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Der Schopf des Kairos: Geschichten über die Lebensringe
Der Schopf des Kairos: Geschichten über die Lebensringe
Der Schopf des Kairos: Geschichten über die Lebensringe
eBook168 Seiten2 Stunden

Der Schopf des Kairos: Geschichten über die Lebensringe

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Über dieses E-Book

Die besonderen Gelegenheiten sind Situationen in unserem Leben, bei denen wir uns entscheiden müssen, ob wir sie »beim Schopf packen« oder unwiederbringlich an uns vorüberziehen lassen. Die alten Griechen waren sich der Bedeutung dieser Situationen bewusst. Ihr Gott Kairos, ausgestattet mit einer mächtigen Stirnlocke auf einem ansonsten kahlen Kopf, erlaubte den Zugriff auf seinen Schopf nur in der unmittelbaren Konfrontation. Sobald Kairos vorbeigegangen war, verhinderte der kahle Hinterkopf ein verspätetes Zugreifen. Die Gelegenheit war vorüber.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum2. Aug. 2023
ISBN9783384000194
Der Schopf des Kairos: Geschichten über die Lebensringe
Autor

Ludwig Pieger

Ludwig Pieger, geb. 1953, entführt den Leser mit seinen Kurzgeschichten in die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die handelnden Menschen begreifen das Wandelbare im Leben und verlieren dabei nicht den Blick auf die eigenen Fehler. Die Geschichten erzählen von der Faszination, die uns diese Welt anbietet und über die Gefahr, dass wir diesen Zauber nicht erkennen und zerstören. Für den Weg von der Vergangenheit in die Zukunft die richtigen Worte zu finden, ist der Reiz dieser Erzählungen.

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    Buchvorschau

    Der Schopf des Kairos - Ludwig Pieger

    1

    DAS FATSCHENKINDL

    Die wunderschönen Kirchen meiner Heimatstadt können Orte sanfter Spiritualität sein, gleichgültig welche Gründe in diese mystischen Wohnstätten Gottes geführt haben. Angefangen von den beiden Türmen des Doms, die zum Wahrzeichen der Stadt geworden sind, bis zu dem barocken Meisterwerk der Gebrüder Asam, hatte in der Vergangenheit die Kurie mit einer Vielzahl von Bauwerken ihre gesellschaftliche und wirtschaftliche Macht dokumentiert. Häufig aber wird bei den Stadtführungen Von Kirche zu Kirche den Teilnehmern eine Perle kirchlicher Baukunst vorenthalten. Die bescheidene Vorderansicht verschweigt die innere Pracht. In dieser Kirche habe ich in meiner frühen Kindheit erfahren, dass die Wahrheit manchmal eine Alternative hat.

    »Der Sonntag gehört dem lieben Gott« ist der einzige Satz, der mir von meinem Taufpaten in Erinnerung geblieben ist. Ein hungriger Student, der mit unstillbarem Appetit die angenehm duftenden Kochtöpfe meiner Mutter plünderte. Seine aufrichtige oder gespielte Frömmigkeit führte nach einigen gemeinsamen Kirchenbesuchen dazu, dass ich den Wunsch äußerte, als Ministrant für den ›lieben Gott‹ zu arbeiten. Meine Mutter zog die notwendige häusliche Arbeit den sonntäglichen Kirchenbesuchen vor. Genervt von meinem Drängen und den frommen Sprüchen meines Taufpaten, rief sie in unserer Gemeindekirche an. Von dort wurde sie an die Marianische Kongregation verwiesen.

    Der zuständige Dekan zeigte sich von meiner ›Bewerbung‹ sehr erfreut. Aber eigentlich sei ich mit meinen acht Jahren zu jung, doch zusammen mit meinem drei Jahre älteren Bruder würde er mich in den gering besuchten Frühmessen einsetzen.

    Mein Bruder stimmte der Vereinbarung erst zu, als ihm unsere Mutter für jede gemeinsame Messe fünfzig Pfennig ›Langschläferentschädigung‹ versprach. Ende der Fünfzigerjahre war die Höhe der Entlohnung für einen El^ährigen fürstlich!

    Mein Bruder nahm mich einige Tage später an die Hand. Mütterliche Ermahnungen im Ohr, fuhren wir mit der Straßenbahn in die Innenstadt und suchten vergeblich nach unserer Kirche. Erst mit Hilfe einer freundlichen Passantin entdeckten wir inmitten einer Häuserzeile eine schlichte Fassade mit drei Eingangstüren. Enttäuscht suchte ich vergeblich nach mächtigen Kirchentürmen. Ein karges Wohnhaus für den lieben Gott, dachte ich bei mir.

    Wir betraten die Kirche und als sich hinter uns die Tür schloss, standen wir im Dunkeln. Wir befanden uns in der Unterkirche; einer niedrigen Halle, nahezu ohne natürliches Licht. Vor dem Altar standen brennende Kerzen. Unheimlich, hier wollte ich nicht ministrieren.

    Unmittelbar hinter den Eingangstüren führte zu beiden Seiten ein breiter, geschwungener Aufgang zur Oberkirche. Diese Treppen wurden für mich der Aufgang zum Himmelreich. Treppen, die ich auch in meinem Leben finden wollte.

    Mein Bruder zog mich die Stufen empor. Oben angekommen, blieb ich gebannt stehen. Ein gewaltiger, rechteckiger Saal voller Farben und Statuen öffnete meine kindliche Fantasie. Unzählige mächtige und bunte Rundbogenfenster nahmen das Tageslicht auf. Die Sonnenstrahlen warfen sich auf den goldenen Tabernakel. Im Mittelgang kniete der Mesner. Während er auf uns wartete, hatte er angefangen zu beten.

    Neben dem Altar war der Zugang zur Sakristei und führte in einen lang gezogenen Flur mit vielen Zimmertüren gegenüber der Eingangstür. Als Ministrant durfte ich nur die beiden vorderen Zimmer betreten, das Arbeitszimmer des Dekans sowie das angrenzende Zimmer mit den Messkleidern. Im hinteren, entlegenen Teil befanden sich die Wohnräume des Dekans.

    Der Mesner führte uns in das Arbeitszimmer, stellte uns kurz dem Dekan vor und zeigte uns im Nebenzimmer die ›Arbeitskleidung‹.

    Der Dekan war auch in den folgenden Monaten nicht bereit, sich unsere Namen zu merken. Für ihn war ich ›der Kleine‹, mein Bruder war ›der Große mit den blonden Haaren‹. Es gab noch den Schwarzhaarigen, den Brillenträger und andere mit charakteristischen Merkmalen ausgestattete Ministranten. Namen außerhalb der Welt der Bibel waren für den Dekan bedeutungslos.

    In der nächsten Stunde wurde ich mit den Abläufen und den Tätigkeiten eines Ministranten während einer Messe vertraut gemacht. Für den Altardienst gibt es bis heute strenge Regeln: Einzugsglocke, Andacht, Wortgottesdienst, Opferung, Wandlung; die Begriffe sprudelten nur so.

    Der Mesner verstand meinen hilflosen Blick. Resigniert stellte er fest: »Schau einfach auf deinen Bruder, mach ihm alles nach.« Über diesen Ratschlag qualifizierte ich mich zu einem vollwertigen Ministranten und der Dekan gestand mir nach einigen Wochen den Gebrauch der Altarschellen zu. Das war ein christlicher Ritterschlag!

    In der Weihnachtszeit hörte ich das erste Mal die Legende über das Fatschenkindl. Das Fatschenkindl ist eine Heiligenfigur, welche das Jesuskind in Windeln darstellt. Nur ein Teil des Oberkörpers und der Kopf ragen aus den mit Perlen und bunten Steinen verzierten Windeln hervor. Der Kopf wird umrahmt von einem goldenen Strahlenkranz. Das gefatschte Kindl wird gleich einer Reliquie verehrt. Der Geschichte nach war es aufgrund der Nachlässigkeit eines Pfarrers vor zweihundert Jahren auf den Steinboden der Kirche gefallen und in viele Teile zerbrochen. Der Schuldige fügte die Einzelteile wieder zusammen und versteckte das Kindl in einem Schrank. Am nächsten Tag gestand er dem Bischof das Desaster. Als beide den Schrank öffneten, war der Körper und der Kopf wieder eine Einheit mit Narben an den Bruchstellen des Gesichtes.

    Das Kindl wird bis heute nur in der Adventszeit den Gläubigen zur Verehrung angeboten. Auf einer Empore vor dem Altar nimmt es Blickkontakt mit den Betenden auf.

    Der Dekan erklärte mir meine Aufgabe. Am Ende der Weihnachtsmesse sollte ich, gefolgt von den Kirchenbesuchern, das Fatschenkindl durch den Kirchenraum tragen. Bei dieser Prozession würde ich eine besondere Nähe zum ›lieben Gott‹ verspüren.

    Am Weihnachtsnachmittag, vor der häuslichen Bescherung, fuhren mein Bruder und ich mit der Straßenbahn wieder zu unserer Kirche. Wir hatten uns bereits umgezogen. Ich hielt mich auf dem Flur auf und lauschte an der offenen Tür des Arbeitszimmers. Der Dekan und der Mesner unterhielten sich lautstark.

    »Und wenn er das Kindl fallen lässt? Der Kleine hat doch noch keine Kraft in den Armen. Oder wenn er stolpert? Vor all den Leuten!«

    Der Mesner legte dem Dekan nervös den weißen Ornat mit dem goldenen Kreuz über die Schulter.

    Der Dekan war die Ruhe selbst. »Das Kindl wiegt doch nichts. Das kann er schon tragen, da wird er nicht zusammenbrechen.«

    »Aber wenn doch?« Der Mesner warf die Arme in die Luft.

    »Sie bleiben immer neben ihm und wenn er schwächelt, nehmen Sie ihm das Kindl ab. Und jetzt keine Diskussion mehr. Holen Sie das Kindl.«

    Als der Mesner das Arbeitszimmer verließ, sah er mich vor der Tür stehen. Er zuckte mit den Schultern und stürmte aus der Sakristei.

    In dem mächtigen Kirchenraum waren die Bänke voll besetzt. Die Nachmittagsmesse am Weihnachtsabend war jedes Jahr wieder etwas Besonderes. Der Höhepunkt dieser Messe war nicht die Wandlung, sondern die Prozession des Kindls einmal um den gesamten Innenraum der Kirche, getragen von dem jüngsten Ministranten der Pfarrei.

    Der Mesner hatte die Tür zum Kirchenraum nicht geschlossen. Ich sah, wie er sich bekreuzigte, kurz vor dem Altar niederkniete und das Kindl von der Empore herunterholte. Mit dem Kindl in den Armen betrat er wieder die Sakristei.

    »Da ist es«, freute sich der Dekan, bekreuzigte sich und rief mit kräftiger Stimme in den Nebenraum: »Seid ihr fertig?« Dann wandte er sich wieder dem Mesner zu: »Wir machen es wie letztes Jahr. Nach der Wandlung rufe ich die Gemeinde zur Prozession auf. Sie holen das Kindl aus der Sakristei, übergeben es dem Kleinen und dann gehts los. Einmal im Kreis um die Bänke. Wenn wir wieder vor dem Altar ankommen, nehmen Sie dem Kleinen das Kindl ab, übergeben es mir und ich beende die Messe und gehe mit dem Kindl zurück in die Sakristei. Alles klar?«

    Der Mesner nickte.

    »So, jetzt lassen Sie mich noch eine Minute allein. Ich muss mich sammeln. Schauen Sie nach, ob die Ministranten fertig sind, und warten Sie vor der Tür. Ich komme gleich.«

    Der Mesner betrat über den Flur das Umkleidezimmer. Er sah mich mit einer Mischung aus Mitleid und Ratlosigkeit an. Dass ich sein Gespräch mit dem Dekan belauscht hatte, war ihm keinen Tadel wert.

    Wir warteten am Ausgang der Sakristei auf den Dekan.

    Der kam polternd aus seinem Arbeitszimmer und rief laut: »Auf gehts zum Herrn.«

    Der Mesner öffnete die Tür zum Kirchenraum und schüttelte die Altarschellen. In diesem Moment setzte die Orgel ein. Die Gemeinde sang das erste Lied. Unruhig kniete ich auf einer der Stufen vor dem Altar. Während der Wandlung vergaß ich zu läuten, was jedoch nicht weiter auffiel, da aufgrund des festlichen Anlasses vier Ministranten zur Unterstützung des Dekans eingesetzt waren.

    Dann war es so weit! Die Gläubigen hatten sich vor dem Altar versammelt, der Mesner holte das Kindl aus der Sakristei und ging mit mir zusammen vor die Stufen des Altars. Von dort aus trug ich das Kindl, vor den Gläubigen hergehend, um das Kirchenschiff. Der Mesner ließ mich nicht aus den Augen, ging in verkrampft gebückter Haltung neben mir her. Unter lauten Orgelklängen beendeten wir den Rundgang und standen wieder vor dem Altar.

    »Das wird mir zu schwer«, rief ich dem Mesner zu. Seine helfenden Hände übersah ich jedoch und gab das Kindl nicht weiter. Meine verkrampften Finger krallten sich in den Stoff der Decke, die den Körper des Kindls umhüllte. Es war mir nicht mehr möglich, das Kindl loszulassen.

    »In die Sakristei«, rief ich und lief los.

    Der Mesner erkannte, dass ich den vereinbarten Ablauf nicht einhalten würde. Er überholte mich und öffnete mir die Tür zur Sakristei.

    Der Dekan sah uns hilflos hinterher. Meine Arme wurden immer schwerer und ich stolperte. Mit einem meiner Füße, ich weiß nicht mehr mit welchem, verfing ich mich in dem alten roten Läufer, der im Flur ausgelegt war. Ich verlor das Gleichgewicht, aber das Kindl ließ ich nicht los. Mit dem Kindl in den Armen fiel ich, steif wie ein Brett, nach vorne, bevor ich das Arbeitszimmer erreicht hatte. Meine Ellenbogen schmerzten. Mit ihnen war ich auf dem Teppich aufgeschlagen und hatte den Sturz abgefangen. Mein Kopf lag auf der weichen Decke, geschützt und unverletzt.

    Aber das Kindl war zerbrochen. Die Decke, die um seinen Körper gezogen war, hatte ihre Spannung verloren. Der Kopf, in zwei Teile zersprungen, rollte auf die offen stehende Tür des Arbeitszimmers zu. Der Schreck und die Angst waren so überwältigend, dass ich einfach liegen blieb. Ich hatte ein Wunder Gottes zerstört und würde zur Rechenschaft gezogen werden. Harte Strafen würden folgen. Zuerst die Ohrfeige des Mesners, dann der Spott meines Bruders sowie die Vorwürfe meiner Eltern, und am Ende blieb mir der Himmel verschlossen. Aber das hatte noch Zeit. Ich war ein gebrochener Ministrant und fing an zu weinen.

    Als kurze Zeit später der Dekan zusammen mit meinem Bruder und den beiden anderen Ministranten die Sakristei betrat, fanden sie mich laut heulend am Boden liegen. Die Kommentare waren eindeutig.

    »Das Kindl!«, schrie der Mesner.

    »Du Depp!«, knurrte mein Bruder.

    Nur der Dekan sagte erst einmal nichts. Er überlegte und betrachtete

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