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Taliel: Verlust
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eBook479 Seiten6 Stunden

Taliel: Verlust

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Über dieses E-Book

An der Feathergem Academy herrscht Unruhe. Seit Metatrons Verrat und Taliels Tod bereiten sich alle verbliebenen Engel auf den Krieg gegen die Hölle vor. Auch Sunaels Rückkehr ändert hieran wenig.
Doch als Michael und Gabriel versiegelte Akten finden, die ausgerechnet Melissa, Taliels und Sunaels Mutter, zum Inhalt haben, ändert sich alles. Könnte Melissa der Schlüssel sein, den Krieg abzuwenden? Und welche Rolle spielt Ridael, Taliels und Sunaels Vater?
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum17. Juli 2023
ISBN9783946127123
Taliel: Verlust

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    Buchvorschau

    Taliel - Sascha Schröder

    Traumschwingen Verlag

    Sascha & Claudia Schröder

    Das Werk, einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags und der Autoren unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

    Sascha Schröder wurde 1989 in Bremerhaven begonnen. Hauptberuflich IT-Systemadministrator, gilt seine eigentliche Leidenschaft dem Schreiben.

    Mit Taliel: Erwachen hat er gemeinsam mit seiner Frau Claudia den Grundstein für diese Buchreihe gelegt. Neben Taliel arbeitet er derzeit auch an einem Buch zusammen mit Claudia.

    Neben dem Schreiben widmet er seiner Musik, sowie den gemeinsamen Tieren, viel Zeit

    Claudia_Schröder_BoD.tif

    Claudia Schröder lebt seit ihrer Geburt 1978 in ihrer Heimatstadt Bielefeld, wo sie als Arzthelferin arbeitet.

    Mit ihrem Ehemann hat sie gemeinsam mehrere Bücher veröffentlicht. Als Leserin betreibt sie außerdem einen Buchblog, in dem sie regelmäßig gelesene Bücher rezensiert.

    Aktuell arbeitet sie an mehreren Projekten, darunter ein historischer Roman.

    Die folgende Geschichte ist rein fiktiv. Die Autoren distanzieren sich ausdrücklich vom Versuch der Gotteslästerung.

    Alle handelnden Personen sind frei erfunden, bzw. beruhen auf Vorlagen der Bibel, sowie eigener Inspiration. Ähnlichkeiten zu lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind als reine Zufälle zu betrachten und nicht beabsichtigt.

    Der Mut, in die Dunkelheit zu gehen, aber die Kraft, zum Licht zurückzukehren.

    Aus dem Videospiel „Destiny"

    Kapitel 1

    Es war, als wäre um sie herum die Zeit stehen geblieben. Als würde sie sich nicht mitten auf dem belebtesten Platz dieser Akademie befinden, und keine Massen an Schülern um sie herum stehen. Die anderen nahm sie nur wie durch einen Vorhang wahr, als Schemen und vorbeihuschende Schatten. Ihre Sinne waren völlig aus der Balance.

    Das Einzige, was sie überdeutlich wahrnahm, war der Engel, der direkt vor ihr stand. Einen Kopf größer als sie, lange, braune Haare, in den nussbraunen Augen einen goldenen Schimmer. Und ihr Lächeln… dieses Lächeln, das sie schon seit langer Zeit vermisst hatte. Das eine Wärme in sich trug, die Eisberge schmelzen lassen konnte.

    Und so warm wie dieses Lächeln war ihre Stimme.

    »Hallo, meine Süße.«

    Diese Stimme war ihr so unheimlich vertraut, und doch ließen diese drei Worte ihr eisige Schauer über den Rücken laufen. Es war nicht die Art, wie sie diese Worte ausgesprochen hatte, sondern die Worte selbst. Diese drei Worte, die sie, Auriel, so lange nicht gehört hatte.

    Die ganzen letzten Wochen hatte sie in Sorge gelebt. Sie hatte niemandem, dem sie ihre Gedanken anvertrauen konnte. Michael und die anderen Engel waren zu beschäftigt damit, sich auf den bevorstehenden Krieg vorzubereiten. Niemand konnte oder wollte für sie da sein. Sie, Auriel, die sich mit dem Gedanken abgefunden hatte, das Taliel tot war. Dass sie das Ritual, mit dem sie ihre Schwester wiederbeleben wollte, nicht überlebt hatte. Doch es war nicht nur die Sorge und die Trauer, die sie belasteten. Für Melissa, Taliels Mutter, die seit einiger Zeit ebenfalls hier auf der Academy lebte, obwohl sie nur ein Mensch war, musste sie sich immer neue Lügen und Ausreden ausdenken, wieso Taliel nicht nach Hause kam.

    Eine wichtige Mission. Sondertraining mit Michael. Eine schlimme ansteckende Krankheit. Mit jedem Tag, der verging, kamen ihr diese Ausreden alberner und surrealer vor, und sie ertappte sich zweimal dabei, wie sie vor Wut mit ihrer Faust irgendetwas zertrümmern wollte, um dem psychischen Druck ein Ventil zu bieten. Sie war seelisch am Ende, und es fehlte nicht viel, und sie würde zusammenbrechen und etwas Unüberlegtes tun. Azrael zwingen, sie auch ins Jenseits zu geleiten. Melissa die Wahrheit sagen. Michael so lange provozieren, bis er sie von der Akademie verbannte. Sich doch noch in Metatrons Dienst stellen, und dem Himmel den Kampf ansagen. Irgendetwas, dass ihren sicheren Tod bedeutete. Es war ihr egal, sie wollte nur wieder bei Taliel und Sunael sein. So sehr brannte die Verzweiflung in ihr. Ein loderndes heißes Feuer, das sich jetzt, hier, an diesem Ort zu dieser Zeit in heißen Tränen seinen Weg bahnte.

    Auriel vergrub ihr Gesicht tief im Gewand der Person. Diese legte schützend und liebevoll die Arme um sie. Mittlerweile waren einige andere Engel stehen geblieben, tuschelten, zeigten mit dem Finger auf die beiden.

    »Hey, ist das nicht …«

    »Seit wann ist sie wieder hier…?«

    »Ich dachte, sie ist …«

    »Das ist unmöglich!«

    Sie bekam nur Fetzen von dem mit, was um sie herum gesprochen wurde. Auriel genoss die Umarmung, nach der sie sich schon so lange gesehnt hatte.

    »Du bist zurück, Sunael«, brachte sie zwischen zwei Schluchzern heraus.

    »Schhhhh«, machte Sunael, und zog Auriel näher an sich heran. Auch sie hatte mit den Tränen zu kämpfen. Ihre Schwester, Taliel, hatte es geschafft. Sie selbst hatte dafür große Risiken auf sich genommen, hatte sprichwörtlich Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt. Taliel hatte ihren Plan durchschaut und sie zurück ins Leben geholt. Für sie gab es drei Dinge, die von größter Wichtigkeit waren. Nun, eigentlich waren es vier, aber an das Vierte verschwendete sie im Augenblick keine großen Gedanken. Erstens wollte sie ihrer Schwester danken. Zweitens wollte sie Uriel für seine Taten büßen lassen, und drittens wollte sie so viel Zeit wie möglich mit Auriel verbringen.

    In die Schülermenge, die sich mittlerweile um sie gescharrt hatte, kam Bewegung, als jemand, den Sunael erst auf den zweiten Blick wiedererkannte, sich seinen Weg bahnte.

    »Michael«, sagte Sunael mit zitternder Stimme. Es war eine Mischung aus Angst und Überwältigung, wieder mit Auriel vereint zu sein.

    »Man sagte mir, hier hat jemand eine Houdini-Nummer abgezogen, das wollte ich mir doch lieber mal mit eigenen Augen ansehen«, entgegnete der rothaarige Erzengel mit gekonnt lässigem Ton. »Ich meine, passiert nicht alle Tage, dass jemand von den Toten zurückkehrt.«

    Sunael löste die Umarmung, während Auriel sich noch immer in Sunaels Gewand verkrallt hatte, aus Angst, sie könnte einfach so wieder verschwinden.

    »Es tut mir leid«, wollte Sunael gerade ansetzen, doch Michael winkte bereits nach »Es tut« ab.

    »Abgesehen davon, dass wir im Moment größere Probleme haben als einen Engel mit Lazarus-Komplex, haben dich Regeln ja sowieso noch nie wirklich interessiert. Ach, übrigens, unsere Bücherei vermisst noch immer ein Buch. Du weißt schon, das, was Uriel dir schon mehrmals abgenommen hat, weil du es eigentlich gar nicht haben dürftest. Zu viel schwarze Magie, du weißt schon. Naja, ich möchte lieber nicht wissen, wie hoch die Leihgebühr mittlerweile ist. Nach drei Jahren hat sich da sicherlich ein nettes Sümmchen angesammelt.«

    Sunael blickte Michael mit einem verzweifelten Lächeln und Freudentränen in den Augen an. Der Erzengel schritt auf die beiden zu und legte seine Arme um Sunael. Auch ihm liefen Tränen die Wangen hinab.

    »Ich weiß nicht, wie Taliel es geschafft hat, aber ich bin froh, dass du hier bist, Sunael. Willkommen zurück«, sagte er mit leiser Stimme. Der Klang hatte etwas, das Sunael so noch nie bei Michael gehört hatte. Aufrichtige Erleichterung.

    Und dieser Klang, so beruhigend und zusprechend er auch war, versetzte Sunael in Alarmbereitschaft. Wieso diese Erleichterung? Was war geschehen? Sie erinnerte sich nicht daran, Taliel am Tag ihrer Rückkehr in der Höhle, in der sie im Leben ankam, gesehen zu haben. Es war dunkel, kalt und feucht, und sie wusste nicht, wie lange sie nach dem Ausgang gesucht hatte. Als sie ihn schließlich fand, wurde die von Azrael in Empfang genommen, und ohne Umweg zur Academy gebracht, wo sie nun, in dieser Sekunde, Michael gegenüberstand, Auriel an ihre Brust geschmiegt, und noch immer ratlos.

    »Apropos Taliel, wo ist sie?«, wollte Sunael wissen. Sie hoffte, eine Antwort zu bekommen, doch Michael legte ihr einen Zeigefinger auf die Lippen.

    »Nicht hier«, antwortete er knapp, »und das ist alles, was du zum jetzigen Zeitpunkt wissen musst.«

    »Ja, aber …«

    »Nicht. Hier.«

    So ruhig wie er sprach, so bedrohlich waren seine Worte, und Sunael vermied es, noch ein weiteres Mal nachzuhaken.

    »Auriel ist für den restlichen Tag vom Unterricht befreit. Ihr solltet in euer Quartier gehen. Ich werde Melissa Bescheid geben.«

    »Mum?«, fragte Sunael, und sie machte nicht einmal einen Versuch, ihre Überraschung zu verbergen. Wieso war ihre Mutter hier? Dafür gab es nur wenige Erklärungen, und eine gefiel ihr weniger als die andere.

    »Sie ist hier«, antwortete Michael. »Wieso und weshalb soll sie dir selbst erklären. Wie gesagt, ich habe wichtigeres zu tun.«

    Mit diesen Worten schob sich der Rothaarige an Sunael und Auriel vorbei und verschwand im Gebäude der Academy.

    Auriel löste sich von Sunael und sah ihr tief in die Augen.

    »Ich habe dich vermisst.«

    »Ich dich auch, Süße, ich dich auch. Ich habe die ganze Zeit nur an dich gedacht.« Die Braunhaarige strich Auriel sanft über den Kopf und küsste sie auf die Stirn. »Es war eine verdammt lange Zeit, aber nicht so lang wie sie dir vielleicht vorgekommen ist. Komm, lass uns nach Hause gehen.«

    ***

    Ihr Quartier hatte sich kaum verändert. Nur hier und da waren kleine Details anders, als Sunael sie in Erinnerung hatte. Mit jedem Atemzug, den sie tat, konnte sie Taliels Präsenz deutlicher spüren. Ihre Schwester hatte in der kurzen Zeit bereits einen deutlichen Eindruck hinterlassen, ihre Energie war in jeder Ecke dieses Zuhauses spürbar.

    »Ihr habt umdekoriert«, stellte Sunael fest, um die Stille zu durchbrechen.

    »Taliels Idee. Sie wollte sich etwas mehr wie zuhause fühlen. Und ich hatte nichts dagegen.«

    »Was habt ihr noch verändert?«

    »Eigentlich nur das Obergeschoss. Die Bibliothek musste weichen.«

    »Lesen ist wohl nicht euer Ding«, grinste Sunael.

    »Naja, wir mussten Melissa irgendwo unterbringen.«

    »Dann stimmt es? Sie ist hier?«

    »Wir mussten sie vor Dämonen in Sicherheit bringen, die sie als Köder benutzen wollten, um an Taliel heranzukommen«, erklärte Auriel. »Wieso, wissen wir alle nicht. Wir wissen nur, dass Taliel auf eigene Faust da runter ist und eure Mutter gerettet hat.«

    »Nicht dein Ernst!«, entfuhr es Sunael, doch Auriel nickte nur bekräftigend.

    »Nicht ganz allein, Michael und die anderen kamen ihr zu Hilfe. Letztlich musste sie irgendwo hin, und da hielten wir es für das Beste, wenn sie hierbliebe.«

    »Aber doch nicht für immer«, hakte Sunael nach.

    »Naja«, druckste Auriel herum. »Anfangs nicht. Eigentlich sollte sie nur so lange bleiben, wie sie in Gefahr war, aber jetzt wo der Krieg tobt, ist sie nur hier sicher, und außerdem …«

    »Außerdem?«

    »Ach, naja… eigentlich nichts wildes.«

    »Okay?«

    Dieses »Okay?« war vielmehr ein »Was verheimlichst du mir?« als ein »Und das heißt?«. Und das wusste Auriel. Es brauchte nicht viel, bis sie das Geheimnis lüftete. Und als hätte sie Auriels Gedanken gelesen, hob Sunael nun skeptisch die Augenbraue.

    Ein lautes Seufzen entfuhr Auriel.

    »Sag mal, hast du eigentlich schon gesehen, was wir im Obergeschoss alles …«

    »Lenk nicht ab.« Sunael wurde ungeduldig, und Auriel wurde klar, dass sie das Unvermeidbare nicht länger aufhalten konnte.

    »Eure Mum und Raphael sind zusammen.«

    »So? Sind sie das?«

    An Sunaels Haltung hatte sich nichts verändert. Noch immer stand sie mit verschränkten Armen und hochgezogener Augenbraue vor Auriel.

    »Tut mir leid, ich dachte, du wirst sauer, wenn ich es dir sage.«

    »Sauer? Ich?«

    Ein verächtliches Schnaufen strafte Sunaels Satz Lüge.

    »Reg dich nicht auf, Sunael. Es ist einfach so passiert, Raphael war der Einzige, der für Melissa da war. Er hat ihr das Leben gerettet, und mit der Zeit sind sie sich nähergekommen.«

    »Aha«, machte Sunael nur. Mittlerweile war ihre Mine aufgetaut, und sie runzelte die Stirn. Sie suchte sich einen Stuhl und ließ sich darauf nieder. Dann schwieg sie. Auriel versuchte, ihre Gedanken zu lesen, doch es gelang ihr nicht. Ob Sunael sie nun bewusst abblockte oder sie einfach so kein Glück hatte, wusste sie nicht.

    »Gibt es noch etwas, was ich wissen muss?«, fragte Sunael schließlich. »Ich meine, anscheinend habt ihr in den drei Jahren, in denen ich tot war, mal eben den ganzen Lebenslauf der Erde umgeschrieben. Welche Naturgesetze habt ihr noch außer Kraft gesetzt? Dreht sich die Erde mittlerweile in die andere Richtung oder ist ein zweiter Mond dazugekommen?«

    Wow, dachte Auriel. Wenn man ein Lexikon aufschlug und nach »Sarkasmus« suchte, klebte dort sicherlich ein Foto von Sunael, wie sie, die Arme verschränkt, auf einem Stuhl saß und schmollte.

    »Sunael, es tut mir leid. Wirklich. Es ist so viel passiert, was ich selber nicht kapiere. Allein das Taliel hier ist … alles, was mit ihr zusammenhängt, bringt mein Hirn zum Schmelzen!«

    Täuschte sie sich, oder musste Sunael sich wirklich ein Lachen verkneifen?

    »Und dieser Krieg … Sunael, ich habe Angst! Um dich, um Taliel, um alle. Bitte, ich brauche dich.«

    Sunael knirschte missmutig mit den Zähnen. Einerseits wollte sie ihre wütende Mine aufrechterhalten, doch andererseits konnte sie nicht lange sauer auf ihre Verlobte sein. Immerhin konnte Auriel ja nichts dafür, dass sie gestorben war, und noch weniger dafür, dass Taliel in den letzten Wochen und Monaten durch die Hölle gegangen sein musste, buchstäblich.

    Es war ein Fehler, Taliel zum Erwachen zu zwingen. Ein selbstherrlicher und egoistischer Akt, nur, um ein Extraleben zu bekommen. Von dem, was gerade vor sich ging ganz zu schweigen. Aber sie biss sich auf die Zunge, als die Frage herausplatzen wollte. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt. Es gab jemand anderen, der ihren Zuspruch benötigte. Auriel war verzweifelt, hatte Angst und war noch immer im Schock darüber, dass Sunael wieder hier war.

    Wie sie da saß, auf dem Boden kauernd und Sunael anflehend, hatte sie Mitleid mit ihrer Freundin. Ihr war nie in den Sinn gekommen, wie sich Auriel fühlen musste, dass Taliel fort war. Sunael ließ sich vor Auriel nieder und legte ihr eine Hand auf die Wange.

    »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich kann mir nicht einmal annähernd vorstellen, wie du dich fühlst. Ich meine, Taliel ist verschwunden, und dafür tauche ich plötzlich wieder auf. Eine Achterbahnfahrt ist ein Dreck dagegen, hm?«

    Auriel nickte nur. Sie wollte nicht schon wieder weinen. Nicht dieses Mal. Wenigstens jetzt wollte sie stark sein.

    »Ich verspreche dir, ich werde nicht mehr von deiner Seite weichen. Niemand wird uns zwei wieder auseinanderbringen, und wenn ich Lucifer persönlich umbringen muss.«

    »Das würde ich lassen«, entgegnete Auriel mit einem schiefen Lächeln. »Die Fronten haben sich verschoben, die Karten wurden neu gemischt.«

    »Was heißt das?«, fragte Sunael irritiert.

    »Lucifer ist nun auf unserer Seite. Er hat der Hölle abgeschworen, und Michael und mir seine Treue geschworen.«

    Sunael sog zischend Luft ein.

    »So schlimm?«

    Auriel begriff nicht sofort, wohin Sunael mit dieser Frage zielte, schüttelte dann aber heftig den Kopf.

    »Er hat den Fluch, der über dem Garten lag, aufgehoben, und kämpft auf unserer Seite gegen seine einstigen Brüder. Verdammt, er war es sogar, der Taliel geholfen hat, dich zu finden.«

    »Wirklich?« Ungläubig sah Sunael ihre Verlobte an. Der Lucifer, den sie einst bis aufs Blut bekämpfen sollte, war nun ein Verbündeter? Dann schüttelte Sunael den Gedanken ab. »Nein, was ich eigentlich fragen wollte, ist, ob es wirklich so schlimm um uns steht, dass selbst Lucifer nun für uns kämpft.«

    Doch Auriel hatte keine Zeit, zu antworten. Mit einem lauten Quietschen öffnete sich die Tür. Sunael wandte ihren Kopf herum.

    »Mum …«

    Melissa sah ihre Tochter an und schlug die Hände vor den Mund. Trauer legt sich auf ihr Gesicht.

    »Ginny«, hauchte sie. Dann stürmte sie auf Sunael zu und schloss sie in ihre Arme.

    »Bist du es wirklich?«

    »Ja, Mum, ich bin es«, gab Sunael ebenso tonlos zurück.

    »Du lebst! Aber wie ist das möglich?«

    »Ich weiß es nicht«, log Sunael. »Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich in einer Höhle zu mir kam, und nach dem Ausgang suchte.«

    Es war vielleicht besser so, denn sie wusste nicht, ob Melissa von Taliels Plan erfahren hatte. Sie wusste so vieles nicht, deshalb war es besser, wenn sie behutsam vorging.

    »Ich habe dich nie in deiner Engelsgestalt gesehen«, sagte Melissa, löste die Umarmung und trat einen Schritt zurück. »Du siehst Cathryne sehr ähnlich.«

    »Ja«, erwiderte Sunael grinsend. »Schwestern, schon vergessen?« Für diesen frechen Kommentar fing sie sich einen Knuff gegen die Schulter ein.

    Melissa betrachtete ihre Tochter eingehend. Die Haare waren zerzaust, und die Haut blass. Sunael trug nur ein einfaches weißes Kleid und keine Schuhe, wobei sie davon ausging, dass es ihr nicht viel ausmachte, denn wenn sie in ihrer Zeit hier eines gelernt hatte, dann, dass Engel weder Hitze noch Kälte noch Müdigkeit oder Hunger verspürten.

    Sie tastete nach dem Stuhl, auf dem Sunael gesessen hatte und ließ sich nieder.

    »Wie lange ist es jetzt her?«

    »Zu lange«, entgegnete Sunael und wandte sich wieder Auriel zu.

    »Was habe ich noch verpasst?«, fragte sie ihre Verlobte.

    »Nicht viel. Ich bewahre immer noch deine Sachen in meinem Schrank auf. Das heißt, ich habe Taliel erlaubt, sie anzuziehen, wenn sie will, denn du warst ja …«

    »Tot«, beendete Sunael den Satz. »Schon in Ordnung. Wir sind uns nun einmal sehr ähnlich. Liegt bestimmt daran, dass wir Schwestern sind.«

    Auriel setzte sich auf das Sofa. »Stimmt es? Hat Uriel dich getötet?«

    Sunael nickte schwach. »Ich habe ihm vertraut, und er hat mich betrogen. Und ich weiß noch nicht einmal, wieso.«

    »Du kannst ihn nicht fragen, denn er ist ja zusammen mit Metatron und Seraphiel verschwunden.«

    »Glück für ihn, ansonsten hätte ich ihm jede Feder einzeln herausgerissen.«

    »Taliel wollte sich an ihm rächen, aber es ging nicht gut für sie aus.«

    »Ich war dabei«, murmelte Sunael. »Sie ist quasi direkt über meinem Grab …« Sie schüttelte sich. »Können wir bitte über etwas anderes reden? Du bist doch mit ihr in einer Klasse. Wie macht sie sich so?«

    »Du meinst, wenn sie mal nicht neugierig ist und sich und andere in Gefahr bringt? Sie ist eine exzellente Schülerin, und im Kampf nicht zu verachten. Nur bei der Elementarmagie hat sie große Probleme.«

    »Das wundert mich nicht. Die ist echt verflixt kompliziert.«

    »Ansonsten bin ich stolz, sie als Partnerin zu haben. Wie läuft das jetzt eigentlich, wo du wieder da bist? Denn ich war ja auch deine Partnerin.«

    »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, und ich fürchte, wir haben aktuell auch keine Zeit, uns darum Gedanken zu machen.«

    »Stimmt, wir müssen uns auf einen Krieg vorbereiten.«

    »Na, das ist wohl mein Stichwort.«

    Azrael war in das Quartier getreten und stand in der Tür.«

    »Hallo, Azrael«, sagte Sunael lächelnd.

    »Sunael«, nickte er ihr freundlich zu. Dann ließ er sich auf dem Sofa nieder und legte seine Hände auf die Knie.

    »Der Krieg ist unvermeidlich«, begann er. »Metatron hat die Seinen zusammengerufen und wird bald einen Angriff planen. Einige äußere Sphären sind bereits überrannt, aber unsere Soldaten halten eisern dagegen. Wir erwarten, dass sie auch die Erde ins Chaos stürzen werden. Michael und Gabriel planen bereits Gegenmaßnahmen, aber eines ist sicher: Wir arbeiten alle am Rande unserer Leistungsfähigkeit. Einen Krieg und einen geregelten Betrieb der Akademie gleichzeitig zu koordinieren ist nicht einfach, zumal sehr viele Lehrer an die Front berufen wurden. Wir müssen also dazu übergehen, Schüler der höheren Stufen in den Unterricht zu setzen.«

    Während des gesamten Monologs sprach Azrael ruhig und gefasst, doch Sunael spürte, wie es in ihm brodelte. Ihm gefiel die gesamte Situation nicht, das war klar. Aber das war nicht das Einzige.

    »Ich nehme an, dass ich auch unterstützen soll«, schloss Sunael.

    »Das wäre wünschenswert, aber wir haben leider auch noch ein anderes Problem. Nach dem Verrat ist der Rat der Sieben zerbrochen. Mit nur vier Engeln konnten wir da nichts machen, deshalb hat Michael Lilith um Rat gefragt. Der Kreis war wieder geschlossen, aber …«

    Er seufzte. »Taliel ist …«

    Sunael blickte zur Seite. Sie wollte in diesem Moment mit niemandem Blickkontakt aufnehmen.

    »Taliel war es, die dich wiedererweckt hat, Sunael. Aber das weißt du sicherlich bereits. Doch leider hat sie das Ritual mit ihrem Leben bezahlt.«

    Er blickte erst Sunael, dann Auriel, dann Melissa an, ehe er die Augen schloss. Er wollte ihre Gesichter nicht sehen, denn es tat ihm selbst zu sehr weh, diese Worte auszusprechen.

    »Taliel ist tot.«

    Einen Augenblick lang herrschte eine gespenstische Stille. Niemand wagte zu atmen, geschweige denn, etwas zu sagen.

    Auriel, Sunael und Melissa blickten den Todesengel mit versteinerter Miene an.

    Azrael war es, der diese Leere durchbrach. »Es tut mir leid«, sagte er und senkte den Kopf. »Ich hätte sie aufhalten müssen, und trotzdem stand ich daneben und tat nichts. Wenn jemand schuld an Taliels Tod ist, dann ich. Sie hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihr Schwester wieder ins Leben zurückzuholen, und ich habe sie auch noch ermutigt. Dabei weiß ich wie kein anderer Engel, wie gefährlich dieses Vorhaben ist. Allein daran zu denken ist schon Wahnsinn, aber einen toten Engel wirklich wiederzubeleben …«

    Melissa war die Erste, die ihre Fassung wieder erlangte.

    »Das … das kann nicht sein. Es hieß … ich meine, Lily sagte immer wieder, sie wäre auf Missionen und müsse so viel lernen. Ich verstehe das nicht.«

    Auriel schluckte schwer, ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen.

    »Ich wollte dich nicht belügen«, erwiderte sie. »Ich wusste selber nichts davon, das schwöre ich. Ich hatte es befürchtet. Jeden Tag habe ich mich mit dem Gedanken herumgeschlagen, dass ihr etwas passiert sein könnte. Aber ich wollte niemanden beunruhigen. Hätte ich irgendwem von meinen Befürchtungen erzählt, hätte ich vermutlich nur Panik verbreitet. Ich glaubte immer, es gibt bestimmt eine ganz einfache Erklärung dafür. Sie hat bestimmt einen Grund, weshalb sie nicht hier ist.«

    »Mum, bitte sei Auriel nicht böse«, stand Sunael ihrer Freundin bei. »Sie hat es nur gut gemeint, sie wollte dich nicht verletzten. Sie liebt Taliel genauso wie dich oder mich, Taliel war in meiner Abwesenheit ihre wichtigste und vermutlich einzige richtige Freundin.«

    »Warum?«, fragte Melissa, doch ihre Frage war nicht an Sunael gerichtet. Sie fixierte Azrael. »Wieso hast du nichts getan? Wieso hast du sie sterben lassen? Du warst ihr Freund, ihr engster Vertrauter, und trotzdem hast du sie im Stich gelassen!«

    »Ich konnte nichts dafür«, verteidigte sich Azrael. »Es war ihre Entscheidung. Du kennst deine Tochter besser als ich, du weißt, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, bringt sie nichts und niemand davon ab.«

    »Du hast sie umgebracht!« Melissa war aufgesprungen und stürmte auf Azrael zu. Wieder und wieder versuchte sie, auf den Engel einzuprügeln. Doch Azrael war davon unbeeindruckt. Er umfasste ihre Handgelenke, aber machte keine Anstalten, sie wegzustoßen oder sich zu wehren.

    »Du hast sie umgebracht«, wimmerte Melissa, die nun langsam neben Azrael auf das Sofa sank. Azrael zog sie an sich.

    »Ich weiß, und glaube mir, das werde ich mir nie verzeihen. Taliel war der wichtigste Engel für mich, und wenn ich könnte, würde ich die Zeit zurückdrehen und mich selbst für sie opfern.«

    Auriel blickte beschämt zu Boden. Nun war es heraus, sie brauchte sich nicht in Lügen verstricken. Einerseits war sie erleichtert darüber, doch andererseits überkam sie die Panik, dass ihre schlimmsten Befürchtungen wahr geworden waren.

    Sunael stand auf.

    »Ich … ich bin ihre Schwester, sie hat mich zurückgeholt. Dann kann ich sie ...«

    »Denk. Nicht. Mal. Daran.« Azrael sprach jedes Wort mit Nachdruck aus. »Wohin soll das denn führen? Du belebst sie wieder und stirbst dabei selbst. Dann belebt sie dich wieder und lässt erneut ihr Leben. Ändert es irgendetwas? Wird es dadurch irgendwie besser?«

    »Ich war drei Jahre lang tot, Azrael. Drei beschissene Jahre! An meinen Tod hatte sich jeder auf dieser verdammten Schule gewöhnt. Taliel hat zu viel durchgemacht!«

    »Nein!«, schrie Auriel. »Bitte, tu mir das nicht an! Bitte!«

    »Was habe ich davon, Auriel?«, blaffte Sunael zurück. »Meine Schwester hat sich geopfert, nur damit ich wieder lebe. Wow, Glanztat! Hätte ich gewusst, dass sie es nicht schafft, hätte ich sie …« Wütend und mit einem markerschütternden Schrei warf sie ein Glas an die Wand, das auf dem Tisch vor Azrael stand.

    »Aufhören!«

    Nun war es Melissa, die ihre Stimme erhob. Sie wischte sich die Tränen weg und sah ihre Tochter an.

    »Du kannst genauso wenig etwas für ihren Tod wie Azrael oder Lily. Hast du sie gezwungen?«

    »Nein«, antwortete Sunael patzig. Erneut wandte sie den Blick ab. Niemanden ansehen, bloß nicht falsche Emotionen zeigen.

    »Sie hat all das aus freien Stücken getan. Ich verstehe nicht einmal die Hälfte von all dem. Wieso auch? Ich bin nur ein Mensch.« In ihre Stimme mischte sich ein Anflug von Sarkasmus. »Wieso sollte man da auch mit mir sprechen? Aber das ist nicht der Punkt, Virginia! Deine Schwester hat ihre eigene Entscheidung getroffen, und auch wenn sie diese Entscheidung mit dem Leben bezahlt hat, sollten wir das respektieren. Sie wusste, was sie erwartet, oder Azrael?«

    »Sie wusste, dass es gefährlich werden würde, ja.«

    »Ich verzeihe dir trotzdem nicht, dass du sie nicht aufgehalten hast«, erwiderte Melissa verbittert.«

    »Das kann ich dir nicht verdenken, mir geht es genauso.

    »Trotzdem«, sagte sie wieder an ihre Tochter gewandt, »hat Cathryne ihr Leben nicht umsonst hergegeben. Du bist hier, Virginia. Und wenn ihr Tod nur eine gute Sache hat, dann die, dass du hier bist.«

    »Ich wäre lieber tot als …«

    Mit einer schnellen Bewegung, die alle Anwesenden überraschte, hatte Melissa ihrer Tochter eine Ohrfeige verpasst. Doch kaum hatte sie realisiert, was sie getan hatte, trat Melissa einen Schritt zurück und hielt die Hand, mit der sie gerade ihre Tochter geschlagen hatte, vor den Mund.

    »Virginia … ich …das war …«

    Sunael blickte ihre Mutter an, doch nicht wütend oder hasserfüllt. Dann schüttelte sie sich einmal, und lachte.

    »Danke, Mum, das habe ich gebraucht.« Sie legte den Kopf in den Nacken und seufzte. »Wir können nichts für Taliel tun, soviel steht fest.«

    Sie hielt inne und blickte dann Azrael an.

    »Aber du schon!«

    Azrael blickte von Melissa zu Sunael und wieder zurück. »Ich?«

    »Du bist ein Todesengel!«

    »Du auch«, erwiderte Azrael kühl.

    Sunael blickte ihre Mutter an. »Okay, für die nicht-Engel im Raum erkläre ich das jetzt zum Mitschreiben.«

    Melissa kratzte sich am Kopf. »Ihr seid Todesengel, ihr geleitet Seelen ins Jenseits. Was gibt es daran nicht zu verstehen? Ich bin nur ein Mensch, aber ich bin nicht blöd, Virginia!«

    Azrael räusperte sich. »Das ist zum Teil korrekt, aber offenbar herrscht bei den Menschen eine falsche Vorstellung davon, was wir wirklich tun.«

    Er faltete die Hände und drückte die Daumenspitzen gegeneinander.

    »Wir sind keine Seelensammler, haben keine Sense und keinen schwarzen Umhang. Wir sind nicht für Tod und Leid verantwortlich, wir haben keine Kontrolle darüber, wann jemand stirbt, auch wenn wir bei jeder Seele ihr Todesdatum erkennen können, wobei auch das nicht immer zutrifft. Unfälle, Selbstmorde, Verbrechen, all das, sehen wir nicht, wir sehen nur, wann eine Seele auf natürlichem Wege ihren Körper verlassen würde. Aber ich schweife ab.«

    Er fuhr sich mit der Zunge über die Oberlippe.

    »Als Todesengel haben wir die Fähigkeit, ins Jenseits zu reisen. Eine Fähigkeit, die wir nur sehr selten und nur in ganz besonderen Notfällen anwenden. Besonders für Taliel war es nicht leicht, denn sie traf dort eine Freundin, Stella Baker. Ich gehe recht in der Annahme, dass du sie kennst?«

    »Ja, sie war Sunaels feste Freundin, wieso?«

    »Ein unbedeutendes Randdetail. Die Sache ist die: Taliel und ich gehören einer anderen Sorte Todesengel an. Wir können Dinge, von denen ihr Menschen nur zu träumen wagt, zu denen ihr jedoch nie in der Lage sein werdet. Wir Todesengel können manchmal, unter ganz bestimmten Voraussetzungen und Bedingungen, die Toten zum Leben erwecken.«

    Melissa schüttelte den Kopf. »Moment, bitte nochmal langsam.«

    »Es gibt Situationen, in denen wir Tote zurück ins Leben holen müssen. Getötete Engel, die wichtige Informationen haben, oder Menschen, die mit Dämonen in Kontakt gekommen sind. Allerdings ist es sehr riskant, die Wahrscheinlichkeit, dass der wiederbelebte Engel oder Mensch dem Wahnsinn verfällt, ist sehr hoch, weshalb wir es um jeden Preis vermeiden, oder aber die Zeit der Wiederbelebung so kurz wie möglich halten. Vier, fünf Minuten, danach ist derjenige wieder tot. Auch Taliel muss diese Kraft kontrollieren können.«

    »Nur deshalb war es ihr möglich, mich wieder zu beleben«, bestätigte Sunael.

    Melissa begriff, was Azrael ihr sagen wollte.

    »Du sagst, du kannst die Toten wiederwecken?«, fragte Melissa.

    Azrael nickte.

    »Dann tu es«, forderte Melissa. »Hol meine Tochter zurück. Mir ist egal, ob du dafür in der Hölle landest. Es ist deine Schuld, dass sie tot ist. Du hättest sie aufhalten müssen, das ist deine Pflicht als Lehrer und Freund.«

    »Das kann ich nicht«, sagte Azrael.

    »Du wirst es sofort tun, oder …«

    »Oder was?« Azraels Stimme war keinesfalls bedrohlich, aber sein bestimmter Ton ließ Melissa augenblicklich verstummen. »Ich kann deine Wut verstehen, Melissa. Die Wut einer Mutter ist die gefährlichste Waffe. Aber auch diese Waffe ist gegen mich wirkungslos, verstehst du? Niemand liebt Taliel so wie du als Mutter, nicht einmal ich. Was bringt es uns aber, wenn Taliel wieder hier ist, aber nur noch ein sabberndes Etwas ist, das in der Ecke vor sich hinvegetiert?«

    Sunael seufzte: »Mum, Azrael hat recht. Selbst wenn er Cathryne aus dem Jenseits zurückholen kann, niemand weiß, ob sie dann überhaupt noch unsere Cat ist. Es ist nicht leicht, aber ich fürchte, wir müssen uns mit der Tatsache abfinden, dass sie ihr Leben für mich geopfert hat. Und auch wenn es makaber und völlig würdelos klingt, aber ich bin stolz auf meine Schwester, und ich hätte an ihrer Stelle das gleiche getan!«

    Melissa senkte ihren Kopf.

    »Vielleicht hast du recht.«

    ***

    Danach schwiegen sie eine ganze Weile. Die Situation war zu schockierend für alle Beteiligten, und jeder musste erst einmal verarbeiten, was Azrael ihnen gerade offenbart hatte.

    Ein lautes Klopfen ließ alle zusammenzucken. Kurze Zeit später trat Michael ein.

    »Entschuldigt die Verspätung, ich hatte noch etwas zu erledigen.«

    Er ließ sich neben Azrael auf einem Stuhl nieder und legte die Mappe auf seine Knie.

    »Sunael, du siehst gut aus.«

    »Danke«, sagte sie, den Blick auf den Boden gerichtet.

    »Sie wissen es«, sagte Azrael leise. Er war neben Michael getreten.

    »Ich habe ihnen bereits erzählt, dass Taliel …«

    »Verstehe«, antwortete Michael ebenso leise. Dann wandte er sich an die Runde.

    »Ich möchte an dieser Stelle mein Beileid ausdrücken. Ein Leben für ein anderes. Ein schrecklicher Tausch.«

    Michael räusperte sich. »Wir können es leider nicht ändern. Selbst wenn wir wollten, ein Sturm zieht auf, und wir müssen uns darauf vorbereiten. Und jeder von uns muss seine Aufgaben erfüllen.«

    Er runzelte die Stirn.

    »Das bedeutet, dass wir alle erst einmal die Vergangenheit aufarbeiten müssen. Taliel und Melissa waren ja bereits dabei, und wir haben einiges erfahren. Doch leider ergeben sich für jede Antwort neue Fragen. Und obendrein ist Ridael verschwunden. Wir haben also an allen Ecken und Enden Probleme.«

    »Ridael ist fort?« Melissa blickte Michael entgeistert an.

    »Er hat sich aus dem Staub gemacht, kurz nachdem Taliel auf Uriel losgegangen ist.«

    Melissa senkte den Kopf. »Mistkerl«, zischte sie leise.

    »Wie dem auch sei«, sagte der rothaarige Engel, »Melissa, es gibt einiges, dass wir nicht verstehen. Wir haben etwas gefunden, und es betrifft dich. Es würde uns freuen, wenn du uns hilfst, dieses Rätsel zu lösen.«

    »Nur zu gerne«, sagte sie, »solange ER hier bleibt.« Sie deutete auf Azrael. Dieser nickte nur.

    »Mum!«, maßregelte Sunael ihre Mutter. »Jetzt mach aber mal einen Punkt. Wenn du auf jemanden wütend sein willst, dann auf mich. Ich habe damals geahnt, dass etwas passieren würde, und ich habe alles dafür getan, dass Taliel mich wieder ins Leben zurückholen kann. Ich habe mein eigenes Leben dafür riskiert, um überhaupt die Chance zu haben, zurückkehren zu können. Also bitte, Mum, sei nicht wütend auf Azrael, sondern auch auf mich.«

    Melissa fixierte Azrael für einige Sekunden, ehe sie sich ihrer Tochter zuwandte.

    »In Ordnung, Virginia. Also, worum geht es Michael?«

    »Ich würde es gerne mit dir unter vier Augen bereden, wenn das okay ist.«

    »Mach doch nicht so ein Geheimnis daraus«, protestierte Auriel. »Es geht uns auch etwas an.«

    »Tut mir leid«, entgegnete Michael kühl. »Aber in diesem Fall muss ich dich leider erst einmal da raushalten.«

    »Dann würde ich wenigstens gerne wissen, was los ist«, mischte sich Sunael ein. »Sie ist meine Mutter.«

    Michael ließ einen tiefen Seufzer vernehmen. »Habt ihr eigentlich alle Tomaten in den Ohren? Ich sagte ›unter vier Augen. Das heißt, nur Melissa und ich!«

    Seine Stimme war mehr ein tiefes Grollen.

    »Ich habe nichts dagegen«, versuchte Melissa die Situation zu beruhigen.

    »Gib‹ dir nen Ruck.« Azrael hatte sich bis eben aus der Diskussion herausgehalten, jedoch hielt er es für das Beste, wenn zumindest Sunael bei

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