haben, wie in vielen Veröffentlichungen selbstverständlich gefolgert wird. Sozial adäquat interagieren auch Tiere, denen man nicht die anspruchsvollen Erkenntnismittel des menschlichen Verstandes unterstellen kann. Es muss also für die Erklärung gewisser Verhaltensweisen auch andere Lösungen geben. Und von diesen wäre zu prüfen, ob sie nicht ausreichen, um die in Frage stehenden Leistungen bei Kleinkindern auf möglichst sparsame Weise zu erklären. Um hier zu angemessenen Ergebnissen zu kommen, bietet die Betrachtung von Tieren eine fruchtbare Vergleichsbasis und gewährt zugleich eine Anschauungsgrundlage, wie die beim heutigen Menschen beobachtbaren Erkenntnisformen und Verhaltensstrategien während unserer Phylogenese entstanden sein könnten.

    Die Herleitung aus der Phylogenese ist von der Überzeugung getragen, dass menschliches Verhalten nur angemessen verstehbar ist, wenn man den Aspekt der Adaptivität in der Analyse berücksichtigt. Der Mensch ist nicht vom Himmel gefallen. Lange bevor eine rationale Handlungsplanung möglich war, haben unsere Vorfahren über Mechanismen der Verhaltenssteuerung verfügt, die eine optimale Anpassung an Umweltbedingungen ermöglichten. Diese Mechanismen waren gleichsam das Ausgangsmaterial, an dem die Evolution menschlicher Erkenntnis- und Handlungsformen ansetzte. Diese haben nun aber die Vorläufer nicht abgelöst, sondern sie integriert und überformt. Verhaltensleistungen, die den modernen Menschen auszeichnen, haben also nicht nur eine ontogenetische Entwicklung, sondern auch eine phylogenetische Vorgeschichte, in der sich die Grundlagen bestimmter Fähigkeiten über Jahrmillionen herausgebildet und adaptiv bewährt haben. Nur unter Einbezug dieser Entstehungsgeschichte lässt sich das Komplexitätsniveau der Mechanismen angemessen einordnen, die zur Erklärung bestimmter Leistungen in Betracht kommen.

    Aus dem evolutionären Bezugsrahmen ergibt sich ein weiteres Desiderat für die Abfassung dieses Buches. Die Entwicklungspsychologie konzentriert sich gegenwärtig vorzugsweise auf den kognitiven Bereich, während emotionale und motivationale Aspekte eher zu kurz kommen. Von besonderem Interesse ist indessen gerade die Frage, welche Funktion Emotionen als evolutionär ursprünglichere Anpassungen für die Erkenntnis und für die Verhaltenssteuerung haben, und umgekehrt, wie sich kognitive Entwicklungsschritte auf das emotionale und motivationale Geschehen auswirken. Um nun den Stellenwert der einzelnen Komponenten bei diesem Zusammenspiel adäquat zu bestimmen, ist es unerlässlich, zwei Perspektiven einzubeziehen, die ebenfalls kaum berücksichtigt werden. Bei der ersten handelt es sich um eine phänomenologische Betrachtung der zu analysierenden Bewusstseinsvorgänge. Sie ist die Basis für eine genaue Abgrenzung verwandter und deshalb leicht verwechselbarer Phänomene, deren Eigenqualität nicht selten durch die Einzwängung unter – nur scheinbar exakte – Fachtermini verwischt wird. Als zweites ist es dringend erforderlich, den phänomenologischen Aspekt durch eine erkenntnistheoretische Perspektive zu ergänzen. In diesem Rahmen ist insbesondere die Klärung der Konzepte Kognition, Repräsentation, Mentalismus und Intentionalität angesagt, deren Anwendung, vor allem in Anlehnung an den englischsprachigen Gebrauch, nicht selten die Ursache für widersprüchliche oder zumindest vieldeutige Aussagen sein kann.

    Die Orientierung an der Adaptivität bestimmt die Schwerpunkte der in diesem Buch behandelten Themen. Da menschliches Verhalten konsequent aus phylogenetischen Vorformen hergeleitet werden soll, erklärt sich, dass emotionale und motivationale Kompetenzen von besonderem Interesse sind. Kognitiv-rationale Fähigkeiten werden dagegen eher selektiv vornehmlich unter dem Aspekt ihrer Funktion für Motivation und soziale Interaktion abgehandelt, wobei die Mechanismen der sozialen Erkenntnis besondere Beachtung finden. Aus Gründen der Strukturierung lässt es sich nicht vermeiden, zunächst einmal Grundtatsachen der kognitiven und der emotional-motivationalen Entwicklung jeweils gesondert darzustellen – auch muss dies nach Altersabschnitten erfolgen. Indes sollen diese Einzelbereiche, wo immer es sich ergibt, aufeinander bezogen und ihre Zusammenhänge kenntlich gemacht werden.

    Bei der skizzierten Akzentsetzung würde es zu weit führen, flächendeckend alle zur sozialen Entwicklung zählenden Themenbereiche abzuhandeln. So wird in Bezug auf Veränderungen im Erwachsenenalter oder Einzelheiten der Lern- und Gedächtnisentwicklung auf die einschlägigen Lehrbücher verwiesen. Da dieses Buch ferner in erster Linie auf Grundlagen fokussiert, sind anwendungsorientierte Erörterungen nur an ausgewählten Stellen vorgesehen.

    Das Buch gliedert sich in zwei Teile:

    1. Im ersten Teil (Kap. 1–9) steht die motivationale und emotionale Entwicklung im Vordergrund. Die Darstellung wird ihren Schwerpunkt auf das Bindungsverhalten legen, das indessen nur in seiner Verschränkung mit der Entwicklung von Exploration und Autonomie angemessen erklärbar ist. Die Analyse wird durch die Darstellung kognitiver Entwicklungsschritte fundiert, die für das motivationale Geschehen und die soziale Interaktion von Relevanz sind.

    2. Der zweite Teil (Kap. 10–18) fokussiert auf die Betrachtung sozialkognitiver Fähigkeiten und ihrer Auswirkungen auf die soziale Interaktion. Dabei stehen Empathie und Theory of Mind im Mittelpunkt der Betrachtung sowie weitere Leistungen, die auf die subjektive Verfassung anderer Bezug nehmen. Da das Erkennen fremden Seelenlebens nur in enger Verflechtung mit dem Selbstverständnis fortschreitet, ist die Entwicklung des Selbstbildes ebenfalls Gegenstand des Buches. In diesem Bezugsrahmen werden spezifisch menschliche Fähigkeiten in den Fokus der Betrachtung rücken, die sich in grundlegenden Veränderungen in der Handlungsorganisation auswirken.

    1.1.2 Probleme in der Kleinkindforschung

    In der zeitgenössischen psychologischen Theoriebildung ist es üblich, eine Reihe von Komponenten zu unterscheiden, die beim Handeln eine Rolle spielen¹. Nachfolgend sind die wichtigsten aufgelistet:

    Eine Situation mit bestimmten Charakteristika, die eine Handlung auslösen können.

    Eine bewertende Beurteilung dieser Situation. Was bedeutet sie für den Betreffenden?

    Eine Vorstellung davon, was man eigentlich verändern möchte.

    Die Planung, wie sich eine Veränderung am besten herbeiführen ließe. Dabei müssen nicht nur die Schwierigkeiten des zu lösenden Problems eingeschätzt werden, sondern auch die eigenen Fähigkeiten in Bezug zu diesen Schwierigkeiten.

    Eine Entscheidung für ein endgültiges Ziel und für die Mittel, die tatsächlich zum Einsatz kommen sollen. Die Fassung eines Vorsatzes.

    Bestimmte Erwartungen und Befürchtungen hinsichtlich des Erfolgs.

    Evaluation des Handlungsausgangs; Attribution von Erfolg bzw. Misserfolg.

    Der gerade charakterisierte Prozess ist zweifelsohne an Bewertungsvorgänge und Vorwegnahmen gebunden, die ohne ein bestimmtes Maß von Einsicht kaum zu leisten sind. Es bedarf der Fähigkeit, die Relevanz von Situationen zu erkennen und einzuschätzen, sich die eigenen Kompetenzen und Schwächen vorzustellen, Problemlösungen in der Phantasie durchzuspielen und ein in der Zukunft liegendes Ziel zu antizipieren. Die kognitiven Mechanismen, die dies gewährleisten, wollen wir als rationale Mechanismen kennzeichnen, und die darauf beruhende Motivierung als rationale Handlungsplanung.

    Wenden wir uns dem Verhalten von Kleinkindern zu, so wirkt dies keineswegs ungesteuert oder ziellos. Allerdings kann man auf diesem Entwicklungsniveau schwerlich die rationalen Voraussetzungen unterstellen, die für eine anspruchsvolle Handlungsplanung der gerade geschilderten Art erforderlich wären, wie an folgendem Beispiel verdeutlicht sei:

    Abb. 1.1: Fremdenfurcht

    Ein Eineinhalbjähriges hält sich mit einer Bezugsperson in einem ihm vorher noch nicht vertrauten Spielzimmer eines Instituts auf. Das Kind interessiert sich eingehend für die vorgefundenen Spielsachen, es exploriert und manipuliert sie mit Ausdauer. Zwischendurch nimmt es Kontakt mit der Bezugsperson auf, lächelt sie an, bringt ihr etwas. Plötzlich kommt eine fremde Person in den Raum. Das Verhalten des Kindes ändert sich daraufhin drastisch. Es hört auf zu spielen, strebt vom Fremden weg auf die Bezugsperson zu, verbirgt sich zunächst bei dieser und schmiegt sich an sie, um dann ganz allmählich und zögernd mit der Fremdperson Kontakt aufzunehmen.

    Wenn man Studierenden der Psychologie im dritten Semester Videomaterial dieses Verhaltens vorführt und sie bittet, sich über die psychischen Vorgänge zu äußern, die möglicherweise in dem gezeigten Kind vorgehen, bekommt man voraussagbar Angaben, in denen sich sinngemäß die oben angeführten Komponenten der einsichtsvollen Handlungsplanung widerspiegeln. Unter dieser Perspektive stellt sich die subjektive Verfassung des Kindes dann etwa folgendermaßen dar:

    »Hier kommt eine Person, die ich nicht kenne. Ich weiß nicht, was die gleich machen wird, und was die von mir will. Ich bin unsicher, wie ich mich ihr gegenüber verhalten soll. Meine Mutter ist genauso groß wie die fremde Person, ich habe sie schon öfter mit solchen Personen umgehen sehen. Da gehe ich mal lieber zur Mutter, da kann mir nichts passieren. Sie wird schon wissen, was als nächstes zu machen ist«.

    Nun werden Aussagen dieser Art dem Entwicklungsstand des Kindes wohl eher nicht gerecht. Sie unterstellen ihm Überlegungen, die sich beim Erwachsenen in einer entsprechenden Situation vielleicht abspielen mögen, die indes die kognitiven Möglichkeiten des Kindes völlig überfordern. Vor allem fällt auf, dass die Studierenden Hinweise auf emotionales Erleben geradezu konsequent vermeiden. Es wirkt fast so, als hätten sie mittlerweile eingeprägt bekommen, ihrem gesunden Menschenverstand zu misstrauen, und würden sich bemühen, das kindliche Handeln so zu erklären, wie sie es für »wissenschaftlich« halten – und das ist derzeit eben in erster Linie kognitionsorientiert. Ein solches Vorgehen bringt uns im vorliegenden Zusammenhang aber nicht weiter; wir müssen für diesen Altersabschnitt nach anderen Erklärungen des motivierten Geschehens suchen.

    Angemessener erscheint die Annahme, das Kind werde angesichts des Fremden von Furcht erfasst und verspüre den unwiderstehlichen Drang, sich der Mutter anzunähern. Dabei braucht ihm weder bewusst zu sein, dass das, was es verspürt, »Furcht« genannt wird, noch welchen Grund oder welchen Zweck sein Verhalten hat. Gleichwohl verhält es sich vollkommen angemessen. Damit rücken nun aber Emotionen als Steuermechanismen des Verhaltens in den Vordergrund, und wir befinden uns auf einer anderen Ebene der Analyse.

    1.1.3 Ebenen der Verhaltensanpassung

    Wie zu zeigen sein wird, legt die phylogenetische Betrachtung die Unterscheidung von drei Niveaus der Verhaltensorganisation nahe (Abb. 1.2). Sie vermitteln ein Bild, wie komplexere Fähigkeiten einfachere Vorformen ablösten, aber auch überformten und integrierten. In diesem Bezugsrahmen lassen sich Arbeitshypothesen generieren, wie die Entwicklung in der Ontogenese fortschreiten könnte. Darüber hinaus erlaubt ein solches Vorgehen die Unterscheidung, welche Fähigkeiten der Mensch mit anderen Lebewesen teilt, und welche spezifisch menschlich sind.

    Abb. 1.2: Ebenen der Verhaltensanpassung bei Primaten

    Bei der vorgenommenen Einteilung können wir uns auf die Betrachtung von Primaten beschränken, da nur diese als unsere nächsten Verwandten für unsere Phylogenese von Belang sind². Besonderheiten einzelner Primatenarten werden bei diesem Vergleich nur soweit berücksichtigt, als sie für unsere Fragestellung von Interesse sind. Auch auf andere Arten, wie z. B. Rabenvögel, Elefanten, Delphine, für die zu diskutieren wäre, ob sie nicht bereits auf das Leistungsniveau verweisen, das wir den Anthropoiden zuschreiben, soll hier nicht eingegangen werden, da diese Arten für unsere Entstehungsgeschichte irrelevant sind.

    Um eine Übersicht zu geben, seien die Ebenen in ihren wesentlichen Aspekten kurz skizziert; sie werden an gegebener Stelle eingehender behandelt.

    1. Die erste Ebene kennzeichnet die Primaten unterhalb des Anthropoidenniveaus (Tieraffen) und lässt sich als prärationale Verhaltenssteuerung charakterisieren, die instinktiv durch Antriebe gewährleistet wird. Es handelt sich dabei um angeborene Mechanismen, die das Verhalten in Passung an relevante Umweltgegebenheiten auf spezifische Ziele ausrichten. Sie beschränken sich keineswegs – wie bei Tieren oft unterstellt wird – auf die sogenannten Primär- oder auch biogenen Triebe, die für die Bedürfnisse des physischen Überlebens wie Ernährung, Temperaturregelung etc. zuständig sind. Zu den Antrieben zählen vielmehr auch Motivationssysteme, welche die Erfordernisse des sozialen Zusammenlebens regulieren – wie z. B. Bindung an Artgenossen und Geschlechtspartner, Fürsorge für die Jungen sowie Strategien der Selbstbehauptung und Konfliktbewältigung, um die wichtigsten zu nennen. Kognition besteht auf diesem Niveau in jeder Form von Informationsgewinn. Dazu zählen Wahrnehmungen und Gedächtnisleistungen, aber auch affektive Erlebnisweisen. Auch wenn wir prinzipiell keine Aussagen über das subjektive Erleben von Tieren machen können, so liegt es doch nahe, auf einem Niveau, auf dem rationales einsichtsvolles Denken noch nicht evolviert ist, an emotionsähnliche Reaktionen zu denken, was die Bewertung von Situationen und die Verhaltenssteuerung betrifft. Kognition im weiteren Sinn umfasst also Wahrnehmungen, Gedächtnisleistungen und affektive Reaktionen, während wir unter Kognition im engeren Sinn vernünftige Einsicht aufgrund rationaler Verarbeitung verstehen wollen, die sich erst auf dem nächst höheren Niveau in Ansätzen ankündigt. Für die Betrachtung von Babys im ersten Lebensjahr werden wir die prärationale Ebene zugrundelegen.

    2. Auf dem protorationalen Niveau, das die Anthropoiden (Menschenaffen) kennzeichnet, sind mit der Ausbildung der Vorstellungstätigkeit erste Ansätze für rationales Denken und einsichtsvolles Problemlösen gegeben. Zu der durch Wahrnehmungen unmittelbar erlebbaren Welt tritt zusätzlich ein durch Vergegenwärtigungen generierbares symbolisches Abbild dieser Welt. Vorstellungstätigkeit erlaubt es, aktiv Veränderungen an den Vorstellungsinhalten vorzunehmen und auf diese Weise Problemlösungen zu entwerfen, deren Durchführbarkeit erst einmal in der Phantasie simuliert werden kann, bevor man sie in die Realität umsetzt. Neben diesen ersten Ansätzen mentalen Probehandelns gibt es bereits bei Menschenaffen auch Indizien für ein rudimentäres Ichbewusstsein sowie Bekundungen von Empathie, die auf eine Einsicht in die subjektive Verfassung anderer schließen lassen. Für die Bestimmung spezifisch menschlicher Fähigkeiten ist das protorationale Niveau die relevante Vergleichsebene. Beim Kleinkind sind entsprechende Leistungen im zweiten Lebensjahr zu erwarten.

    3. Die dritte, im eigentlichen Sinn rationale Ebene, betrifft den Übergang zur spezifisch menschlichen Erkenntnis. Das einsichtige Denken in Vorstellungen und sprachlichen Begriffen ist nun voll ausgebildet und mit ihm ein Verständnis für die Zeit sowie Erkenntnismöglichkeiten, die unter der Bezeichnung Theory of Mind Leistungen zusammenfassen, die eine explizite Reflexion auf Bewusstseinsvorgänge bei sich selbst und anderen voraussetzen. Diese spezifisch menschlichen Erkenntnisformen, die dem Kind ab dem vierten Lebensjahr zur Verfügung stehen, ermöglichen unter anderem die Vergegenwärtigung vergangener und zukünftiger Bedürfnislagen, wodurch sich fundamentale Veränderungen in der Handlungsorganisation eröffnen. In diesem Kontext lässt sich auch das Auftreten einer Mitteilungssprache einordnen.

    Wie bereits angedeutet, finden sich die drei Ebenen, von einigen Besonderheiten abgesehen, auf die an gegebenem Ort verwiesen wird, in der kindlichen Ontogenese wieder. Im Bezugsrahmen dieser Ebenen wird jeweils der Versuch unternommen, bestimmte Leistungen zu analysieren und ihrem Komplexitätsniveau entsprechend einzustufen.

    1.2 Entwicklung

    1.2.1 Definitionen

    Gegenwärtig zeichnet sich in der Psychologie die Tendenz ab, Entwicklung mit Veränderung gleichzusetzen, den Begriff also möglichst vage zu fassen, wie es etwa schon Kessen mit der Formel E = V= f (A) »Entwicklung ist eine Veränderung als Funktion des Alters« zum Ausdruck brachte³.

    Nun lässt diese Formel, ebenso wie ähnliche Definitionsansätze, durchaus erkennen, dass man nicht eigentlich beabsichtigt, jede Art von Veränderung als Entwicklung zu bezeichnen, sondern die Notwendigkeit verspürt, eine Abgrenzung zwischen den beiden Prozessen vorzunehmen, und dies geschieht in Form der Bezugnahme auf das Lebensalter. Das Problem ist nur, dass sich das Alter nicht als Unterscheidungskriterium eignet, denn weder die Zeit noch das Alter allein vermögen Entwicklung zu erklären; sie verweisen allenfalls auf Prozesse, die sich im zeitlichen Verlauf des Lebens ereignen und die ihrerseits eigentlich für die Entwicklung verantwortlich sind. Werden diese aber nicht näher spezifiziert, so bleibt letztlich doch nur eine Gleichsetzung von Entwicklung mit Veränderung zurück.

    Autoren, die dieses Problem sehen, führen weitere Attribute an, die ihnen geeignet erscheinen, den Begriff der Veränderung auf entwicklungsspezifische Prozesse einzugrenzen (Zitate nach Flammer⁴):

    Thomae: Entwicklung ist »eine Reihe von miteinander zusammenhängenden Veränderungen, die bestimmten Orten des zeitlichen Kontinuums eines individuellen Lebenslaufs zuzuordnen sind.«

    Flammer: »Alle längerfristig wirksamen Veränderungen von Kompetenzen. Das sind sowohl die ›bleibenden‹ einzelnen Veränderungen als auch jene kurzzeitigen Veränderungen, die weitere nach sich ziehen.« »… die ausgelöste ›Lawine‹ von aufeinanderbezogenen Veränderungen.«

    Oerter: »Eine nicht zufällig erklärbare Veränderungsreihe, die mit dem individuellen Lebenslauf verknüpft ist«.

    Ulich: »Lebensalterbezogene, langfristige und geordnete Veränderung«.

    Die Autoren legen also über den Altersbezug hinaus Wert darauf, dass die Veränderungen in einem Zusammenhang stehen, geordnet sind, aufeinander bezogen, nicht zufällig erklärbar und von nachhaltiger Wirkung.

    Der phylogenetische Bezugsrahmen, in dem wir unsere Betrachtung vornehmen wollen, impliziert ein spezifischeres Verständnis von Entwicklung, als es in den angegebenen Definitionen zum Ausdruck kommt. Wir wollen deshalb nicht weiter auf zurzeit favorisierte Entwicklungstheorien eingehen – sie sind in verschiedenen Lehrbüchern hinreichend dargestellt⁵ – sondern uns darauf konzentrieren, die Komponenten zu skizzieren, die wir für Entwicklung als relevant erachten. Im Übrigen sei für eine ins Detail gehende Darstellung der Entwicklungsproblematik auf Bischof verwiesen⁶.

    1.2.2 Entwicklung als Strukturbildung

    Auch wenn es zutrifft, dass es sich bei Entwicklung um eine Veränderung handelt, so muss diese doch, wie gesagt, zusätzlich ganz spezifische Kriterien erfüllen, um den Prozess angemessen zu charakterisieren. Hierzu greifen wir Überlegungen auf, die von Heinz Werner vorgebracht wurden⁷. Als erstes Kennzeichen wäre Wachstum zu nennen. Nun ist das heranwachsende Kleinkind zu einem späteren Zeitpunkt nicht einfach ein größerer Säugling geworden, sondern in seinem Verhaltensrepertoire ist Neues entstanden, das gegenüber Vorherigem eine Verbesserung bedeutet. So differenzieren sich beim Säugling z. B. die Kör perbeherrschung und die Feinmotorik, und man kann beobachten, wie sich einzelne Gliedmaßen auf ganz bestimmte Funktionen spezialisieren. Neben Wachstum sind also Differenzierung und Spezialisierung weitere Kennzeichen von Entwicklung. Schließlich ist Entwicklung durch Integration und Organisation charakterisiert: Während in einem Frühstadium ein eher diffuses Nebeneinander einzelner Funktionen vorherrscht, beobachten wir mit fortschreitender Entwicklung eine immer bessere Integration, z. B. bei der Koordinierung der Muskeltätigkeit mit Sinnesleistungen oder auch einzelner motorischer Bewegungen miteinander. Differenzierung, Spezialisierung und Integration erlauben eine verbesserte Organisation des Gesamtverhaltens; das Kind vermag Ziele, die es anstrebt, effizienter zu erreichen.

    Nun ist die Verhaltensorganisation zwar ein sehr wesentlicher, aber eben nur ein Aspekt der Entwicklung, denn diese betrifft schließlich auch den gesamten morphologischen Organismus. Wenn man nach einer gemeinsamen Charakterisierung für alle Teilbereiche und Teilfunktionen sucht, die sich an ihm entwickeln, bietet sich der Begriff der Struktur an. Im Anschluss an Bischof lässt sich Struktur als eine Mannigfaltigkeit unterscheidbarer Elemente charakterisieren, die insofern in geordnetem Zusammenhang stehen, als man vom Zustand einiger Elemente nach einer Regel zumindest statistisch auf den Zustand anderer Elemente schließen kann.

    Die Definition von Entwicklung lässt sich somit präzisieren:

    Entwicklung ist Ausbildung von Strukturen, wobei aus einfacheren (homogeneren) Ausgangsformen durch Wachstum, Differenzierung und Integration ein Organismus entsteht, der immer komplexere Strukturen aufweist, an denen sich Teilstrukturen unterscheiden lassen, die regelhaft miteinander interagieren.

    Konkret lässt sich das etwa folgendermaßen veranschaulichen: Aus der befruchteten Eizelle entsteht durch Zellteilung ein Zellhaufen von einer zwar schon komplexen, aber immer noch vergleichsweise homogenen Struktur. Aus dieser differenzieren sich Teilstrukturen in Form von inneren Organen, Sinnesorganen, Gliedmaßen, dem Zentralnervensystem mit den Funktionen Stoffwechsel, Motorik und Sensorik sowie psychische Prozesse.

    Je differenzierter und integrierter diese Strukturen sind, desto besser funktionieren der Organismus generell und die Verhaltensorganisation im Besonderen. Das bedeutet, dass Entwicklung als gerichteter Prozess zu verstehen ist – und zwar gerichtet auf Neues, vorher nicht Da-Gewesenes, das im Vergleich zum Vorherigen eine Verbesserung darstellt.

    1.2.3 Entwicklung als Adaptation

    Was heißt nun aber »bessere« Organisation und woran lässt sich die Güte des Funktionierens messen? Da diese Frage einen Wertungsaspekt in die Entwicklungsdefinition einbringt, liegen Missverständnisse nahe. Eine moralische Wertung kann damit nicht gemeint sein. In der Theoriediskussion dürfte das Bedürfnis, einen Wertungsaspekt zu vermeiden, mit einer der Gründe sein, auf eher vage Entwicklungsdefinitionen zu rekurrieren.

    In einem evolutionären Bezugsrahmen lässt sich das Gütekriterium für das Ziel der Entwicklung eindeutig bestimmen; es besteht in der Anpassung/Adaptation an bestimmte Umweltgegebenheiten. Für die Meisterung ihrer Umwelt können die einzelnen Organismen besser oder schlechter gerüstet sein. Adaptivität ist ein Maß für die Effizienz, mit der dies gelingt. Über das Gelingen der Adaptivität entscheidet die Selektion, die dem jeweils besser Angepassten den Sprung in die nächsten Generationen vorbehält oder jedenfalls erleichtert. Adaptation ist indes kein statischer Zustand, sondern ein Prozess: Da das Bessere der Feind des Guten ist, kann jeder Neuerwerb, d. h. jede genetische Veränderung und jedes neu erschlossene Territorium, einen neuen Wettlauf starten. Das Resultat dieser nie zur Ruhe kommenden Anpassungsdynamik ist die Evolution.

    Evolutionsbiologisch ist es die ultima ratio jedes Lebewesens, in möglichst vielen und möglichst überlebenstauglichen Nachkommen weiterzuexistieren. Denn diese sind die Träger des eigenen genetischen Codes und verbreiten ihn. Je besser ihnen das gelingt, desto häufiger wird dieser Code letzten Endes in einer Population vertreten sein. Das bedeutet, dass der Bauplan, der das Erscheinungsbild der heute existierenden Arten einschließlich des Menschen bestimmt, seinerseits von Vorfahren stammt, die ihr Erbgut effizienter als ihre Konkurrenz verbreiten konnten. Und das muss in diesem Bauplan Spuren hinterlassen haben, die sich von Generation zu Generation fortsetzten – und zwar für alle Merkmalsfacetten, für die Anatomie des Leibes ebenso wie für das Verhalten einschließlich aller seiner sozialen Dimensionen.

    Unter Einbezug der Adaptivität lässt sich der Entwicklungsprozess weiter spezifizieren:

    Entwicklung ist ein gerichteter Prozess hin zur Ausbildung und Veränderung von Strukturen, die eine optimale Anpassung an Umweltgegebenheiten gewährleisten. »Optimal« heißt in diesem Sinn, über Verhaltensstrategien zu verfügen, die das eigene Überleben bis zur möglichst erfolgreichen Fortpflanzung sicherstellen, bzw. das zu tun erlauben, was den Weiterbestand des eigenen Genoms begünstigt.

    Hier mag sich nun der Einwand erheben, der Mensch hätte schließlich die Kultur erfunden und sich somit über die gerade geschilderten Gesetzmäßigkeiten erhoben. Dazu ist anzumerken, dass auch unsere Eigenart, Kultur hervorzubringen, ein Produkt der Evolution ist, und dass kulturelle Schöpfungen letztlich nichts anderes darstellen als vielfältige Versuche, die Lebensumstände an unsere natürliche Verfassung anzupassen und zu optimieren.

    1.2.4 Entwicklung und Alter

    Die gerade formulierte Definition stößt auf Probleme, wenn man versucht, auch Vorgänge des Alterns darunter zu subsumieren, wie dies in der Life Span Developmental Psychology gegenwärtig sehr in Mode ist. Das Bedürfnis, das Erwachsenenalter in die Betrachtung einzubeziehen, dürfte ein weiterer Grund für vage Entwicklungsdefinitionen sein.

    Zur Frage, ob Alterungsprozesse zur Entwicklung gezählt werden können, ist vorab zu betonen, dass es sich bei altersbedingten Ausfällen nicht um einen Strukturabbau im Sinne einer Umkehr des Strukturaufbaus handelt – Entwicklung ist irreversibel. Die Defizite sind vielmehr Ergebnis eines Strukturzerfalls, und auf diesen trifft unsere Definition nicht zu.

    Nun treten beim Erwachsenen aber ohne Zweifel auch Veränderungen auf, für die die Bezeichnung Abbau fehlangebracht wäre. Generell stellen biographisch bedingte Veränderungen immer wieder neue Entwicklungsaufgaben. Die mehr oder weniger erfolgreichen Bemühungen, diese zu lösen, fallen unter unsere Entwicklungsdefinition, sofern der Versuch unternommen wird, bestehende Strukturen auf bessere Anpassung hin abzuwandeln, weil bisherige Strategien nicht mehr taugen. Das Komplexitätsniveau braucht sich bei dieser Art von Strukturabwandlung nicht zu erhöhen. In diesem Sinn lässt sich sogar der Vorgang des Altersabbaus selbst mit Entwicklung in Verbindung bringen, nämlich immer dann, wenn es dem alternden Menschen gelingt, sich an seine altersbedingten Defizite anzupassen und diese in konstruktiver Weise zu bewältigen. Der bloße Rückgriff auf Gewohnheiten allerdings wäre Stagnation und keine Entwicklung.

    Schließlich kann man auch dann von Entwicklung sprechen, wenn eine Verbesserung zwar intendiert, aber nicht gänzlich erreicht wurde. Ein nicht optimal angepasstes Verhalten spricht per se noch nicht dagegen, dass ein Entwicklungsprozess stattgefunden hat. Das trifft auch für sogenannte Fehlentwicklungen zu – der Entwicklungsbegriff ist ja frei von moralischer Wertung. Neurotische oder auch kriminelle Verhaltensmuster stellen zwar unter gesellschaftlicher Perspektive keine optimale Anpassung dar, sind aber immer noch ein für die Betreffenden eben im Rahmen des Möglichen liegender Versuch, mit Gegebenheiten fertigzuwerden oder sich mit Unabänderlichem zu arrangieren.

    Eine etwas weniger spezifizierte Fassung unserer Entwicklungsdefinition dürfte geeignet sein, auch die genannten Veränderungen im Erwachsenenalter einzuschließen:

    Entwicklung ist ein zielgerichteter Prozess, bei dem durch Differenzierung, Spezialisierung und Integration Strukturen aufgebaut und abgewandelt werden, die eine möglichst adäquate Anpassung an Umweltgegebenheiten gewährleisten.

    1.2.5 Ultimate und proximate Ursachen

    Ein sich hartnäckig haltender Einwand gegen die evolutionsbiologische Herleitung menschlichen Verhaltens äußert sich in der Aussage, Menschen seien schließlich nicht fortgesetzt und hauptsächlich von Überlegungen geleitet, wie sie ihren Fortpflanzungserfolg optimieren können – ja vielfach seien sie überhaupt nicht daran interessiert. Diesem Einwand liegt nun allerdings eine unzutreffende Meinung darüber zugrunde, wie Anpassung im Einzelnen realisiert wird. Die evolutionsbiologisch orientierte Vorgehensweise unterscheidet nämlich zwei Erklärungsebenen, die man als ultimate und proximate Ursachenanalyse bezeichnet. Im ersten Fall fragt man nach der Funktion, im zweiten nach dem Mechanismus eines beobachteten Phänomens, wobei es sich sowohl um morphologische Strukturen wie auch um Verhaltensleistungen handeln kann.

    Ultimate Fragestellung

    Wozu ist ein an einem Organismus beobachtbares Phänomen gut? Welchen Vorteil bietet es seinem Träger? Welche Leistung erbringt es? Welcher Funktion, welchem »Zweck« dient es, d. h. wie kann man verstehen, dass es sich evolutionsgeschichtlich durchsetzen konnte? Auf welchem Weg verhilft es seiner eigenen genetischen Grundlage dazu, sich in jeder neuen Generation erfolgreich zu behaupten?

    Proximate Fragestellung

    Mit welchen Mitteln erreicht es der Organismus, dass sich ein Merkmal ausbildet und eine bestimmte Leistung erbringen kann? Welchem Konstruktionsprinzip verdankt es seine Funktionstüchtigkeit? Welche Mechanismen liegen den beobachteten Verhaltensleistungen zugrunde?

    Die beiden Fragestellungen ergänzen sich und können häufig nur im Zusammenhang angegangen werden, wobei sich die ultimate Analyse vornehmlich auf die Phylogenese bezieht, während sich die proximate Analyse in erster Linie mit der Ontogenese, also konkret mit der Ausbildung eines individuellen Organismus befasst. In der gegenwärtigen Rezeption einer biologischen Sichtweise in der »evolutionären Psychologie« zeichnet sich allerdings die Tendenz ab, die proximate Analyse zugunsten der ultimaten zu vernachlässigen, bzw. es überhaupt bei Letzterer bewenden zu lassen und zu glauben, damit sei ein psychologischer Sachverhalt bereits erklärt. Oder man meint – im Anschluss an Cosmides und Tooby – die proximate Frage dadurch gelöst zu haben, dass man je nach Bedarf einen bereichsspezifisch »evolvierten psychologischen Mechanismus« annimmt, der dann in die handliche Form (EPM) abgekürzt und nicht genauer erklärt wird⁸. Die eigentliche Aufgabe der Psychologie ist es indessen, diese Erklärungen zu liefern, also sich mit der proximaten Analyse zu befassen, wobei es zweifelsohne in jedem Fall angebracht ist, die ultimate Betrachtung als Bezugsrahmen einzubeziehen. Zunächst wäre also immer erst einmal nach der Funktion einer Verhaltensanpassung zu fragen, um zu bestimmen, welchem Selektionsvorteil sie ihre Ausbildung verdankt und in welchem evolutionären Umfeld sie entstanden ist. Anschließend ist zu analysieren, wie sie »gerätetechnisch« im individuellen Organismus realisiert wird, welche Probleme dabei gelöst werden müssen, und welche Voraussetzungen dafür überhaupt gegeben sind.

    Auf neurophysiologischer Ebene handelt es sich bei den proximaten Mechanismen um Verschaltungen im ZNS, denen auf psychologischer Ebene Wahrnehmungen, Erkenntnisse, Motivationen und Emotionen, also das gesamte psychische Inventar, entsprechen – und natürlich auch die Programme der motorischen Umsetzung in Verhalten.

    Wie gesagt, haben die proximaten Mechanismen letztlich alle den Zweck der erfolgreichen Anpassung im Sinne des Fortpflanzungserfolgs. Diese »Letztursache« ist aber eben keine psychologische Erklärung – sie wirkt sich vielmehr in der Verhaltensorganisation aus, ohne dass uns dies überhaupt bewusst zu werden braucht.

    1.2.6 Reifung und Lernen

    Ein grundsätzliches Thema für die proximate Analyse betrifft die Frage, wie sich die Strukturbildung der Entwicklung konkret vollzieht. Hier sind zwei Teilprozesse zu unterscheiden, nämlich Reifung und Lernen.

    Lernen wird in Lehrbüchern eingehend abgehandelt – wir setzen diesbezügliche Kenntnisse voraus und wollen es bei einer kurzen allgemeinen Charakterisierung der einzelnen Lernformen bewenden lassen⁹. Lediglich die Nachahmung soll im 12. Kapitel eingehender besprochen werden.

    Klassisches Konditionieren: Ursprünglich neutrale Reize, die sich bei der Bedürfnisbefriedigung als relevant erweisen, werden mit dieser assoziiert und dienen fortan als Hinweisreize für die Angemessenheit des Vorgehens.

    Instrumentelles Konditionieren: Lernen aufgrund von Versuch und Irrtum – Verhaltensweisen, die bei Ausprobieren zum Erfolg führten, werden beibehalten.

    Nachahmung: Verhaltensmuster bzw. Problemlösestrategien werden aufgrund der Beobachtung von Modellen übernommen.

    Beispiele für gelernte Anpassungen, auf die im Buch genauer Bezug genommen wird:

    Ausbildung motorischer Schemata (Willkürmotorik)

    Auslösesituationen für bestimmte Emotionen

    Unterscheidung von fremd und vertraut

    Kenntnis von Bezugspersonen

    Konditionierte und aus der Einsicht gewonnene Problemlösungsstrategien

    Lernen aus Beobachtung – Nachahmung

    Sprache

    Lernen ist nur die eine Möglichkeit, wie Anpassungsleistungen entstehen können. Eine andere ist die Reifung. In Bezug auf sie erhält man in Lehrbüchern selten zureichende Auskunft, sofern sie überhaupt thematisiert wird. Im Umfeld der behavioristischen Euphorie, menschliches Verhalten sei durch Lernen beliebig form- und veränderbar, hatte die Reifung keinen Stellenwert. Ihre Bedeutung wird auch heute durchgängig heruntergespielt, was unter anderem damit zusammenhängen dürfte, dass man mit ihr in einer Life Span Developmental Psychology kaum etwas anzufangen weiß. Nicht selten wird ihre Funktion auf Wachstum beschränkt¹⁰. Montada definiert Reifung als »gengesteuerte Veränderung von Strukturen und Funktionen der Organe, des Zentralnervensystems, der hormonalen Systeme, der Körperformen usw. … Reifung ist allerdings nicht Gegenstand der Psychologie, sondern biologischer Wissenschaften«¹¹. Das Psychologische Wörterbuch von 2004 charakterisiert Reifung als »die Ausfaltung von keimhaft angelegten Verhaltens- und Erlebnisweisen … (Reifung) ist die Voraussetzung für die im Laufe der Entwicklung zu beobachtenden Veränderungen in Leistung und Verhalten«¹². Auch hier wird körperliches Wachstum genannt sowie die Reifung des Muskel- und Nervensystems. Häufig wird Reifung der Erfahrungsbildung durch Umwelteinflüsse gegenübergestellt. Man gesteht ihr zwar eine Funktion als Voraussetzung für die psychische Entwicklung zu, ohne indessen weiter zu spezifizieren, wie die Entwicklungsprozesse bei ihr im Einzelnen verlaufen, und welchen Einflussgrößen sie unterliegen. Ob und wie weit Reifung sich direkt auf das Verhalten auswirkt, bleibt im Vagen.

    Richtig ist, dass Reifung morphologische Strukturen betrifft – aber was sagt das schon? Wie das gesamte psychische Geschehen spielt sich auch Lernen nicht im luftleeren Raum ab, sondern wirkt sich auf das Zentralnervensystem aus, dessen Struktur es verändert und durch dessen Struktur es beeinflusst wird. Die Veränderung morphologischer Strukturen ist also nicht das Kriterium, das erlaubt, Reifung und Lernen zu unterscheiden.

    Bevor wir diesen Unterschied genauer herausarbeiten, wollen wir die Wirkung von Reifung auf die psychische Entwicklung folgendermaßen spezifizieren: Mit der morphologischen Entwicklung des Zentralnervensystems entstehen bestimmte psychischen Bereitschaften, auf deren Grundlage Verhaltensweisen auftreten, deren Angepasstheit an ganz bestimmte Umweltkonstellationen funktioniert, ohne dass vorher Erfahrung mit diesen vorausgehen muss. Wie wir im nächsten Absatz sehen werden, heißt das natürlich nicht, dass bei der Ausbildung dieser Verhaltensweisen bzw. der sie fundierenden Bereitschaften überhaupt keine Umwelteinflüsse vorhanden sein dürften. Insofern erweist sich der in der Anlage-Umwelt-Kontroverse erhobene Einwand als unzutreffend, bei der Entstehung von Organismen ließen sich Umweltwirkungen ja gar nicht ausschließen. Entscheidend ist, dass es sich bei diesen nicht um die jeweils spezifische Umweltkonstellation handelt, an die das Verhalten angepasst ist. Es ist also die Anpassung als solche, die bei Reifung umweltunabhängig entsteht.¹³

    Gelernte Anpassung: Eine Anpassungsleistung entsteht aufgrund von Erfahrung mit dem Objekt/der Situation, an die sie angepasst ist, wie in dem einfachen Beispiel »Gebranntes Kind scheut das Feuer«.

    Gereifte Anpassung: Sofern überhaupt ein normaler Phänotyp entsteht, entwickelt sich die Anpassung an ein Objekt oder eine Situation, ohne dass vorher eine Erfahrung mit diesen stattgefunden haben muss.

    Nachstehend sind die wichtigsten gereiften Fähigkeiten und Bereitschaften aufgezählt (ohne Anspruch auf Vollständigkeit).

    Gereifte Fähigkeiten und Bereitschaften

    Motivationen, wie z. B. die Bereitschaft, sich einer Bezugsperson anzuschließen

    Fähigkeit, mit qualitativ unterschiedlichen Emotionen zu reagieren

    Motorik (aufrechter Gang, Feinmotorik der Finger)

    Strukturen des ZNS als Basis für kognitive Leistungen, Kategorien der Wahrnehmung und des Denkens; Voraussetzungen für Vorstellungstätigkeit

    Fähigkeit, eine Begriffssprache zu erwerben und in dieser zu kommunizieren

    Geschlechtstypische Verhaltensdispositionen

    Exekutive Funktionen

    Was das Zusammenspiel von Reifung und Lernen betrifft, so bilden gereifte Strukturen des ZNS generell die Voraussetzung für Lernen, indem sie die Rahmenbedingungen abstecken, innerhalb welcher Lernerfahrungen gemacht werden können. Sie bieten also eine Art Vorgabe, die dann durch Lernen differenziert und modifiziert wird, dieses aber auch in bestimmter Weise ausrichtet, z. B. indem sie in Form der Emotionen Bewertungsmechanismen für den Lernerfolg bereitstellt. Man könnte darin eine Begrenzung der menschlichen Verhaltensflexibilität und damit der Freiheit sehen. Man muss sich aber der Tatsache bewusst bleiben, dass gereifte Strukturen Lernerfahrungen in adaptiver Weise in eine der Anpassung förderliche Richtung kanalisieren und damit erheblich zur Effizienz des Wissenserwerbs beitragen. Wenn Information über relevante Umweltgegebenheiten ausschließlich aufgrund von Erfahrung gesammelt werden müsste, wäre das nicht nur viel zu aufwendig und gefährlich, sondern insbesondere auch gar nicht in dem Zeitraum realisierbar, in dem Kinder ihre Verhaltensstrategien erwerben.

    1.3 Umweltwirkungen

    1.3.1 Alimentation

    Beim Vergleich unserer Definitionen von Reifung und Lernen könnte der Eindruck entstehen, der Unterschied zwischen beiden bestünde darin, dass Lernen umweltabhängig sei, Reifung dagegen nicht, wie dies eben in der Aussage zum Ausdruck kommt, Reifung sei durch die Gene gesteuert¹⁴, oder auch in der Gegensatzbildung der sogenannten Anlage-Umwelt-Kontroverse immer wieder aufgewärmt wird. Dies ist indes eine unzutreffende Sichtweise. Zutreffend ist viel mehr:

    Sowohl gereifte als auch gelernte Anpassungen sind anlage- und umweltabhängig.

    Diese Aussage kann wiederum Fehlschlüssen Vorschub leisten. Wenn Reifung und Lernen umweltabhängig sind, so wird gefolgert, sei überhaupt nicht entscheidbar, ob ein Merkmal/Verhalten gereift oder gelernt sei, und damit erübrige sich die Unterscheidung. Solche Fehleinschätzungen hängen wohl damit zusammen, dass der Umweltbegriff meist nur sehr vage gefasst wird, wie es etwa in der Äußerung: »Umwelt schließt alles ein, was nicht im genetischen Material selbst enthalten ist« zum Ausdruck kommt¹⁵. Oberflächlich gesehen ist dies richtig. Das heißt aber nicht, dass sich bei einer differenzierteren Betrachtung nicht sehr genau entscheiden lässt, wie die Umwelt wirkt, und ob es sich bei einem Entwicklungsvorgang um Reifung oder um Lernen handelt. Man muss nur präzisieren, in welcher Weise die Umwelt die Strukturbildung beeinflusst.

    Die jeweils spezifischen Umweltwirkungen sollen als Stimulation, Alimentation und Selektion unterschieden werden¹⁶.

    Wir wollen mit der Alimentation beginnen. Damit ein genetisches Programm in einen individuellen Organismus umgesetzt werden kann, bedarf es des »Materials« aus der Umwelt, an dem es sich realisieren kann. Die Einwirkung der hierfür relevanten Umweltfaktoren bezeichnen wir als Alimentation. Konkret handelt es sich dabei um Bau- und Betriebsstoffe und um Energie. Die Alimentation übt einen entscheidenden Einfluss auf die ontogenetische Konkretisierung des Phänotyps aus und ist während des gesamten Lebens für seine weitere Erhaltung maßgeblich. Für die Reifung ist Alimentation der relevante Umwelteinfluss.

    Alimentation: Umweltgegebenheiten (Material, Energie), die für den Aufbau und die Erhaltung eines Organismus (Phänotyps) relevant sind.

    Im Folgenden sind ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Beispiele der wichtigsten alimentativen Wirkungen angeführt.

    Alimentative Wirkungen:

    Nahrung, Sauerstoff

    Nachbarschaftsbeziehung zwischen Zellen beim sich entwickelnden Embryo und Fötus (eine Zelle stellt für die andere die Umwelt dar)

    Temperatur, Klima

    Toxische Stoffe, Krankheiten der Mutter während der Schwangerschaft

    Krankheitskeime, Verletzung

    Strahlungen (z. B. ultraviolettes Licht)

    Der Begriff »Alimentation« mag die Assoziation wecken, es handle sich dabei um etwas »Gutes«. Wie aus der Aufzählung indessen ersichtlich, umfasst Alimentation nicht nur »gute«, sondern auch »schädigende« Einflüsse, und es bedarf der Klarstellung, was mit dieser Wertung gemeint ist. Bei der Ausbildung des Phänotyps ist die Alimentation »gut«, wenn sich ein normaler Phänotyp entwickelt. Schädigende Alimentation dagegen verursacht Abweichungen von der Norm. So kann die Erkrankung der schwangeren Mutter an Röteln zu Blindheit des Kindes führen, Alkoholmissbrauch zu geistigen Defekten. Fatal zeigte sich die alimentative Wirkung auch an einer Medikation, die man Müttern Anfang der 60er Jahre in Form des Schlafmittels Contergan verabreichte, das zu Missbildungen der Gliedmaßen und weiteren Ausfällen bei den Föten führte. Von der Beschaffenheit der Alimentation hängt es also ab, in welche Richtung sich das genetische Programm realisiert; sie übt gleichsam einen Druck darauf aus, welche Erscheinung der Phänotyp im Einzelfall annimmt.

    Besonders eindrücklich lässt sich dieser Zusammenhang bei der Entstehung der Geschlechtlichkeit während der Fötalentwicklung demonstrieren, an der auch deutlich wird, wie unzutreffend es ist, Reifung einseitig als genetische Wirkung zu bestimmen. Das Ausgangsmaterial für die sekundären Geschlechtsmerkmale ist bei beiden Geschlechtern zunächst nicht unterschieden. Beim männlichen Fötus wirkt sich der direkte genetische Einfluss des y-Chromosoms primär in der Bildung der Hoden aus, die bereits von der 8. Schwangerschaftswoche an Androgene produzieren. Von diesen selbstproduzierten Geschlechtshormonen hängt die gesamte weitere Entwicklung eines männlichen Phänotyps ab, einschließlich bestimmter geschlechtstypischer Verhaltensdispositionen. Die Hormone üben also in diesem Fall eine alimentative Funktion aus. Unterbleibt ihre Wirkung aufgrund bestimmter Defekte, so entwickelt sich trotz genetisch männlicher Konstitution ein weiblicher Organismus. Umgekehrt besteht die Normalbedingung für die Entwicklung weiblicher Organismen gerade in der Abwesenheit von Androgenen. Sind genetisch weibliche Föten dagegen aufgrund genetischer Defekte oder infolge Medikation der Mutter unerwünscht einer Androgenwirkung ausgesetzt, so resultiert eine Vermännlichung sowohl der morphologischen Geschlechtsmerkmale als auch verschiedener Verhaltensbereitschaften (fötale Androgenisierung)¹⁷.

    Von der Alimentation hängt also ab, was aus dem Genotyp wird, und die gleiche Alimentation führt nicht zwingend zu vergleichbaren Effekten, wenn sie auf unterschiedliche Genotypen wirkt. Wegen der Bedeutung, die den alimentativen Umwelteinflüssen bei der Umsetzung eines genetischen Programms zukommt, ist es irreführend zu sagen, ein Merkmal/Verhalten sei anlagebedingt bzw. vererbt.

    Zutreffend muss es vielmehr heißen:

    Anlagebedingt/vererbt ist eine ganz bestimmte Reaktionsweise einer genetischen Konstitution, also eines Genotyps, auf bestimmte alimentative Umweltbedingungen. Wären diese anders, würde er anders reagieren.

    Die Alimentation hat neben der Bedeutung für die Reifung auch, wie schon erwähnt, eine entscheidende Funktion für die Erhaltung des Phänotyps. Wichtig ist hierfür ausreichend Nahrung in richtiger Zusammensetzung, um Fehl- und Unterernährung zu vermeiden. Ferner wären Klimaeinflüsse zu nennen sowie der Einfluss von Mikroben und Krankheitskeimen, ebenso der von Schadstoffen in der Luft und vielen weiteren Faktoren. Bei diesen für die Selbsterhaltung relevanten alimentativen Einflüssen ist die Gesundheit der Indikator ihrer Zuträglichkeit.

    1.3.2 Stimulation

    Bei Stimulationen handelt es sich um Umwelteinflüsse, für deren Wirksamkeit der Austausch von Material oder Energie bedeutungslos ist. Dass sie dennoch Einfluss nehmen können, beruht darauf, dass der Organismus seinerseits in Form der Sinnesorgane besondere Strukturen ausgebildet hat, die es ihm ermöglichen, sie überhaupt wahrzunehmen. Stimulationen bauen nicht an der Morphologie des Phänotyps mit, sie kontrollieren vielmehr sein Verhalten. Sie sind der maßgebliche Umwelteinfluss für Lernvorgänge.

    Alimentative Wirkungen können prinzipiell erfolgen, ohne über Sinneswahrnehmungen erfahrbar zu sein. Häufig sind sie aber mit Stimulationen gekoppelt, und diese »bedeuten« dann bzw. »weisen hin« auf alimentativ oder selektiv relevante Umwelteffekte. Probleme, die sich ergeben, wenn alimentative Einflüsse stimulativ nicht wahrnehmbar sind, zeigen sich z. B. eindrücklich an der Wirkung ultravioletten Lichts (Ozonloch) oder radioaktiver Strahlung. In beiden Fällen besteht die Tendenz, deren schädigende Wirkung nicht zu beachten. Stimulationen übertragen also adaptiv relevante Information und veranlassen den Organismus in Form von Motivierungen zu adaptiven Reaktionen.

    Ob eine Adaptation alimentativ oder stimulativ entstanden ist, lässt sich in der Regel danach bestimmten, ob dem Organismus neue Information vermittelt wurde:

    Alimentation als solche vermittelt keine Information. Die Information über relevante Sachverhalte ist im Genom niedergelegt.

    Stimulation vermittelt Information bezüglich der Relevanz von Sachverhalten.

    Emotionen haben als Bewertungsmechanismen in diesem Kontext einen zentralen Stellenwert. Die Emotion der Angst enthält als gereifte Anpassung die angeborene Information »es gibt Gefährliches in der Umwelt«. Beim Lernen, das unter Auswertung der Angst erfolgt, die aus der Konfrontation mit einer bestimmten Situation resultiert, wird neue Information erworben – z. B. »Es sind die Tiger, die gefährlich sind«.

    1.3.3 Stimulative Alimentation

    Nun gibt es Übergangsphänomene, bei denen nicht ohne weiteres entscheidbar ist, ob eine bestimmte Umweltwirkung alimentativ oder stimulativ wirkte – konkret also, ob eine Anpassungsleistung durch Reifung oder durch Lernen entstand.

    An folgendem Befund sei die Problematik verdeutlicht: Durch Ableitungen der Gehirnaktivität konnte man bei Katzen sogenannte Detektorzellen nachweisen, die auf ganz bestimmte Reizkonstellationen ansprechen, z. B. auf vertikale oder horizontale Ausrichtung von Reizen. Dabei zeigte sich, dass es Zellen gab, die nur auf Vertikalität reagierten und andere, die nur bei Horizontalität aktiv wurden. Um herauszufinden, wie sich diese Zellen in der Ontogenese entwickeln, wurden bestimmte Versuchstiere nur mit vertikalen, andere nur mit horizontalen Streifen gereizt. Dabei ergab sich, dass die Detektorzellen für Horizontalität nur perfekt arbeiteten, wenn sie mit horizontalen Streifen gereizt worden waren, bei ausschließlich vertikaler Reizung dagegen sprachen sie nicht an, sondern verkümmerten. Das Umgekehrte traf auf die Detektorzellen für Vertikalität zu.

    Der Befund spricht einerseits dafür, dass für die Entwicklung dieser Zellen eine ganz spezifische Stimulation vorausgesetzt ist, damit sie auf diese später überhaupt ansprechen. Das lässt an einen Lernvorgang denken. Andererseits waren die »falsch« gereizten Zellen aber nicht in der Lage, sich auf die andere Ausrichtung umzustellen, sie konnten also nicht aus der Erfahrung lernen, sondern verkümmerten, wie etwas, das nicht richtig ernährt wurde. Das spricht dafür, dass die Reizung eine alimentative Wirkung ausübte. Um sich entwickeln zu können, »wartet« die Zelle gleichsam auf die Information, auf die sie aber schon vorprogrammiert ist. Andersartige Information kann sie nicht aufnehmen. In solchen Fällen sprechen wir von stimulativer Alimentation¹⁸.

    Solche Effekte sind bislang bei menschlichen Babys noch nicht systematisch untersucht, werden aber aufgrund von speziellen Beobachtungen nahegelegt:

    Ein Beispiel für stimulative Alimentation beim Baby ist die Wirkung von Gestreicheltwerden bei Frühgeburten. Säuglinge im Brutkasten nehmen besser zu, wenn sie täglich ein paar »Streicheleinheiten« erhalten. Dabei handelt es sich ohne Zweifel um Stimulation. Diese ist aber natürlich nicht der Faktor, der direkt als Material für die Gewichtszunahme dient. Das Streicheln stellt vielmehr ein für das Wachstum bekömmliches psychisches Klima her, ohne dass dabei aber ein Lernvorgang mit direktem Bezug zur Ernährung stattfindet.

    Ein weiteres Beispiel ist der frühkindliche Hospitalismus, den René Spitz beschrieb, und auf den wir im 9. Kapitel noch ausführlich zu sprechen kommen. Es handelt sich dabei um das Phänomen, dass Babys Entwicklungsrückstände aufwiesen, obwohl sie ausreichend Stimulation erhielten, die eigentlich zu Lernerfahrungen hätten führen müssen. In diesem Fall ist soziale Deprivation der entscheidende Hemmfaktor; die Babys konnten wegen ständig wechselnden Pflegepersonen keine Bindungen ausbilden, und dieser Mangel wirkte sich indirekt in negativem Sinn auf ihre Lernbereitschaft aus.

    Schließlich sei auf das Phänomen der Prägung verwiesen, bei dem es sich um eine Form von Informationserwerb handelt, die nicht ohne weiteres durch die bekannten Lerngesetze erklärbar ist. Wir werden dieses Thema im 3. Kapitel ausführlich behandeln.

    Der Befund, dass Stimulation alimentativ gleichsam als Nahrung wirken kann, hat Implikationen für die Bedeutung, die der Reifung in der Entwicklung zukommt. Meistens wird angenommen, Reifung sei vorwiegend auf die frühe Kindheit beschränkt¹⁹, und alle später auftretenden Phänomene seien gelernt. Tatsächlich sind Reifungsvorgänge jederzeit möglich, solange sich das Zentralnervensystem überhaupt entwickelt. Das trifft nicht nur auf Veränderungen zu, die auf alimentativen Wirkungen beruhen, wie etwa auf den hormonellen Einflüssen in der Pubertät. Vielmehr ist auch daran zu denken, dass sich stimulative Erfahrungen nicht notwendigerweise nur in Lerninhalten niederzuschlagen brauchen, sondern dass sie auch die Ausbildung neuer Gehirnstrukturen alimentativ anstoßen könnten, und zwar solcherart, dass das ZNS für seine Weiterentwicklung auf die Information wartet, auf die es bereits vorprogrammiert ist.

    1.3.4 Selektion

    Neben Alimentation und Stimulation ist als dritte Umweltwirkung die Selektion zu unterscheiden. Die Selektion greift an der Verbreitung von Genomen an. Veränderungen an diesen selbst können nur über Mutation und Rekombination erfolgen. Werden verschiedene genotypische Varianten innerhalb einer Population mit einer Umweltveränderung konfrontiert, so kann diese eine selektive Wirkung ausüben, sofern sich die Träger einiger dieser Varianten besser an die Veränderung anpassen können als andere – konkret, indem es ihnen besser gelingt, zu überleben und sich fortpflanzen. Eine Umweltwirkung ist also selektiv zu nennen, wenn sie das Auftreten bestimmter genotypischer Varianten wahrscheinlicher werden lässt.

    Am Beispiel der Auswirkungen des Ozonlochs sei dies verdeutlicht. Die daraus entstehende höhere Belastung durch ultraviolettes Licht fördert bei Hellhäutigen eher Hautkrebs als bei Dunkelhäutigen. Nehmen wir an, die Hellhäutigen benützten keine Sonnenschutzcreme und erlitten schon als Kinder häufig Sonnenbrände, weshalb sie relativ jung an Hautkrebs erkrankten. Ihre Fortpflanzungsrate wäre dadurch beeinträchtigt. Die Dunkelhäutigen wären viel seltener betroffen, hätten mehr Nachwuchs und nähmen über einige Generationen hinweg zahlenmäßig zu. In diesen Fall würde der Selektionsdruck in Richtung Dunkelhäutigkeit wirken.

    Abb. 1.3: Ebenen der Verhaltensanpassung bei Primaten einschließlich des Menschen

    Abb. 1.3 veranschaulicht, wie die drei Umweltbedingungen interagieren, und wo sie jeweils angreifen. Der Genotyp liefert den Bauplan, der in Interaktion mit der Alimentation einen Phänotyp hervorbringt. Bestandteil des Letzteren ist das ZNS, das gereifte Anpassungen generiert, zu denen auch bestimmte Verhaltensdispositionen zählen. Ferner spricht das ZNS auf Stimulation an, wodurch Information über die Umwelt vermittelt wird, die zu Lernvorgängen führen kann. Der Phänotyp im Weiteren und das ZNS im spezifischeren Sinn ermöglichen Eingriffe in die Umwelt in Form von Verhalten. Von dessen Angepasstheit hängt es ab, ob das Individuum sich erfolgreich fortpflanzen kann und der Genotyp Fortbestand hat. Auf diese Weise übt die Umwelt eine selektive Wirkung aus.

    An folgendem Beispiel sei das Zusammenspiel von Alimentation und Stimulation sowie gereiften und gelernten Anpassungen veranschaulicht:

    Das Baby bedarf der Nahrung und der Wärme. Beides zählt zur Alimentation. Die Erfüllung dieser Bedürfnisse ist sichergestellt durch die Ausstattung mit einem Nahrungstrieb und einem Temperatursinn. Beide zählen zu den gereiften Anpassungen. Stimulativ geben sich diese Bedürfnisse durch Hunger bzw. Sattsein und Frieren oder Zu-warm-Haben zu erkennen. Dabei handelt es sich um gereifte Empfindungen. Diese Ausstattung genügt aber zunächst nicht, da das Baby sich die notwendige Alimentation nicht selbst verschaffen kann. Deshalb ist es erforderlich, dass sich in seiner alimentativen Umwelt eine Bezugsperson befindet, die für die Befriedigung der entsprechenden Antriebe sorgt. Um sicherzustellen, dass das Baby bei dieser Person bleibt, verfügt es über einen Bindungstrieb. Dieser ist gereift. Stimulativ erfahrbar ist die Relevanz der Bindung durch Gefühle wie Trennungsangst und Geborgenheit (gereifte Emotionen) sowie in Form von Verhaltensimpulsen als Reaktionen auf die wahrgenommene Nähe der Bezugsperson. Lernen muss das Baby, wie die Bezugsperson individuell aussieht, und ob man sich auf sie verlassen kann.

    Zu ergänzen bleibt, dass die Angepasstheit des Genotypen nur unter der Voraussetzung ganz bestimmter Umweltbedingungen gewährleistet ist. Sie müssen lange genug konstant geblieben sein, dass eine genetische Anpassung an sie erfolgen konnte. Das Spektrum dieser Umweltbedingungen bezeichnet man als natürliche oder angeborene Umwelt²⁰ (environment of evolutionary adaptedness, EEA). Entsprechendes gilt für die Alimentation. Mit der Entstehung und Erhaltung eines normaler Phänotyps ist nur zu rechnen, wenn die Alimentation den Bedingungen der natürlichen Umwelt entspricht. Dabei besteht eine gewisse Bandbreite, welche Variationen an Umweltbedingungen noch im Normbereich liegen, also sozusagen verkraftbar sind, ohne dass es zu Abweichungen oder Schädigung des Phänotyps zu kommen braucht und die Funktion der Alimentation, die Selbsterhaltung, erfüllt wird.

    Natürliche/angeborene Umwelt (environment of evolutionary adaptedness EEA): Umweltbedingungen, die lange genug konstant waren, dass eine genetische Anpassung an sie resultieren konnte.

    Wie bereits erwähnt, können alimentative Einflüsse stimulativ erfahrbar werden. Ihre Zuträglichkeit für den Organismus zeigt sich in Form angenehmer Erlebnisse, die sich unter den Begriff des Wohlbefindens subsumieren lassen. Dagegen künden unangenehme Erlebnisse davon, dass ein Ereignis für den Organismus abträglich ist, wie z. B. etwas Ekelerregendes im Unterschied zu gut schmeckender Nahrung, oder Sonnenbrände, um im oben angeführten Beispiel zu bleiben.

    Der Zeitraum, in dem die Selektion ihre Wirkung entfaltet, umfasst mehrere Generationen und entspricht der Phylogenese. Dank seiner Einsichtsfähigkeit hat der Mensch die Selektion weitgehend außer Kraft gesetzt. Hellhäutige können sich natürlich ausreichend gegen ultraviolettes Licht schützen und auf diese Weise Sonnenbrände vermeiden. Für diese Art von Anpassung geben einsichtsgetragene Lernvorgänge den Ausschlag, sie erlauben eine kurzfristige Verhaltensänderung, für die wir den Begriff Aktualgenese wählen. Dagegen sind alle Verhaltensbereitschaften, die durch Reifung in der Ontogenese entstehen, über Jahrmillionen unserer Phylogenese hinweg entstanden, und das bedeutet, dass selektiven Kräften eine erhebliche Wirkung dabei zukam. Und diese gereiften Verhaltensbereitschaften sind es auch, die unser Verhalten – bisweilen auch entgegen der Einsicht – immer noch nicht unerheblich beeinflussen können, etwa indem sie in Form von Neigungen bestimmen, was uns mehr oder weniger Spaß macht – und dann kommt es aus Eitelkeit oder aus Nachlässigkeit eben doch zu Sonnenbränden.

    Die drei Umweltwirkungen und ihre Auswirkungen in der Entwicklung sind in der Tabelle zusammengestellt:

    Zusammenfassung

    Ausgehend von phylogenetischen Überlegungen werden drei Anpassungsniveaus unterschieden, die den Bezugsrahmen für die weiteren Analysen darstellen:

    Prärationale Verhaltenssteuerung (Tieraffen): Kognition im weiteren Sinn (Wahrnehmungen, Gedächtnis, affektive Reaktionen) und instinktiver Ausrichtung auf Ziele.

    Protorationale Verhaltenssteuerung (Menschenaffen): Beginn der Vorstellungstätigkeit und symbolischer Repräsentation der Realität. Mentales Probehandeln, Selbsterkennen, Empathie.

    Rationale Handlungsplanung (spezifisch menschlich): Kognition im engeren Sinn (rationale Einsicht). Vergegenwärtigung der Zeit, Theory of Mind (Reflexion auf Bewusstseinsakte). Berücksichtigung nicht-aktueller Bedürfnisse bei der Handlungsplanung. Mitteilungssprache.

    Entwicklung wird als zielgerichteter Prozess bestimmt, bei dem durch Differenzierung, Spezialisierung und Integration Strukturen aufgebaut und abgewandelt werden, die eine möglichst adäquate Anpassung an Umweltgegebenheiten gewährleisten.

    Die evolutionäre Betrachtung unterscheidet eine ultimate und eine proximate Analyse. Die ultimate betrifft die adaptive Funktion eines Phänomens, die proximate befasst sich mit den Mechanismen seiner Realisierung.

    Entwicklung kann sowohl durch Reifung als auch durch Lernen bewirkt werden. Bei beiden Prozessen ist sowohl die Anlage als auch die Umwelt wirksam, die Umwelt wirkt alimentativ bei Reifung und stimulativ beim Lernen.

    Weil sich auch Reifung nicht ohne Umwelteinflüsse vollziehen kann, ist es irreführend, von einem (gereiften) Merkmal oder Verhalten zu sagen, sie seien anlagebedingt bzw. ererbt. Zutreffenderweise muss heißen, anlagebedingt bzw. ererbt ist eine bestimmte Reaktionsweise eines Genotyps auf bestimmte Umweltbedingungen.

    Reifung ist dem Lernen vorgeordnet, bietet die Randbedingung, innerhalb derer Lernerfahrungen gemacht werden können. Häufig stellen reifungsbedingte Anpassungen eine Vorgabe bereit, an die sich adaptives Lernen anschließen kann.

    Wenn Stimulation zu Lernerfahrungen führt, vermittelt sie neue Information.

    Als stimulative Alimentation wirkt sie, wenn sie Entwicklung anstößt, ohne Information zu vermitteln.

    Selektion ist diejenige Umweltwirkung, die das Auftreten einer bestimmten genotypischen Variante innerhalb einer Population wahrscheinlicher werden lässt, weil diese Variante ein Verhalten hervorbringt, das an diese Umweltgegebenheiten besser angepasst ist als das anderer Varianten, was sich letzten Endes in einer höheren Zahl von Nachkommen auswirkt.

    1 z. B. Heckhausen, 1989

    2 Detailliert, siehe Bischof, 2009

    3 Kessen, 1965

    4 Flammer, 2000

    5 z. B. Flammer, 2000; Miller, 1993; Trautner, 1991; Siegler et al., 2005; Oerter & Montada, 2008

    6 Bischof, 2009, Kap. 7

    7 Werner, 1953

    8 Cosmides & Tooby, 1992

    9 Siegler et al., 2005; Oerter & Montada, 2008

    10 z. B. Siegler et al., 2005

    11 Montada, 2008

    12 Häcker & Stapf, 2004

    13 Bischof, 1982, 1989, 2009

    14 Montada, 2008

    15 Siegler et al., 2005

    16 Bischof, 1982, 1989, 2009

    17 Bischof-Köhler, 2006a

    18 Bischof, 2009

    19 Psychologisches Wörterbuch, 2004

    20 Bischof, 2009

    2 Prärationale Entwicklung

    2.1 Elementarprogramme des Verhaltens

    2.1.1 Zwei Formen von Kognition

    Wie wir eingangs angemerkt haben, entspricht die Verhaltensorganisation in den ersten 18 Monaten in wesentlichen Aspekten dem »prärationalen« Niveau der instinktiven Anpassung. Diese Parallelisierung ist allerdings nicht im Sinne einer völligen Übereinstimmung zu sehen; auf entscheidende Abweichungen wird an gegebenem Ort hingewiesen.

    Um sich adäquat zu verhalten, muss jedes Lebewesen, auch das primitivste, mit seiner Umwelt interagieren und in der Lage sein, relevante Umweltparameter zu »erkennen«. Es muss also über – wie auch immer geartete – kognitive Mechanismen verfügen. Der Begriff »Kognition« lässt sich nun allerdings, wie im 1. Kapitel schon angedeutet, auf zwei Weisen fassen, die in der Psychologie meist nicht klar unterschieden werden:

    Kognition im engeren Sinn: (in der Psychologie übliches Verständnis von Kognition) Denken in Vorstellungen und Begriffen, Vernunft, rationale Erkenntnis, Problemlösen durch Einsicht.

    Kognition im weiteren Sinn: Alle Leistungen, die einem Lebewesen ermöglichen, zum Zwecke der Anpassung relevante Sachverhalte zur Kenntnis zu nehmen. Neben dem Denken zählen dazu Wahrnehmung, Gedächtnisleistungen sowie die Fähigkeit, mit Emotionen zu reagieren.

    Konkret ist davon auszugehen, dass das Baby im ersten Lebensjahr nur über Kognition im weiteren Sinn verfügt. Es ist mit einer Reihe von angeborenen Motivationen ausgestattet, die es ihm ermöglichen, sich zielgerichtet zu verhalten, obwohl es

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