Sich irritieren lassen: Fremdheit und Befremden in der Arbeit mit geflüchteten Menschen
Von Martin Merbach
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Über dieses E-Book
In der Begegnung und Arbeit mit geflüchteten Menschen gerät das Thema Fremdheit (auch ungewollt) schnell in den Blick. Es prallen Lebensentwürfe in großer Vielfalt aufeinander, verschieden geprägtes Rollenhandeln oder divergierende Partnerschaftskonzepte geraten miteinander in Konflikt. Doch Martin Merbach macht deutlich: Die Fremdheit liegt nicht nur im Gegenüber – sie steckt schon in uns selbst. Er fragt: Was genau ist uns eigentlich fremd? Was wehren wir ab, was lassen wir zu, was löst in uns Befremden aus? Zum Verständnis dieser Prozesse bedarf es einer tieferen Einsicht in das Fremde an sich – als Aspekt des Unbewussten, als Baustein in unserer eigenen Entwicklung. Indem das Buch diese Grundlagen im Hinblick auf die Arbeit mit Geflüchteten beleuchtet, reflektiert es das Befremden in der Arbeitsbeziehung und entwirft Strategien, wie Fachkräfte und Ehrenamtliche damit umgehen können.
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Buchvorschau
Sich irritieren lassen - Martin Merbach
1Befremden über Frau A. – Eine Annäherung
Fremdheit und Befremden sind nicht unbedingt an die Begegnung mit Menschen aus anderen Ländern, mit anderer Hautfarbe oder unbekannter Sprache gebunden. Sie sind allgegenwärtig. Jede zwischenmenschliche Begegnung kann Fremdheit und Befremden auslösen. Und dennoch werden sie uns in bestimmten Situationen ungleich bewusster als in anderen. Die Begegnung mit geflüchteten Menschen zählt zu jenen Situationen, in denen das Befremden oftmals so stark ins Auge fällt, dass wenig Raum und Zeit für ein Nachdenken über seine Bedeutung bleibt. Daher zunächst ein Beispiel aus dem Kontext einer Intervision, das nicht primär etwas mit Flucht zu tun hat. Es soll den Aspekt des Befremdens durch das Fluchtgeschehen etwas in den Hintergrund rücken, um das Wesentliche zwischenmenschlicher Fremdheit besser zu verdeutlichen.
Frau A. hat sich zur psychologischen Beratung angemeldet und gibt als Grund an, dass sie schwanger sei und Probleme mit ihrem Partner habe. Zur Beratung erscheint eine kleinere Frau mit langen Haaren, die sie zum Zopf zusammengebunden hat. Sie wirkt relativ jung, vielleicht Anfang dreißig und trägt ein enganliegendes knielanges Kleid, unter dem sich ihr Bauch wölbt. Ihre Augen blicken freundlich und aufgeschlossen. Nach der Begrüßung nimmt sie – ihren Umständen entsprechend – etwas schwerfällig im Beratungszimmer Platz. Nach dem Beratungsanlass gefragt, gibt sie an, dass sie Probleme mit ihrem Partner, dem Vater des zukünftigen Kindes, habe. Er und seine Familie würden sie nicht akzeptieren und nicht zu ihr stehen. Sie und ihr Freund würden nicht zusammenwohnen, das habe er nicht gewollt. Sie kenne ihn nun schon seit einem Jahr und habe zu Beginn eine Verbundenheit gespürt, die sie noch nie in ihrem Leben empfunden habe. Als sie die Schwangerschaft bemerkte, habe sie das Gefühl gehabt, dass beide sich auf das Kind freuten. Erst allmählich sei ihr aufgefallen, dass er seiner Familie nichts von dem Kind erzählt habe.
Das Beratungsgespräch läuft bereits seit zwanzig Minuten, als die Klientin erwähnt, dass ihr Partner ein senegalesischer Flüchtling sei. Aber er sei überhaupt nicht wie die Anderen, sondern ein sehr offener Mensch, sagt sie. Lediglich in Streitsituationen habe sie manchmal das Gefühl, dass alles nach seinen Vorstellungen gehen solle. Da würde sie dann schon manchmal an der Beziehung zweifeln. Alle diese Schwierigkeiten erzählt sie mit einem leicht traurigen Unterton, andere Emotionen sind nicht spürbar.
Auf die Bemerkung, ob wegen des Verschweigens gegenüber der Familie des Partners und der damit verbundenen Illoyalität ein Traum zerplatzt sei, wird sie lebhafter und beschreibt, dass sie sich ihren Partner schon als Lebenspartner vorgestellt hätte. Wie er aber in der letzten Situation mit ihr umgegangen sei, sei für sie nicht akzeptabel. Sie habe ihrem Ex-Freund, der in einer schwierigen Lage gewesen sei, als beste Freundin zur Seite stehen wollen. Dies habe ihr Partner als Vertrauensmissbrauch bezeichnet. Daraufhin hätten sie so laut gestritten, dass die Kinder es mitbekommen hätten. Nach ihren Kindern befragt, erzählt Frau A. an dieser Stelle des Beratungsgesprächs, dass sie vier Kinder im Alter von 19, 16, 11 und 5 Jahren habe. Zu den Vätern der jeweiligen Kinder habe sie guten Kontakt. Solche Auseinandersetzungen ähnlich der in der jetzigen Partnerschaft hätte es dort nicht gegeben. Sie würde seit elf Jahren nicht arbeiten, sei ihren Kindern eine gute Mutter und könne dies auch aufgrund der materiellen Unterstützung des Staates sein. An dieser Stelle lobt sie das Sozialsystem. Sie freue sich auch auf ihr nächstes Kind, diese Phase wolle sie nun beim fünften Kind ganz genießen. Gegen Ende des Gesprächs stellt Frau A. fest, dass ihre Beziehung wahrscheinlich keine Zukunft habe, sie möchte aber begreifen, warum sie sich auf so einen Mann eingelassen habe.
Was könnte nun befremdlich sein? In der Intervision dieses Falles wurde von einigen Teilnehmenden die Familiensituation als fremd wahrgenommen. Oder die Idee, für die Erziehung der Kinder nur von den Transferleistungen des Staates zu leben. Oder das ausgeprägte Patchwork in dieser Familie, mit der Mutter und den Kindern als Zentrum und den Vätern in der Peripherie. Oder die Art und Weise wie die Klientin ihre Geschichte erzählt, etwa durch das Weglassen der familiären Situation zu Beginn der Beratung. Auch die jugendliche Verliebtheit der Klientin in den zukünftigen Vater ihres fünften Kindes löste Befremden aus, ebenso wie ihre Enttäuschung darüber, dass ihr Partner manchmal so traditionelle Ansichten habe.
Was ist Befremden und wie lässt es sich erklären? Einen ersten Zugang liefert das Nachdenken über die Begriffsgeschichte und -bedeutung des Wortstamms von Befremden und Fremdheit. Um es kurz zu sagen: Was ist in diesem Kontext mit fremd gemeint?
2Was in den Worten steckt
Das Wort »fremd« hat laut dem »Etymiologischen Wörterbuch« (Kluge, 2004, S. 315) gotische und germanische Wurzeln und stammt von dem althochdeutschen Wort »fram« ab, was so viel wie »vorwärts« und »fort« bedeutete (im Englischen lässt sich ja heute noch das Wort »from« finden). Später wurde es dann in der Bedeutung »außerhalb der gewohnten Umgebung«