Täter oder Opfer, das ist nicht die Frage: Systemische Beratung bei Mobbing am Arbeitsplatz
Von Andre Kleuter
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Andre Kleuter
Andre Kleuter – Diplom-Sozialpädagoge, Systemischer Therapeut (DGSF), Systemischer Coach (DGSF), Systemischer Supervisor (DGSF), Lehrender für Beratung (DGSF) – arbeitet seit vielen Jahren als Berater und Therapeut. Sein Schwerpunkt liegt in der Beratung von Menschen mit arbeitsplatzbezogenen Fragestellungen. Er lehrt am Hamburgischen Institut für Systemische Weiterbildung (HISW) und ist darüber hinaus als Supervisor tätig. Er ist Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF).
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Buchvorschau
Täter oder Opfer, das ist nicht die Frage - Andre Kleuter
Zu diesem Buch
Seit vielen Jahren arbeite ich in der Beratung mit Menschen, die Schwierigkeiten am Arbeitsplatz haben. Die Probleme, derentwegen Menschen zu mir kommen, und die Anliegen, die sich daraus für die Beratung ergeben, sind vielfältig. Nicht selten kommen Männer und Frauen, die sich am Arbeitsplatz gemobbt fühlen und die als ihr Anliegen die Unterstützung im Kampf gegen das Mobbing formulieren. Sie schildern Vorkommnisse, in denen ihnen Unrecht geschehen ist, in denen sie sich missachtet, schikaniert oder schlecht behandelt und sich aus ihrem Team oder der ganzen Organisation herausgedrängt fühlen. Sie verstehen sich als Opfer Einzelner oder eines ganzen Systems.
Zu Beginn meiner Tätigkeit in der Beratung dachte ich, dass es notwendig wäre, diejenigen, die sich gemobbt fühlen, in ihrem Kampf zu unterstützen. Bald schon aber zeigte sich, dass dieser Ansatz die Situation der Ratsuchenden eher noch verschlechterte und die Konflikte und Spannungen verhärtete. Auch merkte ich während der Beratungsprozesse, dass das Opferbild, das die Klienten zunächst von sich schilderten, häufig die Situation nicht ganz adäquat abbildete. Vielmehr entstand bei genauerer Beschäftigung mit den Problemkonstellationen bei mir zunehmend der Eindruck, dass die Ratsuchenden in der Regel nicht nur Opfer sind, sondern häufig auch Täter, oder dass es zumindest schwer fällt zu unterscheiden, wer Täter und wer Opfer ist. Auch wurde mir deutlich, dass nicht jedes geschilderte Unrecht wirklich als solches zu werten ist und dass manche sogar bewusst einen Mobbingvorwurf initiierten. Aber auch in den Fällen, in denen Klienten nachweislich Unrecht geschah, waren sie in der Regel der Situation nicht hilflos ausgeliefert. Vielmehr konnten sie sowohl zur Verschlimmerung als auch zur Verbesserung der Situation beitragen. Sie waren Handelnde und nicht nur Opfer.
Mir ist dann aufgefallen, dass sich meine Erfahrungen sowohl in der öffentlichen Diskussion über Mobbing als auch in der Fachliteratur selten oder gar nicht wiederfinden lassen. Ist von Mobbing die Rede, werden vielmehr Schwarz-Weiß-Kategorien wie Gut und Böse, Schuld und Unschuld sowie Täter und Opfer verwendet. Mobbing wird dabei in Zusammenhang mit einem vermeintlichen Verfall gesellschaftlicher Werte und Normen, einer zunehmenden Ich-Bezogenheit von Menschen und mit der Skrupellosigkeit des Wirtschaftssystems im Zeichen der Globalisierung und dessen negativen Auswirkungen auf die Arbeitswelt gebracht. Mobbing wird als Auswirkung und Folge dieser Entwicklungen gesehen.
Für mich hat Mobbing mit all dem nur am Rande etwas zu tun. Mobbing ist vielmehr Ausdruck von Spannungen und Konflikten zwischen Menschen, nicht mehr aber auch nicht weniger. Dabei ist Mobbing nach meiner Ansicht kein neues Phänomen, sondern es hat es schon immer gegeben, auch wenn es früher andere Begrifflichkeiten dafür gab, was man heute mit Mobbing beschreibt.
Zeitgleich mit meinen Erfahrungen in der Beratung bin ich im Rahmen von Weiterbildung mit dem systemischen Beratungsansatz in Kontakt gekommen. In dem Systemischen habe ich eine ideale Verbindung und einen hilfreichen Zugang zu dem Thema Mobbing gefunden. Besonders angesprochen hat mich dabei die Haltung, mit der Probleme und Schwierigkeiten betrachtet werden, sowie das dem Ansatz zugrunde liegende Menschenbild, andere nicht zu kategorisieren und vermeintliche Defizite in den Fokus zu nehmen. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Menschen in der Regel gute Absichten haben, die sich unter Umständen aber nicht in ihrer Sprache und ihrem Verhalten adäquat ausdrücken. In der Beratung geht es unter anderem darum, Menschen dabei zu unterstützen, bei sich selbst und anderen Sprache und Verhalten zu entschlüsseln, und die Intentionen und guten Absichten dahinter zu erkennen. Letztendlich ist das Ziel, einen friedvollen Umgang mit sich und den anderen zu finden.
Das Anliegen, meine Erfahrungen in ein schlüssiges, auf dem systemischen Beratungsansatz basierendes, praxistaugliches Beratungskonzept zu überführen, hat mich angetrieben und letztlich zu dem Ihnen vorliegenden Buch geführt.
Worum es geht
»MOBBING – Der Feind in meinem Büro«, so betitelte »Der Spiegel« vor einigen Jahren eine Ausgabe (Heft 16/2012). In dem entsprechenden Leitartikel zeichnet das Magazin ein düsteres Bild der deutschen Arbeitswelt; einer Welt, in der Intrigen, Neid und Schikane an der Tagesordnung seien. Vorgesetzte, die einzelne Mitarbeiter bloßstellten und lächerlich machten, Kollegen, die andere systematisch attackierten und ausgrenzten, und Arbeitgeber, die dem Treiben hilflos zusähen bzw. es ignorierten. Die Autoren beschreiben die langen Leidenswege der Betroffenen, die Ausweglosigkeit, in der sich diese häufig befänden, und die dramatischen Folgen für ihre Gesundheit. Dabei wird davon ausgegangen, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt. Das Magazin beruft sich auf Zahlen einer Studie der Europäischen Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen (Eurofonds), wonach in Deutschland fast zwei Millionen Menschen von Mobbing am Arbeitsplatz betroffen seien. Durch Fehltage aufgrund von Mobbing entstünden deutschen Unternehmen jährliche Kosten in Höhe von 2,3 Milliarden Euro.
Der Artikel ist nur ein Beispiel für die mediale Berichterstattung über Mobbing. Kennzeichnend für die Darstellung in den Medien ist, dass Mobbing in der Regel als ein Phänomen beschrieben wird, in dem es feste Rollen im Sinne von Tätern und Opfern gibt und diese Rollen mit festen Zuschreibungen verbunden sind. Auf der einen Seite stehen Täter, die aus Neid, Missgunst und Bösartigkeit andere Menschen schikanieren, diskriminieren, mithin mobben. Die Opfer auf der anderen Seite sind dem oder den Täter/-n hilflos ausgeliefert und letztendlich Objekte einer immer skrupelloseren Welt und ihrer Protagonisten.
Setzt man sich aber im Beratungskontext mit Betroffenen und ihrer Problematik intensiver auseinander, bekommt man den Eindruck, dass diese Täter-Opfer-Kategorisierung in der Regel zu kurz gegriffen ist bzw. nur einen Ausschnitt des Gesamtbildes wiedergibt. Vielmehr sind die Betroffenen nicht nur Opfer, sondern häufig auch aktiv an der Herstellung und Gestaltung der Situation beteiligt, zumindest der Situation aber nicht hilflos ausgeliefert. Sie können sowohl zu einer Lösung als auch zur Chronifizierung beitragen.
Die Formulierung dieses Eindrucks wirkt auf den ersten Blick provokant und lädt zu dem Missverständnis ein, man würde den Betroffenen womöglich vermitteln wollen, sie seien selbst schuld an der Situation. Diese Schlussfolgerung wäre aber wiederum eine zu kurz greifende Kategorisierung. Vielmehr ist die Inblicknahme der eigenen Anteile und der eigenen Verantwortlichkeiten eine Einladung an Betroffene, Selbstwirksamkeit zu erleben und ohne Schuldzuschreibung jenseits von Kategorisierungen Wege aus festgefahrenen und aussichtslos wirkenden Situationen zu finden. Auch bietet sich so ein Zugang für das Umfeld und professionelle Helfer, Menschen auf dem Weg aus einer Mobbingsituation heraus zu unterstützen.
Wie gestaltet man aber konkret die Beratung von Mobbingbetroffenen jenseits von Täter-Opfer-Kategorisierungen? Wie kann man Klienten beistehen, ohne sie in ihrem Opfererleben zu bestärken? Wie kann man sie für die eigenen Anteile am Mobbinggeschehen sensibilisieren, ohne sie gegen sich aufzubringen und einen Abbruch der Beratung zu riskieren? Diesen und weiterführenden Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden.
Dabei liegt der Schwerpunkt in der Vorstellung eines methodischen Vorgehens für die Beratung von Menschen, die sich gemobbt fühlen. Die Haltung, mit der Mobbing betrachtet wird, die Theorien, auf denen die Analyse der Mobbingkonflikte stattfinden, und die Methoden, die in der Beratung benutzt werden, basieren auf dem systemischen Beratungsansatz. Insbesondere mit seiner Fokussierung auf Zusammenhänge und der Auffassung, dass Probleme nicht einzelnen Individuen, sondern der Dynamik in Gruppen bzw. Systemen zuzuschreiben sind, macht systemische Beratung im Besonderen dafür geeignet, den in der Regel hochkomplexen Problemsituationen bei Mobbing zu begegnen. Das systemische Verständnis im Hinblick auf Kausalitäten und Wirklichkeiten sind die Grundlagen des zu beschreibenden Beratungsansatzes. Darüber hinaus ist die Einbeziehung von kontextuellen Zusammenhängen wichtiger Bestandteil der Betrachtung. Auch Überlegungen zur Sinnhaftigkeit von Mobbing sowohl für den Einzelnen als auch für die Organisation werden vorgenommen.
Gedacht ist dieses Buch als fachliche Anregung und Wegweiser für diejenigen, die in der Beratung und Begleitung von Betroffenen in vielfältiger Weise tätig sind. Das beschriebene Vorgehen für die Beratung ist primär für die Arbeit in Einzelsettings entwickelt worden und bezieht sich auf Mobbing im Arbeitsleben. Grundsätzlich sind die Haltung, mit der hier Mobbingkonflikten begegnet wird, als auch viele der methodischen Anregungen auch auf andere Settings anzuwenden (z. B. in Mediations- und Konfliktklärungsprozessen) und in andere Kontexte (z. B. Schule) übertragbar.
Auch wenn dieses Buch nicht primär Ratgeber für Betroffene sein will, ist es mehr als ein Fachbuch für Professionelle. Sich mit Mobbing zu beschäftigen, sei es als Betroffener oder als Professioneller, heißt auch immer, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Nicht von Mobbing betroffen zu sein, bedeutet nicht, zumindest Aspekte aus eigener Erfahrung zu kennen. Wer hat nicht auch schon einmal das Gefühl gehabt, von anderen ausgegrenzt zu werden, und wer kennt nicht auch Situationen aus dem eigenen Lebensweg, in denen er andere ausgegrenzt hat oder zumindest dazu beigetragen hat, dass andere ausgegrenzt werden konnten? Den allermeisten wird auch das Gefühl des Gekränktseins und des Sich-schlecht-behandelt-Fühlens vertraut sein. Der eine oder andere kennt auch das Gefühl der Ausweglosigkeit und die schmerzvolle Einsicht, sei es am Arbeitsplatz oder in der Partnerschaft, in Konstellationen zu verharren, von deren Schädlichkeit man weiß, und in denen man trotzdem verbleibt. Und wer hat sich nicht selbst schon dabei erwischt, anderen die Schuld für das eigene Misslingen zuzuschieben? Alle diese Gefühle und Verhaltensweisen treten auch bei Mobbing auf. Um also zu verstehen, was bei Mobbing passiert, was die Akteure antreibt und was Voraussetzung dafür ist, eigene Anteile und Handlungsmuster erkennen zu können, ist es erforderlich, als Berater den Blick auf eigene diesbezügliche Erfahrungen zu richten. Nur wer sich selbst kennt, kann anderen helfen. Somit können die folgenden Ausführungen auch als Unterstützung für die Entwicklung der eigenen Konfliktkompetenz verstanden werden.
Das Buch lädt auch ein, Mobbing als etwas zu begreifen, das im zwischenmenschlichen Kontakt auftreten kann. Mobbing nicht zu tabuisieren oder zu negieren, sondern als Anlass zu nehmen, in die Auseinandersetzung mit sich und anderen zu gehen, ist ein Kernanliegen des Buchs. Es geht darum, Mobbing aus der Enge eines Denkens in Schuld-Unschuld-Kategorien herauszuholen und es als etwas zu begreifen, in dem bei allem Leid und aller Schwere auch Hoffnung und Entwicklungschancen liegen.
Das Buch ist so aufgebaut, dass zunächst der bisherige Stand der Diskussion zum Thema beleuchtet und die Begrifflichkeit geschärft wird. Es folgen Grundlagen des systemischen Ansatzes und Kernpunkte eines systemischen Verständnisses von Mobbing. Bevor im Hauptteil detailliert ein methodisches Vorgehen und ein Prozessmodell für Beratung vorgestellt werden, wird der Blick auf den Zusammenhang von Mobbing und Kränkung gerichtet und darüber dargestellt, wie Mobbing von Betroffenen emotional verarbeitet wird. Im Hauptteil werden zunächst hilfreiche Fragen für die Beratung erläutert, das prozesshafte Vorgehen beschrieben und anhand eines Fallbeispiels veranschaulicht und vertieft. Dabei werden auch Fragen zu den Zielen der Beratung und Erfolgs- bzw. Misserfolgskriterien aufgeführt. Anschließend wird mit Fokus auf das Denken und Handeln der Betroffenen erläutert, wie alternative Sichtweisen und neue Handlungsoptionen in der Beratung erarbeitet werden können. Last but not least folgen abschließende Hinweise, was jeder Einzelne, aber auch Betriebe