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Hochzeit in Wien
Hochzeit in Wien
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eBook246 Seiten3 Stunden

Hochzeit in Wien

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Über dieses E-Book

Ein Tag, der das ganze Leben erzählt

Wien, Juni 1933. In der Luftbadgasse 12 feiern Hausbesitzer Hodl und seine Frau goldene Hochzeit. Doch das Haus vereint noch andere Schicksale unter seinem Dach. Der Jude Meyer Jonathan wartet auf seinen Enkel Daniel, der im antifaschistischen Widerstand arbeitet. Das geregelte Leben von Rosita gerät durcheinander, als plötzlich ihre große Jugendliebe vor ihr steht. Die ehemalige Operndiva Maria Ritter versucht, dem begabten Geiger Paul zu einer Karriere zu verhelfen, der jedoch viel lieber mit seinen Katzen in den Tag hineinlebt. Und just an diesem Tag erblickt ein Enkelkind der Hodls das Licht der Welt. Ein herrlicher Tag also - doch hört man nicht schon das unheimliche Grollen unsäglicher Geschehnisse, die sich über Europa zusammenbrauen?
Meisterhaft und einfühlsam erzählt die brillante niederländische Schriftstellerin Marianne Philips von schicksalhaften Begebenheiten am Vorabend der großen Katastrophe.
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Urachhaus
Erscheinungsdatum11. Okt. 2023
ISBN9783825162641
Hochzeit in Wien
Autor

Marianne Philips

Marianne Philips (1886-1951) wurde für die Sozialdemokratische Arbeiterpartei als eine der ersten Frauen zum Ratsmitglied der Niederlande gewählt und war Mutter von drei Kindern. Wegen ihrer jüdischen Herkunft musste sie während des Zweiten Weltkriegs untertauchen. Ihre Romane kreisen oft um ethische und soziale Fragen und zeugen von ihrer Sympathie für Menschen am Rande der Gesellschaft. "Hochzeit in Wien" war nach dem Krieg in den Niederlanden ein Bestseller und erlebte zahlreiche Auflagen, zuletzt 2022.  

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    Buchvorschau

    Hochzeit in Wien - Marianne Philips

    1

    Das Haus steht in der Luftbadgasse. Dort steht es schon zweihundert Jahre, und gut hundert davon befindet es sich im Besitz der Familie Hodl, die ursprünglich aus Tirol stammt, aber seit über einem Jahrhundert eine fruchtbare und fleißige Malersippe in Wien ist. Wenn Johannes Hodl und seine Frau Resi heute bei ihrer goldenen Hochzeit mitsamt allen Kindern und Enkeln und Urenkeln für den Bildteil der Zeitung fotografiert werden, sieht ganz Wien, wie fruchtbar und fleißig diese Familie sein muss, um so viele Nachkommen hervorzubringen und zu erhalten. Es ist keine gewöhnliche goldene Hochzeit, bei der Kinder und Verwandte einem alten Paar seinen letzten repräsentativen Festtag auf Erden bereiten, nein, hier zeigt ein noch nicht entwurzeltes Stück Wien seine außerordentliche Lebenskraft, und der Pfarrer von Mariahilf wird seinen Segen dazu geben, wenn die Hodls um elf nach der gesungenen Messe zur Kommunion gehen. Jetzt, um sechs Uhr morgens, sind die Nachbarn und die Malergesellen bereits emsig dabei, das Haus würdig zu schmücken.

    Das Haus, acht Fenster und ein stilvolles vorspringendes Bogenfenster breit, hat pro Stockwerk zwei Wohnungen, von denen die mit Bogenfenster am schönsten und teuersten sind. Zu den drei Stockwerken kommt noch das Erdgeschoss mit Hodls Wohnung und Werkstatt. Das Erdgeschoss bedarf einer genaueren Beschreibung. In Mariahilf und Wieden gibt es zwar noch viele alte Häuser mit der gleichen Einteilung wie bei Hodls, im neueren Wien hingegen sind diese nicht mehr zu finden, stammen sie doch aus einer Zeit, in der die Bodenspekulanten noch nicht um jeden Meter feilschen mussten, sondern großzügiger zu Werke gehen konnten. Daher nimmt allein Hodls Hoftor, durch das man von der Straße in den Hausflur gelangt, eine Breite von viereinhalb Metern ein. Seine zwei Flügel aus guter, schwerer Eiche sind zusätzlich mit Eisenbeschlägen verstärkt – offenbar steckte den Wienern um 1700 noch die Angst vor den Türken im Blut. Im rechten Flügel ist eine schmale Tür, durch die die Bewohner nach sechs Uhr, wenn die Werkstatt geschlossen ist, mit ihrem eigenen Schlüssel ins Haus kommen, tagsüber jedoch steht das Tor weit offen, damit Hodls Handwagen mit dem Malergerät und den größeren Werkstücken ungehindert hinein- und hinausgeschoben werden können.

    Der Hausflur hinter dem Eingang hat die Abmessungen eines Ballsaals und wird heute auch als solcher dienen. Sein Boden ist mit alten farbigen Fliesen ausgelegt, die dem Zahn der Zeit und der Abnutzung durch den Geschäftsbetrieb unbeschadet getrotzt haben und nun, da der gesamte Flur leer geräumt ist, mit einem verschnörkelten Barockmuster überraschen.

    Rechts des Hausflurs befindet sich die Wohnung der Familie Hodl, sie ist natürlich kleiner als die Mietwohnungen darüber und muss, als die Familie noch stetig wuchs, seltsam übervölkert gewesen sein. Die Werkstatt liegt links des Flurs und nutzt diesen als Stellraum für alles Sperrige wie trocknende Schränke und Reklameschilder, Leitern, Karren und so weiter, heute aber selbstverständlich nicht. Hinten im Flur führt eine breite Eichentreppe zu den oberen Stockwerken, und obwohl die Feuerwehr schon mehrfach angemahnt hat, die Treppe müsse durch eine aus weniger brennbarem Material wie Eisen oder Beton ersetzt werden, nimmt Hodl diese behördliche Einmischung mit gleichmütigem Schulterzucken hin. Das schöne geschnitzte Geländer, das sich in einer anmutigen Spirale bis ins Obergeschoss mit der Balkendecke windet, ist Hodl seit seinem ersten Augenaufschlag vertraut, und er hofft, es bis zum letzten behalten zu können. Der ganze breite Hausflur war früher lediglich ein Durchgang zum Hinterhof, auf den man aus den Wohnungen ringsum herabschaut, aber seit Längerem schon ist zwischen Flur und Hof eine vierte Wand gemauert, und man kommt nur durch eine kleine Pforte in derselben in die Wildnis hinter dem Haus. Die Pforte wird allerdings regelmäßig genutzt. Zu Hodls Anwesen gehört nämlich ein Hinterhaus, ein kurioser kleiner Pavillon, den der erste Besitzer, noch kein Hodl, zu unbekannten Zwecken anbauen ließ, dessen galante Wandmalereien jedoch auf eine gewisse unsolide Absicht hindeuten. Er wird für wenig Geld vermietet, weil er nur durch die Terpentinluft in der Werkstatt oder über die Wüstenei des vernachlässigten Hofs zugänglich ist. Somit ist er prädestiniert dafür, der Bohème als Unterkunft zu dienen, und tut das schon seit Menschengedenken. Derzeit wohnt dort ein noch unentdeckter Geigenvirtuose, der vier Katzen und eine chronische Schwermut hegt.

    Der Pavillon bekommt nie einen Sonnenstrahl ab, ist aber in dieser Hinsicht nicht schlechter dran als das große Vorderhaus, denn dieses wird wiederum von den hinteren Häusern der Gumpendorfer Straße überragt. Die gesamte Luftbadgasse liegt in ihrem Schatten, dem tiefen Schatten einer Seitenstraße, in der man die Häuser nicht instand hält, weil kein Sonnenlicht je offenbart, wie trist sie sind. Nur Hodl ist es natürlich seiner Berufsehre schuldig, dass seine Fassade ordentlich aussieht, darum besitzt er das ansehnlichste Haus der Straße, aber dazu braucht es auch nicht gerade viel. Denn die Luftbadgasse, die ein paar Meter tiefer als die Gumpendorfer Straße liegt und nur an einer Seite eine Zufahrt hat, weil sich an der anderen, zum Apollo-Theater hin, eine Treppe befindet, ist allein schon aufgrund ihrer Lage eine Totgeburt, in der sich selten ein Architekt mit sichtbarem Vergnügen betätigt hat. Sie ist nur für Leute akzeptabel, die an jedem beliebigen Ort zufrieden wären oder aber sich vom Leben zurückgezogen haben.

    Die Erdgeschosse sind von kleinen Handwerkern belegt. Guten altmodischen Schneidermeistern, die eher ein solides Jackett als einen Smoking zu fertigen wissen und nur noch wenig, sowie ein paar Maßschuhmachern, die gar nichts mehr zu tun haben. Ein Kürschner, ehemals Atelierleiter eines Hoflieferanten, befreit die Kaninchenfelle vom Naschmarkt von schäbigen Stellen und fabriziert daraus billiges Mantelfutter für die Kaufhäuser. Und dann ist da der Mann, der Gipsmodelle gießt, aber wer zeichnet heutzutage noch nach Gips? Nur die Brennstoffhandlung floriert in dieser feuchten Ecke der Stadt, verschönert aber nicht das Gesamtbild und ist dem Hausbesitzer Hodl daher ein Dorn im Auge. Aber kann man von der Stadt verlangen, dass sie in einer Straße, in der nicht einmal der Müllwagen wenden kann, regelmäßig die Trottoirs fegt?

    So viel zu den Erdgeschossen, aber auch die Wohnungen darüber bieten wenig Erfreuliches. Die Luftbadgasse (deren Wirklichkeit allerdings nur wenig frische Luft und in den Häusern nirgends eine Badegelegenheit aufweist) ist vor allem ihrer Lage wegen zur Zuflucht für menschliche Überbleibsel aus der Kaiserzeit geworden. Man wohnt dort nur eine Viertelstunde zu Fuß vom Ring, der Hofburg, der Kärntner Straße und der Oper entfernt sowie eine halbe Stunde vom Parlament und der Akademie. Die überflüssig gewordenen Offiziere, Oberkellner, Klavierlehrer, Architekten und Beamten, die mit dem Kaiser und den Erzherzögen in einer Lawine mitgerissen wurden, um schließlich in den Tiefen dieser Gasse zu landen, können so ohne Kosten für eine Straßenbahnfahrt die Luft der Inneren Stadt atmen, täglich am Ring entlangpromenieren oder sich in den Kaisergarten setzen, den keiner von ihnen Burggarten, wie es auf den Schildern steht, zu nennen beliebt. Wenn sie ihre Wohnungen verlassen, gehen sie noch sehr korrekt dynamisch, gleichwohl auf schiefen Absätzen, und tragen ihre Monokel oder Künstlerschlapphüte mit überkommener Eleganz, ohne zu ahnen, dass sie sich unter den Tweedanzügen und Trenchcoats der neuen Zeit wie eine längst überwundene Vergangenheit bewegen. Nicht dass sie sich etwas vormachen, nein, derzeit sind sie eben nicht auf der Siegerseite, aber nur Geduld, die Zeiten ändern sich, bald wird man sie anflehen zurückzukommen.

    Ansonsten gibt es noch die flottierende Bevölkerung wie in jedem billigen Großstadtviertel. Ein paar junge Mädchen vom Opernballett, die jüngst wieder eine Gagenkürzung hinnehmen mussten, einige Büroangestellte mit Familie und in den Hinterhäusern viele, viele Arbeitslose, deren Kinder nicht mit anderen Kindern auf der Straße spielen dürfen, weil ihre Väter anständige Arbeitslose sind, die allmorgendlich mit irgendeiner unsinnigen kleinen Geschäftsidee in der Aktentasche losziehen, um ihr Glück zu versuchen. Nein, die Luftbadgasse ist beileibe kein Arbeiterviertel.

    Johannes Hodl hat sein Haus gottlob ordentlich vermietet. Wenn er manchmal nachts in einer wachen Stunde über den menschlichen Inhalt seines Anwesens nachsinnt, fühlt er sich auf jeden Fall gegenüber anderen Eigentümern vom Schicksal begünstigt. Im ersten Stock links (mit Bogenfenster) wohnt Herr Friedemann, der im Krieg aus gemahlenem Stroh und Kartoffelmehl Spaghetti und Makkaroni herstellte, dann aber durch den Frieden und die Inflation den Großteil seines so glückhaft erworbenen Vermögens wieder eingebüßt hat. Jetzt leiht er den Kleinbürgern niedrige Beträge zu hohen Zinsen und verdient auf diese Weise noch mehr als genug für seine nicht ganz unschuldigen Liebhabereien und außerdem eine Kleinigkeit, um seinen dicken Pudel und eine ältere Großcousine, die ihm den Haushalt führt, zu beköstigen. Rechts von ihm hat der pensionierte Justizrat Kerner in vier dunklen Zimmern die Reste seiner Sammlung Josephinischer Möbel untergebracht. Sie werden ihn bis an sein Lebensende erhalten, gerade hat er drei Monate lang von einem Sekretär gelebt, und er besitzt einen einmalig schönen Tisch aus Nussbaumholz mit mosaikartigen Intarsien, der ihn gut zwei Jahre ernähren kann, ihn und seine arme gelähmte Frau.

    Im zweiten Stock links mit dem Bogenfenster wohnt die einstmals weltberühmte Koloratursängerin Maria Ritter, die 1916 von der Operndirektion in den Ruhestand geschickt und deren Pension seitdem erstaunlicherweise nur mäßig gekürzt wurde – aber schließlich ist Wien ja die Musikstadt. Rechts davon lebt Herr Bergmann mit Frau und fünf Töchtern unter zehn Jahren; über ihn gibt es nichts weiter zu sagen, als dass er der Ehemann von Hodls jüngster Tochter ist und wohl zeit seines Lebens Prokurist in einer kleinen Versicherung bleiben wird, sofern diese nicht vorzeitig in Konkurs geht. Sein Vorderzimmer hat er an Fräulein Goldös vermieten dürfen, die schöne Hauptkassiererin von Korngross, über die es wiederum sehr viel zu sagen gibt, aber wenig Unangenehmes.

    Meyer Jonathan wohnt im dritten Stock auf der teuersten, aber dennoch nicht teuren Seite (hier gibt es kein Bogenfenster mehr), und es ist vollkommen unerklärlich, wie er in der Luftbadgasse gelandet ist, denn er gehört unbestreitbar an den Hohen Markt oder in die Leopoldstadt, er ist nämlich Schreiber bei der jüdischen Gemeinde. Aber es muss Ausnahmen geben, und Meyer Jonathan ist in der Tat ein besonderer Mensch, das muss Hodl sich eingestehen. Wenn der bei ihm wohnende Enkelsohn den Malergesellen nicht mit aufrührerischen Theorien käme, würde Hodl dem alten Juden nur zu gern einen Platz unter seinem Dach gönnen, so aber betrachtet er die Wohnung im dritten Stock links als nicht dauerhaft vermietet.

    Rundherum erfreulich ist dagegen die Belegung der Wohnung im dritten Stock rechts. Dort lebt eine ältere Handarbeitslehrerin mit ihrer Mutter, und obwohl Hodl den beiden Frauen die billigste Wohnung, direkt unter dem Flachdach, zu einem wirklich unbedeutenden Preis überlassen hat, verbeugt er sich vollendet höflich, wenn sie im Hausflur an ihm vorbeigehen. Denn die alte Dame ist eine wahrhaftige Gräfin. Wenn er der Tochter den Mülleimer die Treppe hinaufträgt, erwartet er keinen Dank – »Gern zu Ihren Diensten, Komtesse«. Das Namensschild am großen Hoftor ist ihm eine tägliche Freude. Von Wernizek-Bolnanyi – ganz Wien kennt den Namen und die Familie, wenngleich sie jetzt verarmt und seit ’18 entadelt ist. Ja, sein Haus ist tatsächlich das ansehnlichste in der Luftbadgasse.

    Architektonisch gesehen gibt es auch nichts zu beanstanden, das Haus ist echter Wiener Barock, auch wenn das nie jemand zu Hodl gesagt hat und er einfach so ein wenig in sein schönes, gediegenes zweihundertjähriges Anwesen verliebt ist. Lediglich der Sandsteinschmuck unter dem Dachgesims gefällt ihm nicht sonderlich, er geht auf die Dekorationssucht des zweiten Hodl zurück, der 1874 in Ovale gefasste Darstellungen von Haydn, Beethoven und Mozart anbringen ließ, weil damals überall in Wien gebaut und dekoriert wurde und er außer Malermeister auch Posaunist in einem Musikverein war. Johannes Hodl, heute immerhin fünfzig Jahre verheiratet, weiß noch sehr gut, wie das Haus in seiner Kindheit ohne die Sandsteinfiguren aussah. Wenn es nach ihm ginge, würden sie gleich heute entfernt, aber auch mit zweiundsiebzig Jahren hat er noch einen Rest Pietät und Respekt vor seinem Vater. Sollen die Kinder später damit verfahren, wie sie wollen.

    Da die Nachbarn und Gesellen ohnehin gerade beim Begrünen sind, haben sie die Gelegenheit genutzt und die alten Herren unter dem Dachgesims ein wenig herausgeputzt. Alle drei tragen nun Kränze aus Tannengrün, Beethoven blickt verdrießlich darunter hervor, aber Mozart macht sich mit seinem sehr flott, und der gute Papa Haydn wurde vom Lehrling mit einem Extrasträußchen an der Schleife seiner Zopfperücke bedacht. Die kleinen Jungen und die dicken Mütter aus den angrenzenden Häusern haben von unten Anweisungen gegeben, auch zum Arrangieren der Papierketten und der Tannengirlanden um die Fenster des ersten und zweiten Stocks. Jetzt nicken sie zufrieden und sehen zu, wie der erste Geselle mitten über dem Hoftor ein goldglänzendes herzförmiges Schild anbringt, auf dem in blitzeblauen Schnörkelbuchstaben und -zahlen steht: Ein Hoch auf das goldene Paar, 1883–1933.

    All das geschieht so leise und umsichtig wie nur möglich und ganz früh am Morgen, denn das Jubelpaar soll ja überrascht werden. Johannes Hodl jedenfalls hat sich noch einmal im Bett umgedreht, als er Hammerschläge vernahm. Er ist ein gutmütiger Mann und gönnt jedem sein Pläsier, auch sich selbst.

    Mutter Resi dagegen, die neben ihm liegt, fällt es schwer, nicht die Beine aus dem Bett zu heben. Gestern Abend ist zwar ihre älteste Tochter gekommen und hat gesagt, die Mutter dürfe an ihrem Ehrentag nichts, aber auch gar nichts tun und die kleine Resi und Maria seien schon ab halb sieben da, um alles herzurichten, aber sie weiß ja, wie es ist, wenn man solche Dinge den jungen Mädchen überlässt. Außerdem ist es natürlich völlig undenkbar, dass jemand anderes das Leinenzeug aus dem großen Mahagonigiebelschrank nimmt, zu dem nur sie einen Schlüssel hat. Selbst bei ihren vielen Entbindungen lag immer im Voraus alles Notwendige und mehr als das in einer Schublade der Chiffoniere bereit. Aber was, wenn die Kinder einem nicht sagen wollen, wie viele Leute eingeladen sind? Nein, Resi liegt nicht unbesorgt im Bett ihres fünfzigjährigen Ehebunds, und nun, da sie sogar an diesem Tag mit Sorgen umgeht, zwacken diese auf mancherlei Weise.

    »Hast du alles in der Werkstatt verstauen können?«, fragt sie Hodl. Sie meint damit, ob der Hausflur auch ganz leer ist und nachher geschrubbt als Tanzboden dienen kann, aber eine Frau sagt nun einmal nie genau, was sie denkt. Johannes Hodl grunzt ein Ja und dreht sich auf die andere Seite. Er schläft nicht und will auch gar nicht schlafen, denn er ist hinreichend ausgeruht, er genießt ganz einfach die faule Gemütlichkeit in seinem guten Federbett, aus dem er heute nicht frühzeitig aufstehen und kontrollieren muss, ob seine Leute pünktlich sind.

    Auch Resi dreht sich auf die andere Seite, sie kann nicht still liegen, weil sie keineswegs sicher ist, dass der Hausflur leer geräumt wurde. Und dann, ganz plötzlich, hält sie es nicht mehr aus, sie schiebt die Zudecke von ihren mageren blau geäderten Altfrauenbeinen, und schon sitzt sie auf der Bettkante.

    Aber das kann Johannes nicht durchgehen lassen, denn was würden seine Kinder und die Nachbarn sagen, wenn die Mutter sich nicht überraschen lassen wollte? »Weib!«, ruft er, »kommst du denn nie zur Ruhe, ehe du im Sarg liegst?« Mit dem festen Griff seiner noch immer kräftigen Arbeitshände zieht er Resi aufs Kissen zurück und dann, weil es ihr Hochzeitstag ist und er beste Erinnerungen an die grüne Hochzeit hat, zieht er seine Frau noch näher zu sich heran, birgt ihren schmalen grauen Kopf in seiner Achselhöhle und sagt: »Lieg endlich still, du Quecksilber.« Ja, so etwas hat er auch bei der grünen Hochzeit gesagt, sie müssen beide lächeln, und Resi liegt nun tatsächlich ganze zehn Minuten still, ihr Vogelköpfchen fest an Hodls vertraut atmende Brust geschmiegt.

    Dann aber schlägt die Wanduhr im Wohnzimmer halb sieben, und da sind auch schon Maria und die kleine Resi, lautlos vom ersten Gesellen eingelassen. Aber die Mutter hat nach wie vor ein scharfes Gehör, und jetzt ist sie nicht mehr zu bremsen, sie muss die Vorbereitungen im Wohnzimmer überwachen. Böcke und Bretter sind in einer Malerwerkstatt immer zur Hand, darum ist bereits ein hufeisenförmiger Tisch aufgebaut, die Möbel verschwinden fast unter grünem Schmuck, und jemand hat ein Grammofon mitgebracht. Das alles sieht Resi mit einem Blick, als sie den Kopf zur Tür hineinsteckt. Sogleich werden Rufe laut: »Nicht reinkommen!« Ja, aber kann man eine nach wie vor tätige Hausfrau und Mutter eines hundertköpfigen Geschlechts von dem abhalten, was sie sich in den Kopf gesetzt hat? Also geht Resi unbeirrt in ihr Wohnzimmer, und niemand wagt zu widersprechen, sie gibt ihre Anweisungen, verteilt Tischtücher und Servietten, steigt auf einen Stuhl, um an das geschliffene Bowle-Service im obersten Fach ihres Büfetts heranzukommen, und untersucht mit kundiger Zunge, ob die Hirschhörnchen, die ihre Zweitälteste in den letzten Tagen zu Hunderten gebacken hat, ihr und ihrem Haus Ehre machen.

    Die Hirschhörnchen sind perfekt, aber während Resi zwischen Zungenspitze und Gaumen prüft, ob Hefe oder Backpulver im Teig verarbeitet wurde, fährt ihr der Schreck in die Glieder, weil sie vergessen hat, dass sie bis zur Kommunion nüchtern hätte bleiben müssen, und nun geht sie verwirrt und bedrückt wieder ins Schlafzimmer zu Hodl, um sich von ihm beruhigen zu lassen wie in allen verwirrenden Momenten ihres Lebens.

    Und da hat Maria auch schon die Schlafzimmertür hinter ihrer Großmutter abgeschlossen. Hodl muss lachen, es hat doch etwas, einen Tag lang mit sich geschehen zu lassen, was die anderen wollen. Mit seinem gütigen Herzen hat er die Welt und ihre Bewohner sehr lieb, in seinem ganzen Leben ist ihm noch kein Mensch begegnet, der ihm vorsätzlich schaden wollte. Ja, solche Glücklichen gibt es tatsächlich …

    2

    Genau zur gleichen Zeit hält ein älterer Mercedes auf dem Feldweg am südlichen Rand des ehemaligen k. und k. Laxenburger Schlossparks, zwanzig Kilometer außerhalb Wiens. Ein junger Mann steigt aus und blickt umher. Nichts regt sich auf der grünen Ebene, die sich kilometerweit bis Mödling dehnt, nichts regt sich unter den dichten Eichenkronen des Parks, der seit 1918 vor sich hin verwildert. Der Mann geht auf einen kleinen Pavillon mit kunstvollen Barockverzierungen zu, dessen rosafarbener Putz aber an etlichen Stellen abgeplatzt ist, wie von Aussatz befallen sieht er aus. Der Mann fasst durch ein zerbrochenes Fenster, und als der Drehriegel nachgibt, klettert er hinein. Ganz kurz winkt seine Hand heraus. Die zweite Autotür fliegt auf, fünf junge Leute springen heraus und überkugeln sich dabei fast. Dann heben sie zwei mannslange Segeltuchpakete aus dem Wagen.

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