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Unbestimmt: Wie entscheidest du dich, wenn du alles sein kannst?
Unbestimmt: Wie entscheidest du dich, wenn du alles sein kannst?
Unbestimmt: Wie entscheidest du dich, wenn du alles sein kannst?
eBook325 Seiten4 Stunden

Unbestimmt: Wie entscheidest du dich, wenn du alles sein kannst?

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Über dieses E-Book

Wärst du lieber ein Mann oder eine Frau?

Das Apfelblütenfest steht an, die wichtigste Feier im Leben eines jungen Pan. Mit der finalen Wahl unseres Geschlechts überschreiten wir die Schwelle zum Erwachsensein und werden ein vollwertiges Mitglied unserer Gemeinschaft. Unsere Wahl öffnet uns nicht nur die Tore zur Welt außerhalb des Reservats, sondern sichert auch den Frieden zwischen Pan und Menschen.

Dieses Jahr sitze ich nicht auf der Bank und schaue bei den Entscheidungen zu, dieses Mal muss ich selbst auf die Bühne. Ich wünschte nur, ich wüsste, wie meine Antwort lauten wird. Ein Monat bleibt mir noch, um meine Wahl zu treffen. Aber wie soll ich in dreißig Tagen die Antwort finden, nach der ich achtzehn Jahre lang vergeblich gesucht habe?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum21. Okt. 2023
ISBN9783949880513
Unbestimmt: Wie entscheidest du dich, wenn du alles sein kannst?

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    Buchvorschau

    Unbestimmt - Lisa Dröttboom

    Content Notes

    Alkohol, Trunkenheit

    Angstzustände, Panikattacken (explizit)

    Blut

    Depression

    Dysphorie (explizit)

    Erbrechen

    Erwähnung von Genitalien

    Erwähnung von geschlechtsangleichenden Operationen

    Essstörungen und Mangelernährung (explizit)

    Gewalt

    Krankheit und Unwohlsein

    Medizinische Behandlung

    Misgendering

    Nadeln

    (Internalisierte) Nonbinary-Feindlichkeit und Nonbinary-Erasure

    Othering, Fremdenfeindlichkeit und fremdenfeindliche Gewalt (explizit)

    (internalisierte) Queer-Erasure

    Queerfeindlichkeit und queerfeindliche Gewalt (explizit)

    Schlafstörungen

    Soziale Ächtung

    In diesem Buch wird eine von der Autorin eigene Variante des Pronomens ser für das Volk der Pan verwendet. Neopronomen werden aber auch außerhalb fantastischer Romane genutzt. Neben den klassischen Pronomen sie/ihr und er/ihm ist im englischsprachigen Raum vor allem they/them für nonbinary Personen geläufig, im Schwedischen wird beispielsweise hen bevorzugt. Im deutschsprachigen Raum ist die Lage (noch) nicht ganz so übersichtlich. Hier findet sich eine Fülle an Neopronomen wie sier/siem, xier/xiem oder analog zum Englischen they/them das eingedeutschte dey/dem.

    Impressum

    Alle Rechte an den abgedruckten Geschichten liegen beim

    Art Skript Phantastik Verlag und den Autor*innen.

    Copyright © 2023 Art Skript Phantastik Verlag

    1. Auflage 2023

    Art Skript Phantastik Verlag | Salach

    Lektorat & Sensitivity Reading » Melanie Vogltanz

    lektoratvogltanz.wordpress.com

    Komplette Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

    www.artskriptphantastik.de/grits-media-service.html

    Druck » BookPress | www.bookpress.eu

    ISBN » 978-3-949880-01-8

    Auch als eBook erhältlich

    Der Verlag im Internet » www.artskriptphantastik.de

    Alle Privatpersonen und Handlungen sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

    Für Sonja

    Vorwort

    2018 saß ich auf dem PAN-Branchentreffen. In einer der Pausen erzählte mir Grit von einer Romanidee, die sie nicht losließ. Von einem Alienvolk, das das Geschlecht nach Belieben wechseln kann. An unserem Tisch entspann sich eine angeregte Diskussion darüber, ob wir auch wechseln würden, wenn wir die Chance hätten. Und die Antworten hätten unterschiedlicher nicht sein können. Von auf keinen Fall bis aber natürlich war alles dabei.

    Ich habe damals eifrig mitdiskutiert, wohlwissend, dass ich niemals einen Roman über Aliens schreiben könnte. Science Fiction und Aliens, das ist einfach nicht meine Welt.

    Aber in den darauffolgenden Tagen ließ mich die Idee nicht los, begleitete mich und wandelte sich immer mehr zu etwas, was ich schreiben würde. Denn ich wusste auf die Frage, ob ich wechseln wollen würde, nicht wirklich eine Antwort. Ausprobieren, ja. Aber würde ich mich im männlichen Körper wohler fühlen? Wahrscheinlich nicht. Was aber wäre, wenn ich von Anfang an die Wahl hätte? Würde ich dann überhaupt je den weiblichen Körper als angenehm empfinden? Wahrscheinlich nicht.

    Aus all diesen Fragen wurde eine Idee geboren. Als ich schließlich zaghaft verkündete, dass ich da gerade so ein Plotbunny verfolgen würde, kam von Grit nur ein: »Schick mir ein Exposé, wenn es spruchreif wird.«

    Also stürzte ich mich begeistert in die Recherchen. Heute möchte ich euch nur eine Frage stellen:

    Könntet ihr euch entscheiden?

    Kapitel 1

    Freitag, 29 Tage bis zum Apfelblütenfest

    Ein rascher Blick auf die Uhr verrät, dass mir nur noch Sekunden bleiben, um mich für die Unterrichtsstunde zu wappnen. Isabell grinst. »Sieh es positiv: Viel schlimmer als die Kinder aus der ersten Stunde können sie nicht sein.« Sie wackelt mit den Augenbrauen.

    Ich schneide eine Grimasse. »Warum genau mache ich das noch mal?« Nervös ist kein Ausdruck für das aufgeregte Kribbeln, das Besitz von mir ergriffen hat. Es fällt mir schwer, zumindest äußerlich den Eindruck von Ruhe zu bewahren.

    »Weil du ein Schatz bist und deine Lehrerin nicht hängen lässt.« Isabell haucht mir einen Kuss entgegen, bevor sie nach der Klinke greift. »Na komm, bringen wir es hinter uns.«

    Begleitet vom elektronischen Gong der Schulglocke betreten wir das Klassenzimmer. Die Kinder stehen in Grüppchen zusammen und unterhalten sich angeregt. Nur ein paar sitzen auf ihren Plätzen, malen, basteln Papierflieger oder spielen mit ihren Mobilgeräten. Der Gong beeindruckt niemanden.

    Das Chaos, das mir entgegenschwappt, überwältigt mich auch dieses Mal. Verunsichert lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen.

    Vor dem Spiegelboard steht ein untersetzter Mann, der vergeblich versucht, die Aufmerksamkeit der Klasse auf sich zu ziehen. Seine Stimme geht im allgemeinen Lärm gnadenlos unter. Das Namensschild auf seinem Pult verrät mir, dass es sich um den Klassenlehrer Herrn Senderhorst handelt.

    Als er uns bemerkt, entgleisen seine Züge für einen Moment und Panik schimmert in seinen Augen. Er fährt sich durch die ohnehin schon ramponierte Frisur, die in alle Richtungen absteht.

    Eine Welle des Mitleids schwappt durch meinen Körper. Mich überkommt angesichts der vor Energie überbrodelnden Klasse eine ähnliche Hilflosigkeit wie die, die ich von seinem Gesicht ablesen kann. Gefolgt von bodenlosem Entsetzen über diese Schule. Ich habe noch nie gesehen, dass Kinder so undiszipliniert sind, wenn sich eine Lehrkraft im Raum befindet.

    Isabell nimmt den Trubel gelassen. Ob sie so etwas noch aus der Zeit vor dem Reservat gewohnt ist? Während ich die Tür hinter mir ins Schloss ziehe, marschiert sie zu ihrem Kollegen. Sie diskutieren kurz, allerdings kann ich kein Wort verstehen. Als ich sehe, wie sich Isabell energisch zur Klasse dreht und ihre Zeigefinger in Richtung Mund bewegt, versuche ich mir noch die Ohren zuzuhalten, bin aber zu langsam.

    Ich habe Isabells Pfiff erst ein paar Mal in meinem Leben gehört und mir geschworen, ihr nie einen Grund zu geben, ihn meinetwegen einsetzen zu müssen. Ich weiß nicht, was damals mehr Eindruck hinterlassen hat: Der Pfiff oder die Erkenntnis, dass sich Menschen tatsächlich prügeln, weil sie nicht einer Meinung sind.

    Auch dieses Mal bohrt sich ihr gellender Pfiff in meine Gehirnwindungen und löscht meine Gedanken. Er zerschlägt den Lärm im Klassenzimmer mühelos. Die Kinder in der ersten Reihe schütteln benommen den Kopf. Die Gespräche sind jäh verstummt, die meisten Anwesenden versuchen verspätet, ihre Ohren zu schützen.

    In der einsetzenden Stille bemerken die Kinder, dass sie Gäste haben. Zwei Dutzend Augenpaare richten sich auf uns. Isabells Gesichtsausdruck ist hart und unnachgiebig. »Setzt ihr euch bitte auf eure Plätze, damit wir anfangen können?« Ihre Stimme ist unterkühlt und jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Das Bitte ist keine Option.

    Die Kinder wechseln irritierte Blicke, tuscheln aufgeregt miteinander, doch sie gehorchen. Keine halbe Minute später haben alle ihren Platz gefunden. Die Verwirrung ist groß genug, um die Ruhe im Raum zu halten. Basierend auf meiner heutigen Erfahrung mit menschlichen Klassen wird das nicht von Dauer sein.

    »Gut«, sagt Isabell. Ein schmales Lächeln erweicht ihre Züge. »Dann können wir ja beginnen.« Sie reibt zufrieden ihre Hände. »Kinder, wisst ihr, was ein Pan ist?«

    Zeigefinger schnellen in die Höhe. »Ein Alien«, ruft ein Junge in der hintersten Reihe feixend und bringt die anderen damit zum Lachen. Er überragt die anderen Kinder in der Klasse um einen Kopf und kippelt lässig auf seinem Stuhl. Wann immer er droht, nach hinten zu kippen, zieht er sich mit einem Finger wieder näher an den Tisch heran.

    »Tom, melden!«, ermahnt ihn Herr Senderhorst, woraufhin sein Schüler die Augen verdreht. »Und setz dich richtig hin!« Mit wachsendem Entsetzen beobachte ich, wie der Junge seinen Lehrer ignoriert.

    Isabell durchbohrt den Jungen mit einem tödlichen Blick. Tom nimmt die Herausforderung erst an, muss die Augen letztendlich jedoch niederschlagen. Mit missmutiger Miene lässt er sich nach vorne fallen und hängt nun halb auf dem Tisch, bleibt aber ruhig.

    Isabell mustert die Klasse eindringlich und warnend, bevor sie sich für ein Mädchen in der ersten Reihe entscheidet, das trotz Toms Eskapaden noch immer aufzeigt. »Ja, äh, Melanie?«, liest meine Lehrerin den Namen von dem rosa-bunten Schild auf dem Tisch ab.

    »Ein Pan ist ein Außerirdischer von einem anderen Planeten«, sagt das Mädchen mit heller Stimme. Ihre Augen leuchten aufgeregt. »Sie sind vor einiger Zeit auf der Erde gelandet und leben jetzt in Reservaten.«

    »Sehr gut«, lobt Isabell das Mädchen und zeigt erstmals die liebevolle Seite, die ich von ihr kenne. Die Kleine erntet bewundernde Blicke von ihren Sitznachbarn, was ihre Wangen in einem freudigen Rot färbt. »Weißt du denn auch, wie viele Reservate es gibt oder wann die Pan auf der Erde notlanden mussten?«

    Damit ist das Mädchen überfragt. Isabell lässt ihren Blick durch die Klasse schweifen. »Gut«, sagt sie und unterstreicht das Wort mit einem Nicken. Sie nimmt einen Stift und ruft das Schreibprogramm auf dem Spiegelboard auf. »Heute widmen wir uns den Pan.«

    Ich nutze die gespannte Stille und ziehe mich in eine Ecke des Zimmers zurück. Eingequetscht zwischen Tür und Waschbecken setze ich mich auf einen einsamen Stuhl. Die nächste halbe Stunde habe ich Zeit, die Klasse zu beobachten. Isabell ist ganz in ihrem Element. Die meisten Schülerinnen und Schüler diskutieren und rätseln voller Begeisterung mit, wann immer sie eine neue Frage zu den Pan stellt.

    Nur in der letzten Reihe entwickelt sich mehr und mehr ein Eigenleben, das auch den allgemeinen Geräuschpegel in die Höhe treibt. Tom und seine Freunde zeigen ein negatives Interesse an den Pan, stiften Unruhe und rufen beleidigende Kommentare. Die Disziplinarversuche von Herrn Senderhorst prallen wirkungslos an ihnen ab.

    Ich bin erschüttert. Im Reservat würde niemand daran denken, eine Lehrkraft so zu behandeln. Je länger ich mit Tom in diesem Raum festsitze, desto unwohler fühle ich mich. Auch Isabell wirkt zusehends von dem Verhalten genervt, konzentriert sich aber darauf, den anderen das Thema Switchen bei den Pan zu erklären.

    »Das sind doch alles Freaks! Wer kann sich denn nicht entscheiden, ob er Junge oder Mädchen sein will?« Toms lauter Einwurf lässt mich zusammenzucken. Seine Worte bohren sich wie ein Fausthieb in meinen Magen.

    Ja, wer kann das nicht?

    Ich beneide die Menschen dafür, dass sie ihr Geschlecht nicht wechseln können. Ich möchte die Fähigkeit nicht missen, aber diese Gabe zu haben, bringt auch die Qual der Wahl mit sich. Und nicht jedem fällt es leicht, sich für eine Seite zu entscheiden.

    Isabell legt den Stift zur Seite. Ihre Miene ist versteinert, doch in ihren Augen leuchtet Wut. »Junger Mann, es reicht mit den Kommentaren. Wenn du nicht vernünftig mitmachen willst, schreibe ich eine Mail an deine Eltern.«

    Tom sieht Isabell geringschätzig an. »Klar, ey. Als ob. Wofür denn?«

    Mir wird heiß und kalt. Am liebsten würde ich den Klassenraum verlassen, um dieser feindlichen Atmosphäre zu entkommen. Doch stattdessen sitze ich verkrampft auf meinem Stuhl und hoffe, dass die Sache nicht weiter eskaliert. Kein Wunder, dass Isabell mit Freuden die freie Stelle im Reservat angenommen hat und ihre alte Schule nicht vermisst. Wenn die Kinder dort nur annähernd so wie diese waren, wäre ich auch geflohen.

    »Schluss mit ey und Mann. Wir sind keine Buddys und ich erwarte, dass du dich vernünftig ausdrückst, wenn du mit mir redest«, fährt meine Lehrerin den Jungen an, ohne ihre Stimme zu heben. Ihr Ton ist scharf. »Und die Mail schreibe ich, weil du den Unterricht störst.«

    Toms Gesicht zeigt deutlich, dass er nicht an Isabells Drohung glaubt. Ich warte gespannt, doch für den Moment scheint sich der Junge nicht weiter mit ihr anlegen zu wollen. Zufrieden widmet sich Isabell wieder den restlichen Kindern und dem Board. Als wir uns den letzten zehn Minuten nähern, legt Isabell den Stift zur Seite und schaltet das Spiegelboard aus. Fast augenblicklich legt mein Herz den nächsten Gang ein. Jetzt kommt mein Part.

    »Damit sind wir schon fast am Ende unserer Stunde angekommen.« Ich höre vereinzelt enttäuschte Laute. »Vergesst nicht: Wenn ihr noch mehr über die Pan erfahren möchtet, dann schaut doch morgen am Tag der offenen Tür im Reservat vorbei. Und wenn ihr jetzt noch Fragen habt, dann raus damit«, sagt Isabell und kommt zu mir.

    Ich erhebe mich mit einem mulmigen Gefühl im Magen und trete in den Fokus der Klasse.

    »Das hier ist Gray und wie ihr euch vielleicht denken könnt, gehört Gray zu den Pan und nutzt das Pronomen ser. Und ser wird all eure Fragen beantworten.«

    Ein Raunen geht durch die Klasse. Zwei Dutzend Augenpaare starren mich überrascht an, als wäre ich aus dem Nichts erschienen. Dann schießen Hände in die Höhe. Die meisten Kinder sind ruhig, durchbohren mich mit ihren Blicken und versuchen mich zu hypnotisieren, damit sie ihre Frage zuerst stellen dürfen. Nur ein paar Ungeduldige lehnen sich über ihren Tisch und versuchen, mir mit dem ausgestreckten Finger in der Nase zu bohren. Einige fiepsen wie aufgeregte Meerschweinchen oder schnipsen.

    »Kinder, bitte. Gray wird euch alle drannehmen«, sagt Herr Senderhorst, doch seine Worte verklingen ungehört.

    Ich starre überwältigt auf die fleißig winkenden Hände, bevor ich tief Luft hole. »Äh, Melanie?«, frage ich und wende mich hoffnungsvoll dem Kind zu, das mir in der vergangenen Stunde positiv aufgefallen ist.

    Die Schülerin lächelt erfreut und lässt ihre Hand sinken. Als sie ihren Mund öffnet, um ihre Frage zu stellen, wird sie grob unterbrochen. »Ey, was passiert mit deinem Schwanz, wenn du ein Mädchen wirst?«, ruft Tom von hinten. Seine Freunde kichern.

    Ich tausche einen schnellen, hilfesuchenden Blick mit Isabell, die Tom scharf fixiert. Unsicher sehe ich das Mädchen vor mir an und versuche Tom zu ignorieren, obwohl ich mir unhöflich vorkomme. Mein Herz schlägt hastig, doch ich bemühe mich um ein freundliches Lächeln. »Was ist deine Frage?«

    Melanie braucht ein paar Sekunden, bevor sie sich neu sortiert hat. »Tut das Wechseln weh?«

    »Nein. Manchmal ist das Switchen etwas unangenehm, aber in der Regel merke ich davon nichts.« Ich wische mir die feucht gewordenen Handflächen an der Hose ab und kämpfe gegen meine zuckenden Mundwinkel an. »Ich … ich kann dabei sogar schlafen.«

    Die Kinder beginnen aufgeregt zu tuscheln. Ein paar Hände sinken auf den Tisch zurück, doch eine breite Masse wartet immer noch darauf, dass ich sie drannehme. Ich wähle den nächsten Kandidaten aus, dieses Mal einen Jungen.

    »Bist du gerade männlich oder weiblich?« Er sieht mich kritisch an.

    »Männlich«, sage ich und bemerke, wie sich prompt ein paar Hände heben.

    »Bist du dir sicher?«, fragt der Junge. »Du hast lange Haare.«

    Ich blinzele. Isabell neben mir versucht, ein Lachen zu unterdrücken.

    »Na ja, man kann doch auch als Junge lange Haare haben, oder?«, frage ich vorsichtig.

    Der Schüler sieht mich nachdenklich an, hat aber auf die Schnelle keine Antwort parat. Sein Sitznachbar nutzt den Moment und fragt aufgeregt: »Kannst du mal eben weiblich werden?«

    »Äh, nein.« Auch wenn Isabell diesen Punkt in den letzten dreißig Minuten behandelt hat, bemühe ich mich um eine Erklärung: »Veränderungen brauchen Zeit. Wenn ich switchen möchte, könnte ich frühestens morgen als Mädchen vor euch stehen.«

    »Was passiert mit deinem Schwanz, wenn du ein Mädchen wirst?«, fragt Tom noch einmal, nun offenkundig verärgert darüber, dass ich nicht auf ihn reagiere. Ich sehe ihn mit ausdrucksloser Miene an, versuche zu verstehen, warum er sich nicht an die Regeln halten kann. »Ey, bist du taub?«, fragt er mich, als ich ihm nicht antworte.

    »Melde dich, wenn du eine Antwort bekommen willst«, sagt Isabell kalt.

    Er schneidet eine Grimasse, sagt aber nichts mehr und funkelt sie böse an.

    Ich suche den nächsten Schüler aus. »Warum bist du nicht grün?«, fragt er mich mit kritischem Blick.

    Verwundert sehe ich ihn an. »Warum sollte ich grün sein?«

    »Na, weil du ein Alien bist. Die sind doch alle grün.«

    »Aber ich bin es nicht«, erwidere ich. »Und im Reservat ist keiner grün. Wir haben dieselbe Hautfarbe wie ihr.« Zumindest meine Generation. Den Älteren sieht man zum Teil noch an, wem wir uns früher angepasst hatten, bevor wir auf die Erde kamen. Ihre Haut ist robust wie Leder und versteckt zwischen ihren Haaren kann man noch die Ansätze von Hörnern erkennen.

    Der Junge runzelt die Stirn. »Dann bist du kein Alien«, sagt er, offenbar nicht willig, seine Argumentationskette zu überarbeiten.

    »Ich bin auf der Erde geboren worden. Macht mich das nicht zu einem Erdbewohner?«, frage ich zurück und bringe ihn nun völlig aus dem Konzept.

    Isabell neben mir kämpft sichtbar mit sich, beißt sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszulachen.

    Ich lächele nachsichtig und nehme das nächste Kind dran, während der Junge in eine mittelschwere Sinnkrise zu stürzen scheint.

    »Wie ist das, wenn du aufs Klo musst?«, fragt mich ein Mädchen. »Auf welche Toilette gehst du dann?«

    Wieder blinzele ich irritiert. Ich habe heute schon eine Menge komischer Fragen gehört, aber diese verwirrt mich zutiefst.

    Isabell tritt näher zu mir. »Die Menschen haben getrennte Toiletten für die jeweiligen Geschlechter«, flüstert sie mir zu.

    Ich hebe eine Augenbraue. »Warum?«

    Sie zuckt mit den Schultern. »Weiß ich auch nicht. Ich glaube, die Männer haben Angst, dass man ihnen was wegguckt.« Sie zwinkert mir zu und antwortet dem Mädchen an meiner Stelle. »Im Reservat gibt es Toiletten, die jeder benutzen kann. Da gibt es keine Klos für Jungen oder Mädchen.«

    Damit scheinen die Kinder nicht gerechnet zu haben. Das Tuscheln wird so laut, dass Isabell einschreiten muss, um der nächsten Frage Gehör zu verschaffen. Nur mit Mühe bekommen sich die Kinder wieder unter Kontrolle.

    »Hast du eine Freundin?« Das nächste Mädchen hat kurze Haare und einen frechen Ausdruck im Gesicht. Sie liegt halb auf ihrem Tisch, die Knie auf dem Stuhl, während sie mich mit großen Augen mustert.

    »Ja, natürlich«, sage ich. »Jeder von uns hat doch einen Freund, oder nicht?«

    Das Mädchen kichert. »Eine richtige Freundin, meine ich.« Ihre Erklärung lässt mich noch ratloser zurück.

    »Äh, Gray«, schaltet sich Isabell ein. »Ser quare a lalana, nan jed«, erklärt sie mir auf Jandara.

    Ich runzele die Stirn. Scham kriecht in meine Wangen. Wieso benutzen die Deutschen dasselbe Wort für Freund und Partner? Je mehr Fragen die Kinder stellen, desto mehr bereue ich es, für Torben eingesprungen zu sein. Wäre es nicht Isabell gewesen, die mich um Hilfe gebeten hätte …

    »Ich habe keine Freundin, nein«, antworte ich dem Mädchen, das noch immer gebannt an meinen Lippen hängt.

    Enttäuscht sinkt sie auf ihren Stuhl zurück. Die Zahl an eifrig in die Luft gereckten Händen ist stark gesunken.

    »Willst du denn auch später ein Junge sein?«, fragt mich ein etwas untersetzter Schüler und rückt seine Brille zurecht.

    »Ich habe mich noch nicht entschieden, was ich werden will«, gestehe ich, während ein Stich durch meine Brust fährt. Ich mag diese Frage nicht.

    »Warum?«, kommt sogleich die bohrende Nachfrage.

    Ich starre den Jungen an. In meinem Kopf schlägt ein kleiner Spielzeugaffe die Zimbeln aneinander. »Na ja«, sage ich langsam. »Wärst du gerne ein Mädchen?«

    Der Junge lacht und schüttelt den Kopf.

    Ich sehe seine Sitznachbarin Melanie an. »Wärst du gerne ein Junge?« Sie verneint ebenfalls, ein belustigtes Lächeln auf den Lippen.

    »Warum nicht?«, frage ich die beiden.

    Darauf weiß niemand eine Antwort. In der Klasse entsteht eine rege Diskussion und die letzten Minuten bis zum Klingeln verbringen wir damit, das Für und Wider jeder Seite durchzugehen. Eine Antwort finden wir nicht.

    Kapitel 2

    »Gott sei Dank, wir haben es endlich geschafft«, entfährt es Isabell, als wir nach der sechsten Stunde erlöst sind. Sie verschränkt ihre Finger über dem Kopf und streckt sich genüsslich, das Gesicht der Sonne zugewandt. »Ich hätte nicht gedacht, dass du dich so gut schlägst. Ich bewundere deine Geduld.«

    »Wieso?«, frage ich und beobachte die Kinder, die an uns vorbei in Richtung Bushaltestelle strömen. Ein paar der Fünftklässler, die wir heute besucht haben, winken mir im Vorbeigehen zu. Ich hebe meine Hand zum Abschied und lächele.

    »Ich weiß nicht, ob ich so offen und entspannt geblieben wäre, wenn die Schüler mir so intime Fragen gestellt hätten.«

    Ich zucke mit den Schultern. »Ich bin froh, wenn sie neugierig sind. Das hält sie vielleicht davon ab, Steine auf Amas Laden zu werfen oder Beleidigungen an die Mauern zu schmieren.«

    Isabell bedenkt mich mit einem mitleidigen Blick. »Deswegen machen wir diese Kampagne ja auch.« Sie legt eine Hand auf meine Schulter und zieht mich im Gehen kumpelhaft an sich. »Ich bin dir trotzdem dankbar, dass du so kurzfristig eingesprungen bist. Das hätte nicht jeder gemacht.«

    »Pan helfen, wenn sie können«, sage ich, auch wenn ich in diesem Fall lieber abgesagt hätte. Aber Isabell hat recht: Ich habe den Tag durchgestanden und entgegen meiner eigenen Einschätzung scheine ich mich nicht allzu schlecht angestellt zu haben. »Auch wenn ich zugeben muss, dass mich einige Fragen sehr verwirrt haben.« Ich denke an die unzähligen zu meinem Penis und das Gelächter, das auf meine Antworten folgte.

    Isabell lacht. »Das sind Kinder. Alles, was mit Sexualität zu tun hat, ist für die noch unglaublich witzig.« Sie scheint meine Gedanken zu erraten. »Aber du hast dich tapfer geschlagen.«

    »Jedenfalls weiß ich jetzt, dass ich nicht unterrichten möchte«, murmele ich, ergänze dann aber: »Jedenfalls nicht außerhalb des Reservats.« Dort würde es niemand wagen, sich wie Tom zu benehmen.

    Isabell gibt ein zustimmendes Geräusch von sich. »Meine beste Entscheidung war, die Stelle in Agana anzutreten. Im Vergleich zu dieser Horde Eichhörnchen auf Drogen seid ihr eine Herde lammfrommer Schafe.« Sie grinst mich frech an und tätschelt meinen Kopf.

    »Bäääh!«, mache ich und bringe sie damit erneut zum Lachen.

    Wir lösen uns aus dem Strom von Kindern und schlagen den Weg zum Parkplatz ein. Mein Blick bleibt an ein paar Jugendlichen hängen, die neben uns herlaufen. »Isabell, darf ich dich etwas fragen?«, will ich wissen, als wir im Auto sitzen. »Sind die Kinder an dieser Schule arm?«

    Isabell blinzelt irritiert. »Wie kommst du darauf?«

    Peinlich berührt zucke ich mit den Schultern. »Na ja, sie tragen alle kaputte Hosen.« Ein Großteil der Kinder, die ich heute gesehen habe, hatte mindestens einen Riss in der Hose. Bei vielen war der Stoff an den Knien sogar mehrere Zentimeter tief eingerissen und manche Hosen habe ich erst auf den zweiten Blick als solche identifizieren können, so zerfetzt war der Stoff.

    Zu meiner Überraschung lacht Isabell. Verwirrt sehe ich zu, wie sie sich immer mehr hineinsteigert und den Bauch halten muss, weil ihr die Zeit zum Luftholen fehlt. »Das«, versucht sie mir zu erklären, als ihr Lachanfall endlich verebbt. »Das ist ein Modetrend, Gray. Die Kinder finden das stylisch.«

    »Kaputte Hosen?« Ich verstehe die Menschen nicht. »Was finden sie an kaputten Hosen stylisch?«

    Isabell zuckt mit den Schultern. »Laut meinen Eltern war das bereits in den 10ern Trend. Damals sind auch alle so herumgelaufen.«

    »Verstehe ich nicht.«

    »Ich auch nicht.« Sie startet den Wagen, gibt aber noch kein Ziel ein. Forschend mustert sie mich. »Warst du noch nie außerhalb des Reservats?«

    Ich schüttele den Kopf. »Heute ist mein erstes Mal.«

    Ihre Augen weiten sich. »Wie kommt’s?«

    »Ich weiß nicht.« Ich zucke mit den Schultern. »Bis jetzt hatte ich keinen Grund, Agana zu verlassen. Das Reservat hat alles, was ich brauche.«

    Isabell schüttelt den Kopf. »Dann müssen wir feiern, dass deine Welt gerade ein bisschen größer geworden ist. Wie wäre es mit einem kurzen Abstecher in die Eisdiele? Ich schulde dir etwas für deine Hilfe.«

    Schnell schüttele ich den Kopf und denke an die Ausgeh-Erlaubnis, die in meiner Tasche steckt. »Ich darf das Reservat nur verlassen, um dir bei deiner Aufgabe in der Schule zu helfen«, erinnere ich sie. »Weitere Ausflüge sind nicht genehmigt.«

    Isabell zieht eine Schnute. »Ach komm schon, es ist kein großer Umweg. Es liegt quasi auf dem

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