Rabenkinder: Wenn aus Abnabeln Abwenden wird
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Über dieses E-Book
In der Regel nabelt sich ein Kind von seinen Eltern ab und gründet irgendwann eine eigene Familie. Aus Eltern werden Großeltern. Eine neue Generation betritt die Bühne des Familienlebens. Großeltern, Eltern und Kinder leben in Synergie miteinander. – So der Plan. Doch leider geht es oftmals nicht nach diesem Plan, denn das Leben ist facettenreich und keinesfalls ein Wunschkonzert.
Was ist, wenn der Sohn oder die Tochter sich nicht nur abnabelt, sondern, aus welchem Grund auch immer, abwendet?
Wenn plötzlich alle Kontakte gekappt werden? Wenn das Kind aus der Reihe tanzt?
"Warum geschieht mir das? – Wieso mein Kind? – Was habe ich falsch gemacht?" und weitere Fragen schwirren dann im Kopf der Verlassenen umher. Das Buch "Rabenkinder" beschäftigt sich genau mit diesem Thema: Verlassen werden.
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Buchvorschau
Rabenkinder - Birgit Henriette Lutherer
Die Autorin
Birgit Henriette Lutherer
Rabenkinder
Wenn aus Abnabeln Abwenden wird
Gespräche mit Betroffenen
Über die Autorin:
Birgit Henriette Lutherer ist Dozentin für Paar- und Beziehungsthemen an den Paracelsus Schulen Düsseldorf, Tübingen und Mönchengladbach.
Sie arbeitet zusammen mit ihrem Ehemann in eigener Praxis in Mönchengladbach.
www.ipb-Lutherer.de
Wichtiger Hinweis
Die in diesem Buch vorgestellten Informationen sind sorgfältig und gewissenhaft recherchiert und wurden nach bestem Wissen und Gewissen weitergegeben. Dennoch übernimmt die Autorin keinerlei Haftung für Schäden irgendeiner Art, die direkt oder indirekt aus der Anwendung oder Verwertung der Angaben in diesem Buch entstehen. Insbesondere kann das Lesen dieses Buches weder Arztbesuch noch Psychotherapie ersetzen.
Vorwort
Wir lieben unsere Kinder. Sie sind ein Geschenk. Kinder bereichern unser Leben. Wir sehen sie aufwachsen – begleiten sie ins Erwachsen-Werden. Und dann?
In der Regel nabelt sich ein Kind von seinen Eltern ab und gründet irgendwann eine eigene Familie. Aus Eltern werden Großeltern. Eine neue Generation betritt die Bühne des Familienlebens. Großeltern, Eltern und Kinder leben in Synergie miteinander. – So der Plan. Doch leider geht es oftmals nicht nach diesem Plan, denn das Leben ist facettenreich und keinesfalls ein Wunschkonzert.
Was ist, wenn der Sohn oder die Tochter sich nicht nur abnabelt, sondern, aus welchem Grund auch immer, abwendet?
Wenn plötzlich alle Kontakte gekappt werden? Wenn das Kind aus der Reihe tanzt?
„Warum geschieht mir das? – Wieso mein Kind? – Was habe ich falsch gemacht? und weitere Fragen schwirren dann im Kopf der Verlassenen umher. Das Buch „Rabenkinder
beschäftigt sich genau mit diesem Thema: Verlassen werden.
Es deckt auf, macht Zusammenhänge sichtbar und gibt Erklärungsansätze.
Es geht Fragen nach: Wie kommt es immer wieder dazu, dass Kinder sich plötzlich von ihren Eltern abwenden, sobald sie erwachsen sind? Was passiert da? Was ist da los?
Gerade noch war die Tochter oder der Sohn ein ganz umgängliches, nettes Kind. Selbst in der „Sturmphase" der Pubertät war der Nachwuchs einigermaßen erreichbar für die Eltern.
Doch plötzlich ist alles anders: Kaum erwachsen geworden, werden alle Ver-Bindungen abgebrochen, jeder Kontakt wird unterbunden. Es herrscht Sendepause. Gespräche werden verweigert, erst recht eine Aussprache. Nicht selten spricht das eigene Kind sogar ein rigoroses Kontaktverbot aus.
Die Eltern sind von jetzt auf gleich getrennt vom Kind. Wie bei jeder Trennung bildet sich ein Vakuum. Eine Leere, die nicht auszuhalten ist. Vor allem die Mütter leiden extrem darunter.
Bei ihnen bleibt ein immenser Schmerz und große Fassungslosigkeit zurück. Sie wissen meist nicht, was geschehen ist. Sie sind verzweifelt.
Leider handelt es sich hierbei nicht um wenige Einzelfälle.
In meiner Praxis als Beziehungsberaterin begegnen mir diese Fälle häufig. Mütter oder nahestehende, überwiegend weibliche Betroffene melden sich bei mir, weil sie mit der emotional stark belastenden Situation überfordert sind und der Schmerz sie überwältigt.
Quer durch alle Gesellschaftsschichten ziehen sich diese Familiengeschichten, in denen ein Kontaktabbruch Thema ist. Auch betrifft dies keine spezielle Familienkonstellation. Einige Betroffene sind geschieden, andere sind zum Teil sehr lange verheiratet, die einen sind verwitwet, die anderen von jeher alleinerziehend.
Die familiäre und soziale Situation sowie der Beziehungsstatus der verlassenen Mütter sind so unterschiedlich wie das Leben selbst.
Alle Frauen haben aber eins gemeinsam: Ihnen wurde von ihrem Kind „das Herz gebrochen".
Alle Frauen leiden. Die eine leidet still, die andere reagiert wütend. Alle haben das Gefühl, als hätte ihnen jemand das Herz herausgerissen oder sie wären hinterrücks erdolcht worden.
Einige betroffene Frauen haben sich bereiterklärt, über ihren Schmerz und ihre Schmach zu berichten. Allesamt sind sie liebevolle Mütter und Frauen, die alles für ihre Kinder getan haben.
Die Mütter suchen nach Antworten. Antworten auf die Fragen: „Warum? Warum ich? Was habe ich nur falsch gemacht?"
Häufig denken sie, sie seien schuld. Sie schämen sich und trauen sich nicht, darüber zu sprechen.
Es gilt als absolutes Tabu, dieses Thema. Schließlich, so glaubt jede der verlassenen Mütter, passieren diese Geschichten in anderen Familien - auf gar keinen Fall in der eigenen.
Das Geschehene wird geheim gehalten. Es wird vertuscht.
Wenn es geschieht erfährt die Außenwelt wenig oder nichts davon.
Wie ein Vergehen, eine Missetat wird es von den Verlassenen versteckt.
Vom eigenen Kind verstoßen zu werden, ist ein absolutes No-Go in unserer Gesellschaft. Gäbe es einen Familien-Knigge mit einer Rankingliste der No-Gos, würde dieses Verhalten des eigenen Kindes wohl auf Platz eins rangieren.
Die Frage, was in einer Beziehung zwischen Mutter und Kind geschieht, damit es zum Abbruch des Kontakts kommt, beschäftigte mich mit jedem weiteren Fall aufs Neue. Daher beschloss ich eines Tages dem Umstand nachzuspüren.
Als ich mit den Recherchen begann, meldeten sich sehr schnell viele Betroffene. Plötzlich fanden sich vermehrt Menschen, die mir von solchen Fällen, die sich im Freundeskreis, im weiteren Familienumfeld oder bei ihren Kollegen ereigneten, erzählten. Jeder schien jemanden zu kennen, der den Abbruch des Kontakts vom eigenen Kind erlebt oder ihn selbst vollzogen hat.
Insgesamt werden in diesem Buch fünf Fallstudien beschrieben, anhand derer Erklärungsansätze gegeben werden.
Es berichten Mütter, sowie ein Geschwisterkind, wie sie den schmerzlichen Abbruch erleben und wie das Verhältnis vorher war. Auch ein Sohn, der selbst den Kontakt zu seiner Mutter abbrach, berichtet aus seiner Perspektive und wie es soweit kommen konnte - also sozusagen aus seiner Sicht als Rabenkind.
Neben der Frage: „Wie konnte das geschehen?", suchen die Betroffenen Antworten darauf, wie sie mit der Situation umgehen sollen und was sie tun können, um diesen schier unerträglichen Trennungsschmerz zu überwinden.
An dieser Stelle ein Wort zu den Vätern, die nicht übergangen werden sollen: Sie waren auf mein Nachfragen hin nicht bereit, sich zu äußern. Sie leiden auch, jedoch oft, selbst für ihre Partnerin, nicht erkennbar. Oft fühlen sie sich außerstande, sich zu diesem Thema zu äußern. Sie verdrängen eher. Sie trauern auf ihre Weise: still und für sich.
Anhand der Fallstudien werden in diesem Buch entsprechende Erklärungsansätze aufgezeigt, die darlegen, was in der jeweiligen familiären Vorgeschichte relevant gewesen sein könnte, sodass die Situation schließlich im Kontaktabbruch gipfelte. Daraus ergeben sich mögliche Antworten auf die über allem schwebende Frage nach dem „Warum?. Es sollen dem Leser und Betroffenen, mit den Fallbeispielen Denkanregungen gegeben und mögliche Maßnahmen zur Bewältigung der schwierigen Situation angeboten werden. Es soll auch, vielleicht Trost zusprechend, gezeigt werden: „Du bist nicht allein!
.
Effektive Lösungen können und sollen hier nicht gegeben werden, da jede Familiensituation individuell ist. Oftmals ist eine Situation wegen fehlender Stellungnahme des Kontaktabbrechers auch nicht lösbar. Das Kind, welches sich abwendet, benennt für seine Eltern nicht klar erkennbar, warum kein Kontakt mehr gewünscht wird. Insofern ist immer nur eine einseitige Sicht und Deutung möglich – was sehr frustrierend für die Betroffenen sein kann.
Daher ist es meist, über die angebotene Hilfestellung des Buches hinaus, ratsam, in der schwierigen Situation professionelle Hilfe in Form einer Beziehungsberatung oder in schwerwiegenden Fällen einer Psychotherapie in Erwägung zu ziehen.
An dieser Stelle möchte ich mich bei den in diesem Buch beschriebenen Betroffenen für ihre freundliche Mitarbeit bedanken. Ihre Bereitschaft, über ihre sehr persönliche Situation zu berichten, ist keinesfalls selbstverständlich. Für jede und jeden von ihnen war es eine große Herausforderung, sich öffentlich zu bekennen. Nach gründlichem Abwägen entschlossen sie sich jedoch mitzuwirken.
Ihr Beweggrund war immer derselbe: Anderen Betroffenen zeigen, dass sie nicht alleine sind mit ihrer Geschichte. Zeigen, dass es keine Schande ist, wenn es in der eigenen Familie passiert. Und vielleicht auch ein bisschen Hoffnung geben und Anregung, wie man mit der Situation umgehen könnte.
Selbstverständlich wurden alle Namen geändert.
Mir ist bewusst, dass sich ähnliche oder fast identische Geschichten auch in anderen Familien, als den hier beschrieben, zutragen. Die Wahrscheinlichkeit ergibt sich alleine schon aus der Häufigkeit der Vorkommnisse.
Falls sich die eine oder andere Parallele zu einer Geschichte ergeben sollte, ist diese rein zufällig und unbeabsichtigt.
Helga und Tobias
Helga erzählt mir, dass sie schon seit einigen Wochen immer mal wieder zum Telefonhörer gegriffen hat, um mich anzurufen. Bei jedem Versuch stiegen aber Zweifel in ihr hoch. Das schlechte Gewissen plagte sie. Sie fragte sich, ob es richtig sei, ihre Geschichte öffentlich zu machen. Bisher hatte sie sich stets bemüht, kein falsches Licht auf ihre Familie und besonders auf ihre beiden Kinder fallen zu lassen. Schließlich gilt es den guten Ruf der Familie und damit verbunden den ihres Geschäfts zu erhalten.
Helga ist Mitte fünfzig. Sie und ihr Mann Dieter haben zwei Kinder. Tochter Dörte, die ältere der beiden, ist seit zwei Jahren verheiratet und hat eine Tochter. Tobias, der jüngere Sohn, hat vor fünf Jahren geheiratet und hat zwei Töchter. Er brach den Kontakt zu seiner Mutter vor etwa vier Jahren ab. Das war kurz vor der Geburt seiner ersten Tochter. Helga kennt Tobias´ Kinder nicht. Er verwehrt seiner Mutter den Kontakt zu ihnen.
Nach meinem ersten Telefongespräch mit Helga resümiere ich, was sie mir berichtet hat. Im Rahmen meiner Arbeit zu diesem Buch sind mir so einige dramatische Familiengeschichten erzählt worden. Alle sind unterschiedlich, haben aber eine Gemeinsamkeit: Am Ende steht eine verlassene Mutter, die tief erschüttert ist. Jeder dieser Berichte berührt sehr.
Helgas Erlebnis erweitert die ohnehin schon schmerzbeladenen Geschichten, um weitere Aspekte. Zum einen ist da der Kontaktabbruch von ihrem Sohn. Zum anderen belastet es sie sehr, dass sie ihre Enkelkinder nicht sehen darf. Tobias verbiete ihr, wie erwähnt, den Kontakt zu sich und seinen Kindern. Für Helga ist das eine große Strafe. Sie empfindet es so, als würde das Leben nicht weitergehen.
Ich bin mit Helga verabredet. Sie hatte mich gebeten, dass wir uns in einer Großstadt treffen, dort, wo sie keiner kennen kann. Absolute Anonymität ist ihr sehr wichtig. Die erlittene Schmach sei zu groß, wie Helga mir am Telefon mitteilte. In ihrer gesellschaftlichen Stellung könne sie sich das nicht leisten. Sie befürchtet, wenn herauskäme, dass sie ihre „schmutzige Wäsche" öffentlich wäscht, wäre sie gesellschaftlich ruiniert.
Als ich an unserem Treffpunkt ankomme, ist Helga bereits da und wartet auf mich. Sie hat für uns eine gemütliche Sofaecke ausgesucht, die sich in einer Nische am hinteren Ende eines Cafés befindet.
„Helga, am Telefon haben wir schon kurz darüber geredet, wie Ihre momentane Familiensituation aussieht. Können Sie bitte noch einmal zusammenfassen, was geschehen ist?"
„Nun ja, wie ich Ihnen schon sagte, mein Sohn Tobias hat jeglichen Kontakt zu mir abgebrochen. Ich darf meine Enkeltöchter nicht kennenlernen. Tobias hat mir verboten, es in irgendeiner Weise zu versuchen."
Kerzengerade sitzt sie auf dem Sofa.
Ich habe den Eindruck, als wäre Helga innerlich erstarrt. Die Geschehnisse haben sie tief getroffen. Mir fällt auf, während sie mir in knappen Worten über ihre Situation berichtet, dass sie nervös an ihrer Bluse herumzupft. Sie ist um Fassung bemüht.
„Helga, wie fühlen Sie sich, wenn Sie mir das so erzählen?"
„Fühlen? Wie soll ich mich fühlen? Traurig und verletzt natürlich. Aber ich versuche, meine Gefühle zu bekämpfen. Ich könnte es sonst nicht aushalten. Und außerdem darf ich Gefühle sonst auch nicht zeigen. Schon gar nicht negative. Dann reden die Leute erst recht und zerreißen sich den Mund. Wissen Sie, wenn man es bei uns im Ort zu etwas gebracht hat und eine gewisse Stellung innehat, dann darf man sich keine Gefühle leisten. Gefühle sind etwas für Loser, Gefühle zu zeigen wäre gleichbedeutend mit Schwäche. Nein, nein, das kann ich mir nicht leisten."
Helga echauffiert sich geradezu. Mir ist nicht ganz klar, ob es wegen meiner direkt gestellten Frage bezüglich ihrer Gefühle oder ob es vielmehr der Gedanke an ihr gesellschaftliches Umfeld ist. So oder so, für Helga ist es wohl besser, das Gespräch von diesem Thema wegzulenken. Ich möchte sie nicht unnötig in die Bredouille bringen.
„Sagen Sie, Helga, wie war Tobias als Kind?"
„Wie meinen Sie das? Wollen Sie wissen, ob Tobias Scherereien gemacht hat? Ob die Leute gesprochen haben?"
Helga schaut sich ängstlich um, als sie mich das fragt. Fast flüstert sie beim Sprechen. Sie scheint immer auf der Hut zu sein. Geradeso, als hätte sie etwas zu verbergen und Sorge, ertappt zu werden.
„Nein, Helga, ich denke da an grundlegende Dinge: War Tobias ein ruhiges, pflegeleichtes Kind? Oder war er vielleicht sehr lebhaft?"
„Ach so, Frau Lutherer, das meinen Sie."
Helga beruhigt sich. Ihre zuvor deutlich spürbare Anspannung lässt merklich nach. Es ist, als hätte es Entwarnung für sie gegeben.
„Also, mein Tobias war ein ganz entzückendes Kind. Schon bei seiner Geburt war er so hübsch. Die Schwestern auf der Entbindungsstation sagten immerzu: ´Das ist ein Kind zum Klauen´. Sie waren ganz hin und weg. Alle, die ihn sahen, waren sofort ganz vernarrt in ihn. Er hatte diesen ganz besonderen Charme. Ich kann Ihnen das gar nicht so richtig in Worte fassen. Am besten zeige ich Ihnen ein Foto."
Helga greift in ihre Handtasche und nimmt ihr Portemonnaie heraus. Sie klappt es auf und zeigt mir stolz eine Fotogalerie, die sich in der Innenseite befindet.
„Schauen Sie mal, das hier ist Dörte, unsere Erstgeborene. Und der hier, das ist mein Tobias. Ist der nicht süß?"
Helga strahlt über ihr ganzes Gesicht, als sie mir Tobias zeigt. Auf dem Foto ist ihr Sohn ungefähr drei Jahre alt - ein netter kleiner Kerl mit blonden Haaren, rosigen Pausbacken und freundlichem Lachen.
„Ja, Ihr Tobias ist ein hübsches Kind", bestätige ich Helga.
„Nicht wahr? Er sieht aus wie ein kleiner Engel."
„Benahm sich Tobias denn als Kind auch wie ein kleiner Engel?"
„Das kann ich leider nicht behaupten. Ich will damit nicht sagen, dass er böse war oder so. Es war nicht einfach mit ihm. Nichts war vor