Kleine Poetik der Schublade
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Über dieses E-Book
Von Goethe bis Musil nimmt der Essay von Christian Begemann Funktionen und Bedeutungsebenen dieses sehr speziellen Behältnisses in den Blick. Die Literatur des 19. Jahrhunderts und der frühen Moderne entfaltet nämlich eine regelrechte Poetik der Schublade, deren Inhalt etwa der Charakterisierung von literarischen Figuren dient. Aber in und aus ihnen entspringen auch Handlungen, wenn etwa Dinge, Aufzeichnungen oder Briefe zutage treten, die das Leben der Figuren einschneidend verändern. Mitunter werden ganze Geschichten aus Schubladen hervorgesponnen: Katastrophen, kleine und große, Liebesdesaster und Ehekrisen. Das spiegelt sich auch in der Konstruktion von Erzählungen wider, die als alte Blätter fingiert in Schubladen aufgefunden werden. Schubladen sind Räume des Gedächtnisses, damit aber auch Räume des Unbewussten. Neben längst vergessenem Plunder finden sich dort auch Objekte, in denen Erinnerung gespeichert ist, und die, oftmals gespenstisch und zerstörend, die Vergangenheit wiederkehren lassen. Dass hier Kräfte am Werk sind, die ungerufen auftreten und sich nicht steuern lassen, macht die spezielle Magie der Schublade aus. Schaut man genauer in sie hinein, werden Fragen eines kulturellen Imaginären aufgeworfen, das Risse im modernen Bewusstsein markiert.
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Buchvorschau
Kleine Poetik der Schublade - Christian Begemann
I
Warum Schubladen?
Ja, warum eigentlich? Schubladen gehören zu jenen unauffälligen und diskreten Alltagsdingen, über die man in aller Regel erst nachdenkt, wenn sie den Dienst verweigern, klemmen oder kaputtgehen. Sie sind zweckdienlich, drängen sich aber nicht auf, eher im Gegenteil. Oft verstecken sie sich in Schränken, immer aber unter Oberflächen, fallen also nicht groß ins Auge. Selten nimmt sich ein Designer ihrer an, zumal ihre Form wenig Gestaltungsspielräume lässt. Anders als Smartphones, coole Sneakers, schicke Handtaschen, Siebträger-Kaffeemaschinen oder gar Autos ziehen sie nur geringe affektive Energien auf sich. Schubladen sind einfach nur da. Der Literaturwissenschaftler, der beiläufig bemerkt, er beschäftige sich momentan mit Schubladen, erntet verwunderte Blicke. Warum gerade Schubladen? Die Antwort ist leicht und schwierig zugleich.
Befragt man den Duden online, so erhält man die technisch-nüchterne Auskunft, eine Schublade sei ein »herausziehbarer offener Kasten, bewegliches Fach […] in einem Schrank, einer Kommode o. Ä.« Das ist aber allenfalls die halbe Wahrheit. So sehr die alltägliche Haltung der Benutzerinnen und Benutzer zu ihren Schubladen von freundlicher Gleichgültigkeit gekennzeichnet ist, so sehr stellen diese im Bereich der Kultur- und Literaturgeschichte Imaginationsräume dar, Räume, die die Phantasie beflügeln – eine seltsame Diskrepanz. Einmal aufmerksam geworden, stellt man fest, dass eine nicht geringe Zahl von Bildern und eine Unzahl von Texten es mit Schubladen zu tun haben. Auch hier drängen sich Schubladen nicht dem ersten Blick auf, zeigen sich aber dem zweiten als wesentliche Elemente der Handlung, ja der Struktur von Texten – und um Texte soll es hier in erster Linie gehen. In einem erstaunlichen Variationsreichtum entwickeln sich Geschichten aus Schubladen und um sie herum. Vieles wird in Schubladen verstaut oder kommt zur Unzeit aus ihnen hervor – und oft sind das die Geschichten selbst. Und erneut stellt sich die Frage: Warum Schubladen? Eine Antwort darauf sucht dieser Essay. Zunächst aber sollen einige grundsätzlichere Dinge geklärt werden.
Woher kommen und wozu dienen Schubladen?
Die Schublade und den Schubladenschrank (›armarium‹) gab es bereits in der Antike, wie Adolf Feulner in seiner Kunstgeschichte des Möbels seit dem Altertum mitteilt (Feulner 1927, 26, 55). Man kennt sie von Reliefs, wie etwa der Abbildung des Verkaufsstands eines Messerhändlers aus der Galleria Lapidaria im Vatikan, oder aus Herculaneum, wo sich ein verkohlter zweitüriger Kasten mit Schublade erhalten hat. Insgesamt aber dürfte das Schubladenaufkommen gering gewesen sein, wie lange Jahrhunderte das Mobiliar überhaupt. Im alten China und Japan gab es gleichfalls Schränke mit Schubladen, vor allem für die Zwecke von Ärzten und Apothekern, Vorläufer des japanischen Tansu, der sich seit dem 17. Jahrhundert durchsetzt. Seit Spätmittelalter und früher Neuzeit finden sich auch in Europa Schränke mit mehreren Schubladen, Kommoden oder ›chests of drawers‹ – letztere seit 1599 auch im Wörterbuch belegt –, während gleichzeitig noch die Truhe »die Rolle des Universalmöbels« spielte, in deren Inneren sich Schreibfächer und »Lädlein« befinden konnten (ebd. 55) – wie sich überhaupt zwischen Truhen und Schubladen wechselseitige Einschlüsse zeigen. Kästen und Truhen können Schubladen einschließen, umgekehrt kann man in diesen Kästchen und Schatullen aufbewahren.
Ihren eigentlichen Siegeszug treten Schubladen zunächst wohl weniger in Privathaushalten an als in Sammlungen, Bibliotheken und Apotheken, wo sich spezielle Sammlungsmöbel entwickeln, wie beispielsweise der in den sog. Wunderkammern beliebte ›Kabinettschrank‹. Eine andere Weiterentwicklung der frühen Schubladenmöbel ist der seit dem 18. Jahrhundert sich verbreitende Schreibsekretär, der im hier verfolgten Zusammenhang eine zentrale Rolle spielen wird. Gegenüber dem späteren und nüchterneren Schreibtisch weist er über bzw. hinter der aufklappbaren oder herausziehbaren Schreibfläche Aufbauten auf, die zum Teil elaborierte Dekorelemente tragen können, wie etwa kleine Tempelfassaden mit Säulchen und Giebelfeldern. Überhaupt sind der gestalterischen Raffinesse keine Grenzen gesetzt. In zahllosen Variationen gibt es hier Ablagefächer, teils schwenkbare Schubladenelemente, Schublädchen und nicht zuletzt Geheimfächer, die sich in doppelten Böden oder Wänden oder hinter verkürzten Schubladen verbergen können. Die ›Universalisierung‹ des Prinzips Schublade belegen dann seit dem 19. Jahrhundert Registrierkassen (1879 in den USA erfunden), Kaffeemühlen oder Zündholzschachteln.
In der Gegenwart zeigt sich eine gegenläufige Tendenz: Mit der Digitalisierung erübrigen sich viele Schubladen bzw. Typen von Schubladen, beispielsweise in den Katalogsälen von Bibliotheken und Archiven, gelegentlich aber auch im Alltag. Zwar übernehmen digitale Ordnungssysteme mit ihren Ordnern, Unterordnern oder versteckten Dateien oftmals die Funktionen von Schubladen, deswegen sind sie aber noch lange keine – zumindest keine ›realen‹, sondern allenfalls metaphorische Schubladen. Solange wir in analogen Welten leben, wird es voraussichtlich auch künftig Schubladen geben, jedenfalls sofern wir es weiterhin mit materiellen ›Dingen‹ zu tun haben – und deren Ende ist nicht in Sicht. Denn die zunehmende Bedeutung von Schubladen in den vergangenen Jahrhunderten hängt auch mit der industriellen Warenproduktion zusammen. Man hat das 19. Jahrhundert das »Saeculum der Dinge« genannt (Böhme 2006, 17), weil sich die Produktion alltäglicher Waren entscheidend verbilligt und deren Menge entsprechend in die Höhe schnellt, bis es in der Gegenwart zu einem regelrecht beklemmenden Andrang von Dingen kommt. Und alles will verstaut werden: Mit der Zahl der, wenn nicht für jedermann, so doch für viele Menschen erschwinglichen Dinge steigt auch der Bedarf an ordnungsstiftenden Möbeln.
Ordnung und Ordnungen
Ordnung ist eine der hauptsächlichen Funktionen von Schubladen. Üblicherweise werden im geschützten Raum der Schublade Dinge aufbewahrt, dem Verfall entzogen und wiederauffindbar gehalten. Häufig sind es Dokumente, Wertsachen, Geld, Briefe, aber auch so ziemlich alles andere. Im Alltag gibt es daher spezialisierte Schubladen etwa für Besteck oder bestimmte Lebensmittel, für Socken oder T-Shirts, für Werkzeug, Schrauben oder Nägel. Ohne Schubladen würden sich diese Dinge im Raum zerstreuen oder in wüsten Konglomeraten anhäufen. Um dem vorzubeugen, gibt es mittlerweile Spezialistinnen, unter denen die japanische Ordnungsberaterin Marie Kondo die erfolgreichste ist, deren Bücher in 27 Sprachen übersetzt wurden, sich 7 Millionen Mal verkauft haben und auch als Manga vorliegen. Marie Kondo ist der Rettungsengel in der selbstverschuldeten Konsumhölle. Sie erklärt ihren Leserinnen und Lesern, wie sie mit Hilfe der »KonMari-Methode« durch Wegwerfen, Sortieren, Ordnen, Falten und Stauen aus einer messy person zu einem Menschen mit kalkulierbarem Chaos-Risiko werden. Eine rigorose Schubladenbewirtschaftung ist dabei ein unverzichtbares Hilfsmittel. Mit Hilfe von Magic Cleaning stellt sich eine zwar magische, aber eindeutige Beziehung zwischen aufgeräumter Wohnung und erfülltem Leben, zwischen Wohnung und Seele her. Immerhin kommt damit eine psychische Dimension der Schublade ins Blickfeld, die uns noch beschäftigen soll. Viele andere Autorinnen, darunter eine »Frau Ordnung«, und unzählige You Tube-Videos oder Artikel in Lifestyle- und Wohnmagazinen bedienen dasselbe Bedürfnis. Eine ganze Ordnungsindustrie hat sich hier etabliert. Es kann nicht ausbleiben, dass so viel Ordnungseuphorie auch den Ratschlag provoziert hat, beim Ausmisten mit Marie Kondos Büchern anzufangen.
Noch weiter geht das Ordnungsprojekt, wo Schubladen Teil, Faktor oder Abbildung kultureller Ordnungssysteme werden. Das ist oder genauer: war, wie bereits erwähnt, etwa in den Zettelkästen der Bibliotheken der Fall, in Apotheken oder systematischen Sammlungen, wie Gemmen- oder Münzkollektionen, vor allem aber in Naturaliensammlungen, in denen spezielle Schubladen in speziellen Möbeln in speziellen Räumen und speziellen Bauwerken stehen, dort Orte innerhalb einer Taxonomie markieren, in der Dinge zumeist als Exemplare eine Systemstelle bezeichnen. Hier sind Schubladen Container des kulturellen Wissens, und hier feiert die Ordnung ihre eigentliche Epiphanie.
Von hier aus beziehen Metaphern rund um die Schublade ihre pejorative Färbung, insbesondere die des Schubladendenkens, die auf eine recht lange Geschichte zurückblickt. Sie begegnet etwa bei Grillparzer, Börne, Balzac und vielen anderen und steht für ein starres kategorienfixiertes Denken. Es gibt mittlerweile eine dem Thema Vorurteil gewidmete Kleine Einführung in das Schubladendenken des Sozialpsychologen Jens Förster, der allerdings nirgends die Metapher selbst herleitet oder erläutert (Förster 2007). Deutlicher ist da Nietzsches Fröhliche Wissenschaft. Nietzsche spricht nämlich von der auch unter Gelehrten verbreiteten Manier von »Registratoren und Büreauschreibern jeder Art […], ein vielfältiges Material zu ordnen, in Schubfächer zu vertheilen« und »ein Problem […] damit für gelöst zu halten, dass sie es schematisirt haben« (Nietzsche 1999 b, 3, 584). Gottfried Keller zieht aus dieser Denkfigur unerwartete Konsequenzen. Sein Grüner