Trauernde Jugendliche in der Familie
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Über dieses E-Book
Stephanie Witt-Loers
Stephanie Witt-Loers ist Trauerbegleiterin, Kinder- und Familientrauerbegleiterin, Heilpraktikerin Psychotherapie, Dozentin, Buchautorin, Leiterin von Kindertrauergruppen sowie Trauerbegleiterin auch im Auftrag verschiedener Jugendämter und Kinderheime. Sie leitet das Institut Dellanima in Bergisch Gladbach, ist Initiatorin und Leiterin des Projekts „Leben mit dem Tod“, bietet Fortbildungen an, hält Vorträge, berät und begleitet Schulen und Kitas in akuten Krisenfällen oder präventiv. In ihrer Praxis bietet sie Einzel- und Gruppentrauerbegleitung für Menschen jeden Alters an.
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Buchvorschau
Trauernde Jugendliche in der Familie - Stephanie Witt-Loers
Jugendliche trauern – aber wie?
Zunächst möchte ich mich dem Erleben trauernder Jugendlicher annähern, indem ich den Fragen nachgehe: »Wie wirkt sich die Entwicklungsphase der Pubertät auf die Trauer aus?«, »Wem können Jugendliche ihre Trauer zeigen?«, »Welche Ausdrucksmöglichkeiten finden Jugendliche für sich?« und »Was wünschen sich Jugendliche in ihrer Trauer und was nicht?« Die Antworten, die in diesem Kapitel aufgezeigt werden und die sich allgemein auf das Trauern Jugendlicher beziehen, können Sie dann im Hinblick auf Ihre persönliche Lebenssituation und die des trauernden Jugendlichen ergänzen.
Jugendliche trauern
Jugendliche können nicht von den vielfältigen Auswirkungen, die durch den Tod einer nahestehenden Person entstehen, ferngehalten werden. Für Kinder und Jugendliche jeden Alters ist der Tod eines nahestehenden Menschen ein nicht nur emotional folgenschweres Ereignis. Jugendliche erleben nach dem Verlust zum einen die Veränderungen ihres eigenen Empfindens. Sie nehmen zum anderen darüber hinaus psychische Reaktionen (Trauer, Angst, Verzweiflung, Aggression) und veränderte Verhaltensweisen von Bezugspersonen (zum Beispiel den Verlust an Zuwendung) sensibel wahr und spüren zusätzliche Belastungen (wie Trennungen, einen Umzug, Hobbys, die aufgegeben werden müssen) und Veränderungen (wie die Auflösung verlässlicher Strukturen oder das Zerbrechen familiärer Zukunftsentwürfe) im gewohnten Alltag (zum Beispiel bei der täglichen Versorgung) oft sehr schmerzlich. Die Situation verlangt von allen Familienmitgliedern, das heißt auch von den Jugendlichen, auf vielen Ebenen große Anpassungsleistungen an die neue Lebenssituation. Dieser Prozess ist gerade für junge Menschen enorm anstrengend.
Trauer vor dem Hintergrund der Pubertät
Gerade die sensible Entwicklungsphase der Pubertät macht es Jugendlichen schwer, ihren Weg und einen Ausdruck für ihre Trauer zu finden. Jugendliche drücken ihre Trauer oft anders aus, als Erwachsene es erwarten oder vermuten. Manche Jugendliche verhalten sich in ihrer Trauer ihrer Entwicklung entsprechend und grenzen sich von Bezugspersonen ab. Sie wehren sich gegen Annäherung, lehnen Zuwendung ab und greifen Ansichten ihrer Bezugspersonen an. Sie suchen nach individuellen Ausdrucksformen und möchten keine Verhaltensvorschriften von Erwachsenen. Es ist möglich, dass Jugendliche nach dem Tod eines nahen Menschen keine oder wenig Emotionen zeigen, obwohl sie trauern. Sie wirken »cool«, unnahbar und tun so, als sei nichts geschehen. »Cool zu bleiben« ist nach außen hin zu diesem Zeitpunkt häufig zunächst die einzige Strategie, mit intensiven Gefühlen umzugehen. Andere Jugendliche werden von extremen Gefühlen überwältigt. Zudem erleben Jugendliche, wie auch Erwachsene, starke Stimmungsschwankungen sowie widersprüchliche und intensive Gefühle in der Trauer, die zusätzlich zu den normalen Entwicklungsprozessen und Stimmungen der Pubertät zu Ängsten, Verwirrung und Aggressionen führen können.
Allein auf Grund ihrer Entwicklung befassen Jugendliche sich mit existenziellen Fragen des Lebens: Fragen nach Leben, Sterben, Tod und Lebenssinn. Durch den Tod eines nahestehenden Menschen bekommt diese Auseinandersetzung noch einmal mehr Gewicht und sorgt zugleich für Verunsicherung auf der Suche nach Antworten. Frühere Lösungen werden durch den erlebten Tod plötzlich sinnlos. Mit dem Tod und dadurch mit der eigenen Vergänglichkeit konfrontiert, wird die Sinnhaftigkeit des Lebens und vieles andere hinterfragt. Vor dem Hintergrund der Verlusterfahrung eigene tragfähige Antworten zu finden und sich auf neue Erfahrungen einzulassen, kann für Jugendliche eine große Herausforderung sein. Dementsprechend kann ein Verlust bei Jugendlichen eine tiefe Sinn- oder Identitätskrise bewirken sowie autodestruktive Verhaltensweisen oder Suizidgedanken verstärken. Mit seinen gewaltigen Auswirkungen auf die Seele, den Körper und oft auf den Lebensalltag löst der Tod bei Jugendlichen starke Unsicherheit und den Verlust von Selbstvertrauen aus. Damit wird die Suche nach der eigenen Identität, nach Lebenszielen und Werten erschwert. Es fällt schwer, an eine persönliche Zukunft zu glauben, wenn der Tod so schnell alles zerstören kann. Jugendlichen fehlt nach dem Erleben eines schweren Verlusts häufig der Mut, sich auf neue Erfahrungen und Beziehungen, auf Anforderungen und Veränderungen der persönlichen Entwicklung sowie innerhalb und außerhalb der Familie einzulassen. Sie brauchen in ihrer sensiblen Entwicklungsphase viel Zuspruch, um eigene Lebensperspektiven zu entwickeln, eine neue innere Stabilität und Sicherheit zu finden und das Erlebte in die eigene Lebensbiografie zu integrieren.
Mögliche Trauerreaktionen
Der Tod eines geliebten Menschen wirkt sich auf unser ganzes Sein aus. Die Erfahrung, dass dieser Mensch endgültig nicht wiederkommt, wird als grundlegender Einschnitt im Leben jedes Menschen erlebt. Sie überflutet uns mit intensiven, oft bisher nicht gekannten Gefühlen, Gedanken und Fragen. Lebensplanungen und Gewohnheiten müssen aufgegeben, vieles muss neu geordnet werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob wir erwachsen oder jugendlich sind. Viele Trauernde kommen an ihre physischen und psychischen Grenzen und wissen manchmal nicht mehr, ob sie überhaupt noch genügend Kraft haben, mit all den Veränderungen, die in ihr Leben einbrechen, zurechtzukommen.
Körperliche Reaktionen
Nicht nur die Seele reagiert auf einen schweren Verlust. Auch der Körper antwortet darauf. Kopf- oder Bauchschmerzen, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Erschöpfung, Übelkeit oder ein anfälliges Immunsystem können Reaktionen auf den Tod eines nahestehenden Menschen sein.
Gefühle und andere Reaktionen
Trauer hat sehr viele unterschiedliche Gesichter. Menschen brechen in ihrer Trauer zusammen, weinen, schreien, sind traurig und verzweifelt. Sehr intensive, wechselnde und widersprüchliche Gefühle gehören zum Trauerprozess. Trauernde erleben Gefühle von Haltlosigkeit, als ob der Boden unter den Füßen weggezogen würde. Die Reaktionen auf das Schicksal können verwirrend sein. Wut, Aggression, Angst, Albernheit, Lachen, Hass und Schuldgedanken können ebenso dazu gehören wie Schock, Panik, permanente Verdrängung, Niedergeschlagenheit, Ratlosigkeit, Scham, Leere, Enttäuschung, Hilflosigkeit, Schmerz oder auch Gefühle wie Dankbarkeit, Freude, Liebe, Erleichterung. Sätze, die ich in diesem Zusammenhang immer wieder höre, sind: »Ich kenne mich selbst gar nicht wieder«, »Es macht mir Angst, so extreme Gefühle zu haben.« Gewohntes und Vertrautes ist weggebrochen. Vieles zeigt sich plötzlich aus einem anderen Blickwinkel und erschüttert das Selbst- und Weltbild bis ins Tiefste. Selbstsicherheit und das Vertrauen in das Gute, das Positive in der Welt sind häufig verloren. Weil sich durch den Tod so vieles geändert hat, entstehen oft Gefühle von Überforderung und Resignation. Trauernde ziehen sich manchmal aus ihrem sozialen Umfeld zurück, weisen Freunde ab oder geben Hobbys und Lebensträume auf.
Trauernde Jugendliche haben ebenso wie trauernde Erwachsene manchmal verwirrende Wahrnehmungen. Sie glauben, den Verstorbenen gesehen, gehört oder gespürt zu haben. Trauernde fürchten dann, dass sie verrückt würden, weil sie nicht wissen, dass dies normale Reaktionen auf einen Verlust sind. Nicht immer haben Jugendliche den Mut, über verwirrende Erlebnisse oder erschreckende Veränderungen, die sie an sich feststellen, zu sprechen.
Hinweis: Informieren Sie trauernde Jugendliche darüber, dass es körperliche und seelische Trauerreaktionen gibt, die zum Trauerprozess gehören.
Träume
Intensive Träume können eine Reaktion auf einen schweren Verlust sein. Schreckliche oder schöne, tröstliche Träume können auftreten. Träume können wichtige Hinweise für die Trauerarbeit geben.
Hinweis: Fragen Sie Jugendliche nach ihren Träumen. Weisen Sie darauf hin, dass Träume im Zusammenhang mit dem Verstorbenen Ausdruck des Trauerprozesses sind. Es kann eine wertvolle Auskunft sein, dass das Aufschreiben der Träume entlastend und klärend wirken kann.
Fragen
Trauernde Menschen befassen sich mit vielen Fragen und sind auf der Suche nach Antworten. Fragen zum Sinn des eigenen Lebens, zum Ereignis, zu eigener oder fremder Schuld am Geschehen beschäftigen den trauernden Menschen. Viele dieser Fragen können sehr quälend sein und belastende Bilder und Fantasien auslösen. Jugendliche und Erwachsene fragen sich: »Warum gerade er?«, »Warum schon jetzt?«, »Hätte ich das nicht verhindern können?«, »Haben die Ärzte auch alles getan?«, »Warum muss ich das erleben?«, »Wie soll ich je wieder glücklich sein?«, »Was hat mein Leben noch für einen Sinn?« Lebensfreude, Lebenssinn und manchmal auch der Lebenswille gehen durch den Tod eines nahestehenden Menschen verloren. Es erscheint unmöglich, jemals wieder ein erfülltes Leben führen zu können, weil Lebensmut und Perspektiven fehlen.
Trauer verändert das Verständnis, das wir von uns selbst, von unserer Umwelt, gegenüber bestimmten Werten, Normen und Lebensentwürfen hatten. Vieles wird hinterfragt und muss neu definiert werden. Das kostet Kraft und braucht Zeit. Aber: Trauer ermöglicht ebenso, zu einem neuen Selbstverständnis und Lebenskonzept zu finden.
Hinweise: Versuchen Sie nicht, Jugendlichen Antworten auf Fragen zu geben, auf die es keine sachliche Antwort geben kann. Lassen Sie sie ihre eigenen Antworten finden, die sie in ihrem Kummer trösten. Akzeptieren Sie, dass wir alle mit offenen Fragen leben müssen. Bieten Sie eher Halt durch Ihre Anwesenheit, Nähe und Ehrlichkeit. Es tut gut, Anerkennung des Leids zu erfahren. Bestätigen Sie deshalb, dass es schlimm ist, was dem Jugendlichen zugestoßen ist. So hat er das Gefühl, in seinem Kummer ernst genommen und verstanden zu werden.
Jugendliche erwarten meist keine fertigen Antworten und Lösungen. Sie sind daran interessiert, ihre persönliche Weltsicht zu entwickeln. Tauschen Sie sich deshalb mit Jugendlichen zu Warum-Fragen oder Vorstellungen, was nach dem Tod sein wird, aus. Suchen Sie nach gemeinsamen Antworten und erlauben Sie sich unterschiedliche Antworten auf die gleichen Fragen. Sich aus dieser Haltung heraus auf Augenhöhe zu begegnen, verbindet, schafft Vertrauen und ist eine gute Basis für die weitere Beziehung zueinander.
Existenzfragen
Sorgen um die eigene Existenz oder die Angehöriger können Trauernde zusätzlich zum Schmerz des Verlusts belasten. Jugendliche fühlen sich häufig existenziell bedroht und orientierungslos. Sie fragen sich: »Wer wird jetzt den Lebensunterhalt verdienen?«, »Was ist, wenn Mama jetzt auch krank wird?«, »Wann und wie sterbe ich selbst?«, »Wie können wir unseren Lebensstandard erhalten?«, »Kann ich meine Schule, meine Ausbildung oder mein Studium unter diesen Umständen noch beenden?«, »Muss ich jetzt meinen jüngeren Bruder versorgen?«, »Müssen wir umziehen?«
Hinweis: Entlasten Sie den Jugendlichen, indem Sie ihn auf mögliche Unsicherheiten ansprechen und gemeinsam mit ihm realisierbare Lösungen in den Blick nehmen. Informieren Sie sich zu Fragen, auf die es eine sachliche Antwort gibt.
Schuld
Schuldgedanken tauchen nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen häufig auf. Trauernde beschäftigen sich mit Gedanken, die sie glauben machen, sie hätten nicht für genug Sicherheit gesorgt und durch Versäumnisse oder eigenes Verhalten zum Tod beigetragen. Sie stellen sich Fragen wie: »Hätte ich den Tod noch verhindern können?«, »Warum habe ich nicht noch …?«, »Warum habe ich nicht früher bemerkt, dass …?«, »Wären wir nicht dorthin gefahren, wäre der Unfall nicht passiert …!« Gedanken von Schuld entstehen vielfach aus dem Bedürfnis, den Tod zu erklären und Ursachen für ihn zu finden. Sie tauchen oft da auf, wo Todesumstände rätselhaft sind. Schuld kann auch eine Reaktion auf die durch den Tod ausgelöste Ohnmacht sein. Trauernde geben sich in derartigen Fällen entweder selbst die Schuld am Geschehen oder schreiben anderen die Schuld am Tod des nahestehenden Menschen zu (zum Beispiel Ärzten, Familienangehörigen, Menschen, die zum Todeszeitpunkt anwesend waren). Schreckliche Ereignisse werden so erklärbarer. Das Unfassbare soll durch die Zuschreibung einer Ursache verständlicher und erträglicher gemacht werden. Ausgelöst werden können Schuldgedanken auch, weil man selbst noch lebt: »Warum lebe ich noch und er ist tot?«, »Darf ich mein Leben noch leben und genießen, obwohl sie tot ist?« Dann ist es schwer, wieder zu eigener Lebensfreude und Lebenssinn zu finden. Gerade im Zusammenhang mit Suizid tauchen Schuldgedanken häufig auf. Sie sind meist verbunden mit Gefühlen von Scham. Für Betroffene, die sich schuldig fühlten, sei es wichtig, so der Trauerforscher W. Worden, sich mit sich selbst auszusöhnen. Dabei spiele es keine Rolle, ob die Schuld real oder irreal sei (2010, S.