Mobbing unter Freunden: Chancen und Abgründe sozialer Interaktion im digitalen Zeitalter
Von Allan Guggenbühl
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Buchvorschau
Mobbing unter Freunden - Allan Guggenbühl
Inhalt
Cover
Impressum
Titel
1. Schlägereien und verbale Gemeinheiten werden peinlich: der Durchbruch der Zivilisation
Die Kündigung
Gewaltverzicht als Kulturleistung
2. Ausrichtung auf die Gemeinschaft
Analogieschlüsse
Der Irrglaube an das Primat der Denkleistungen
Sind unsere Begründungen mentale Spielereien?
Die Chance der Vergleiche mit der Tierwelt
Unser Verhalten wird grösstenteils von unserem Kollektiv bestimmt
Distinktionscodes
Kleine Handlungen verbergen wichtige Informationen
Auf keinen Fall auffallen
Die Hoffnung auf Gegenleistung
Das Problem der ‹free riders›
Unser zwiespältiges Verhältnis zur Kultur
Schattenmotive
Kulturcodes
3. Das trügerische Selbstbild
Das Selbstbild spiegelt nicht unsere Persönlichkeit wider
Das Selbstbild als Anpassungsleistung
Funktion des Selbstbildes: Eigenpropaganda!
Das Selbstbild dient der Krisenprävention
Krisen erlauben uns einen Blick in die Tiefe unserer Seele
Selbsttäuschungen als Zeichen psychischer Gesundheit
4. Die Kunst der Umdeutung
Unsere Fähigkeit zur Manipulation
Wem kann man vertrauen?
Die Suche nach Hinweisen
Testfragen und Umnebelungsthemen
Gezieltes abaissement
Gruppenidentifikationen
Der Gruppentest
Respekt vor Tabus
5. Wie werde ich jemanden los?
Die Taktik des Mobbers
Wieso mobben wir?
Mobbing gehört zum Grundrepertoire menschlicher Verhaltensweisen
Mobbing als Kehrseite unserer Anpassungsfähigkeit
Originelle Menschen muss man mobben
Gefährdung eines Gruppenstandards
Tabubrecher
Unbewusste Mobbingstrategien
Techniken der jeweiligen Gruppen einsetzen
Hohe Sozialkompetenz erleichtert Mobbing
Der Andere soll sich blossstellen
Ausgrenzung dank vertrauensvollen Informationen und Quali-Gesprächen
Prosoziale Argumente
Bullshit
Mobbing geschieht unbewusst
6. Mobbingtaktiken
Kompliziere die Sache!
Ausseninstanzen zitieren
Fachwörter gezielt einsetzen
Der Andere soll sich als schwach und fehlerhaft erleben
Immer in Übereinstimmung mit deinem Gewissen handeln
Verwirrung nutzen
Gegenangriffe vor dem Angriff auslösen
Feindbilder aufbauen
Gezielt loben
Abhängigkeiten kreieren
Sich als Opfer deklarieren
7. Gegenkräfte
Die Sehnsucht nach Zugehörigkeit
Pflege der natürlichen Skepsis
Überschaubare Betriebe
Pflege deine Feinde
Abaissement du niveau mental
‹Dirty jokes› und doofe Bemerkungen
Alltagsrituale
Wohin mit dem emotionalen Abfall?
Massnahmen gegen den Informations-Tsunami
Auseinandersetzungen statt Lösungen
8. Digitalisierung und Mobbing
Reitfreunde
Die problematische Aussage
Virtuelle Welt, reales Mobbing
Töne austauschen
Missverständnisse erleichtern das Gespräch
Details verraten uns
Gespräche sind Minenfelder
Die Kunst des Vertrauens
Unsere natürliche Konfliktscheu
Schriftliche Kontakte kaschieren die Persönlichkeit
Das exklusive Zweiergespräch
Ein Handy wir sind
Das Geflüster der heissblütigen Geliebten
Die Einnahme des Richterstuhls
Shitstorms als Anbindungsakte
Die Verlockungen der grossen weiten Welt
Der Auftritt unserer inneren Monster
Die sozialen Medien als Schaubühne
Der «Pornolehrer»
Machen die sozialen Medien einsam?
Streit gehört zu Freundschaften
Friends sind nicht immer Freunde
Das Handy als Ersatzobjekt
Emotionen verbinden
Die Kehrseite von Gemeinschaften
Die Entsorgung von emotionalem Abfall
Treppenhausgeflüster als sozialer Kitt
Der Wert der leichten Zerstreuung
Kollektive Lernprozesse
Über den Autor
Über das Buch
Allan Guggenbühl
Mobbing unter Freunden
Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
3., korrigierte Auflage 2023
Überarbeitete und ergänzte Neuauflage des 2008 erschienenen Titels «Anleitung zum Mobbing» (ISBN 978-3-7296-0754-5)
© 2021 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Korrektorat: Gregor Szyndler, www.korrigieren.biz
Umschlaggestaltung: bido-graphic, Muttenz
Coverfoto: Thomas Gierl
eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar
ISBN ePub 978-3-7296-2366-8
ISBN mobi 978-3-7296-2367-5
www.zytglogge.ch
Allan Guggenbühl
Mobbing unter Freunden
Chancen und Abgründe sozialer
Interaktion im digitalen Zeitalter
empty1.
Schlägereien und verbale Gemeinheiten werden peinlich: der Durchbruch der Zivilisation
Die Wirklichkeit verletzt dich pausenlos, sie ist ein extrem unerfreulicher Ort.
Woody Allen¹
Die Kündigung
«Mit grossem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen, dass Herr Waltisburger auf Ende Juli seinen Rücktritt eingereicht hat!», teilt der Klinikchef seinen Mitarbeitern mit. In der Runde reagiert das Team der Bettenabteilung betroffen, der Arztkollege von der Medienabteilung verlegen und die neue Mitarbeiterin des Pflegedienstes erstaunt. Was war geschehen? An den Fähigkeiten von Herrn Waltisberger zweifelt niemand.
Er gilt als innovativ, engagiert und als guter Organisator. Gegenüber seinen Mitarbeitern und den Patienten war er stets korrekt und freundlich. Er ist auch in der Öffentlichkeit ein gern gesehener Redner und hat entscheidend dazu beigetragen, dass seine Abteilung einen ausgezeichneten Ruf hat. Herr Waltisberger gelang es auch, einige wichtige Forschungsaufträge an Land zu ziehen und ein gutes Betriebsklima zu schaffen. Offensichtlich ist er eine beliebte und hoch kompetente Persönlichkeit.
Oder ist er eher ein grosses Ärgernis? Aus der Sicht einiger Fachkollegen, von ein paar Mitarbeitern und von der Mehrheit der anderen Abteilungschefs ist eine solche Person nicht tragbar. Er gefährdet interne Abläufe und Vorrechte und ist schon alleine wegen seiner Energie ein Ärger.
Ihn loszuwerden verlangte einen gewissen Effort. In einer zivilisierten Institution schickt man keinen Schlägertrupp los und kontaktiert keinen Scharfschützen, sondern man geht geschickter vor: Bei einem wichtigen Forschungsauftrag fand man formale Gründe, wieso Herr Waltisberger ihn nicht übernehmen konnte; eine Mitarbeiterin, die er wegen Inkompetenz entlassen hatte, bezichtigte ihn des sexuellen Übergriffs und bei der Direktion konnte man ausserdem durchsetzen, dass das Budget von Waltisberger wegen des Projekts 22 gekürzt wurde. Als dieser schliesslich gezwungen war, einen Kongress zu seinem Forschungsgebiet abzusagen, weil es plötzlich an Räumlichkeiten mangelte, war klar, dass er demissionieren musste. Allseits bedauert man seinen Rücktritt und bei seiner Verabschiedung werden sicher salbungsvolle Worte vom Departement, von der Direktion, seinen Kollegen und Kolleginnen ertönen. Man ist ja auch ein Problem los.
Bei dieser Szene handelt sich um ein Geschehen, wie es sich schon Tausende Male in Firmen, in Banken, in Staatsbetrieben, in der Politik, in Kulturvereinen oder in der Kirche abgespielt hat. Ein Kollege muss zurücktreten, weil er sich zu sehr einsetzt, zu gute Ideen einbringt oder weil er nicht faul ist. Ein Mitarbeiter wird herausgedrängt, weil er die Privilegien der anderen angreift oder einfach irgendwie nicht dazu passt. Natürlich: Offen dürfen wir unsere Ablehnung nicht zeigen und es wäre peinlich, wenn man die wahren Gründe nennen würde. Niemand gesteht sich ein, dass man eine Kollegin aus dem Büro heraushaben will, weil sie zu viel mit ihren männlichen Kollegen flirtet, viel Lob bekommt und ausserdem immer Blusen mit doofen Ausschnitten trägt – weil man sie als bedrohlich empfindet und deswegen loswerden will.
Selbstverständlich geschieht das alles zivilisiert, unter strikter Wahrung der Façon und Etikette. Auch wenn unser Urteil über einen Arbeitskollegen oder sogar über einen Verwandten endgültig ist – wir bleiben zivilisiert. Der zivilisierte Mitteleuropäer setzt andere Mittel ein: die Intrige, Hinterlist, Täuschung, Unterstellung oder ein Argument aus dem Fundus der Cancel Culture. Wer offensichtliche Mittel wie persönliche Beschimpfungen oder Gewalt einsetzt, disqualifiziert sich zweifach. Einerseits entlarvt er sich als Rohling und andererseits verrät er auch seine Inkompetenz. Er versteht es nicht, Kulturcodes zu seinem Vorteil einzusetzen, sondern er greift auf archaische Mittel zurück.
Wenn man als Schüler einen Kollegen nicht mag, kann man der Lehrerin gegenüber beiläufig erwähnen, dass er spickt, ein Pornoheft unter dem Tisch hat oder sich abschätzig über die Schule äussert. Wenn man in einer Firma gegen Kollegen vorgeht, erwähnt man dem gemeinsamen Chef gegenüber, dass man sich Sorgen um die Qualität der Arbeit macht, und fragt besorgt nach, wie es dem Kollegen gehe, er sei ja so oft krank und darum nicht verlässlich. In der Schule können die Qualitätskriterien des Teams zitiert werden, wenn man einen Lehrerkollegen loswerden will, und in einer Firma spricht man vielleicht von mangelnder Konfliktkompetenz, wenn einem ein Kollege nicht passt. Man muss dazu fähig sein, ohne Gesichtsverlust, ohne unfreundlich zu wirken und ohne seinen guten Ruf zu verlieren, gegen einen Kollegen zu intrigieren. Machtkämpfe finden heute nicht offen statt. Wenn wir uns durchsetzen wollen, müssen wir die Codes des Systems – sei es ein Bundesbetrieb, eine Firma oder eine Bildungsinstitution – zu unserem Vorteil einsetzen.
Gewaltverzicht als Kulturleistung
Dass wir Konflikte ohne Gewalteinsatz lösen, ist ein Fortschritt und ein nobles Ziel.² Während Jäger und Sammler relativ friedlich zusammenlebten und nicht zu extremen Gewalteinsätzen neigten, hat sich die Gewalt bei sesshaften Kulturen enorm gesteigert. In den meisten Gesellschaften war es üblich, dass man die eigenen Ideologien und Interessen mit Gewalt durchsetzte. Wenn jemand bereit war, Gewalt einzusetzen, oder zur Brutalität neigte, wurde er sogar bewundert und hatte Chancen auf eine hohe Position und auf Ehre.
Gewalt wurde nicht als etwas Pathologisches verstanden, sondern als legitimes Mittel, um sich gegen Konkurrenten und vor allem gegen Fremdlinge durchzusetzen. Kriege galten als normales Mittel, um sich gegen andere Stämme, Nationen oder Clans durchzusetzen.
Gemäss einer Untersuchung von Ember und Ember zogen 75 % der primitiven Gesellschaften mindestens zweimal jährlich in den Krieg.³ In der nubischen Grabstätte in Gebel Sahaba fand der Archäologe Fred Wendorf heraus, dass über 40 % der Toten vor 12 000 bis 15 000 Jahren eines gewaltsamen Todes gestorben waren!⁴ In prähistorischen Gesellschaften scheint eine konstante Bereitschaft bestanden zu haben, in den Krieg zu ziehen, das Nachbardorf, den verwandten Stamm oder die Nachbarinsel zu zerstören.
Gewalt war alltäglich. In Crow Creek in South Dakota wurde eine Grabstätte gefunden, in der über 500 Männer, Frauen und Kinder begraben liegen. Die meisten von ihnen wurden richtig abgeschlachtet. Vor ihrem grausamen Tod wurden sie skalpiert und gefoltert.⁵ Gewalttätige Auseinandersetzungen gab es auch unter den Bewohnern der arktischen Regionen von Kanada. Die Athapaskan-Indianer sollen im 19. Jahrhundert die Chugach-Eskimos überfallen und massakriert haben. Die höchste Prozentzahl an Toten bei einem kriegerischen Konflikt erlitten nicht Frankreich, England und Deutschland während des Ersten Weltkriegs, wie man glauben würde, sondern die Yanomami des Amazonas oder die Jivaro in Ecuador.
Todesfälle verursachten jedoch nicht nur kriegerische Auseinandersetzungen, auch in friedlichen Zeiten waren die Mordraten in wenig entwickelten Gesellschaften höher als in der sogenannt zivilisierten Welt. Die Mordrate unter den indianischen Dorfbewohnern von Illinois war 140-mal höher als in Grossbritannien und 70-mal höher als in den USA in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts.⁶
Gewalt war auch im Mittelalter als Mittel zur Durchsetzung des eigenen Rechts legitim. Oft arteten Konflikte in grausame Gewaltexzesse aus, wie dieser Bericht aus dem Jahre 1063 beschreibt:
Als sich der König und die Bischöfe zum Abendgottesdienst versammelten, kam es wegen der Aufstellung der bischöflichen Stühle wieder zu einem Tumult, nicht wie das vorige Mal durch einen zufälligen Zusammenstoss, sondern durch einen seit Langem vorbereiteten Anschlag. Denn der Bischof von Hildesheim, der die einmal erlittene Zurücksetzung nicht vergessen hatte, hatte den Grafen Ekhert mit kampfbereiten Kriegern hinter dem Altar verborgen. Als diese den Lärm der sich streitenden Männer hörten, stürzten sie rasch hervor, schlugen auf die Fuldaer teils mit Fäusten, teils mit Knüppeln ein, warfen sie zu Boden und verjagten die über den unvermuteten Angriff wie vom Donner Gerührten mühelos aus der Kapelle der Kirche. Sogleich riefen diese zu den Waffen; die Fuldaer, die Waffen zur Hand hatten, scharten sich zu einem Haufen zusammen. Brachen in die Kirche ein und inmitten des Chores und der Psalmen singenden Mönche kam es zum Handgemenge: Man kämpfte jetzt nicht mehr nur mit Knüppeln, sondern mit Schwertern. Eine hitzige Schlacht entbrannte und durch die ganze Kirche hallten statt der Hymnen und geistlichen Gesänge Anfeuerungsgeschrei und das Wehklagen der Sterbenden (...). Der König erhob zwar währenddessen laut seine Stimme und beschwor die Leute unter Berufung auf die königliche Majestät, aber er schien auf taube Ohren zu predigen.⁷
Wer sich im Mittelalter ungerecht behandelt oder beleidigt fühlte, griff zur Selbsthilfe. Fehden wurden persönlich ausgetragen. Die Kontrahenten wurden geschädigt, bis sie bereit waren, einzulenken und die an sie gerichteten Forderungen akzeptierten. Vor allem die Adligen hatten das Recht, selbst für Recht und Ordnung zu sorgen. Sie durften sich wehren, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlten. Das Fehderecht hatte unzählige gewalttätige Auseinandersetzungen zur Folge. Erst mit dem Ewigen Landfrieden von 1495 setzte sich langsam das staatliche Gewaltmonopol durch. Konflikte wurden fortan nicht immer und nur mit dem Schwert oder der Faust gelöst, sondern allgemeine Regeln der Konfliktbewältigung setzten sich durch. Das archaische Fehderecht wurde eingeschränkt und Duelle wurden verboten.
Gewalt wurde nicht nur dank dem Durchbruch der Zivilisation eingeschränkt, sondern es gibt auch demografische Gründe. Der Rückgang der Gewalt hängt auch mit der veränderten Bevölkerungsstruktur zusammen. Gemäss Gunnar Heinson gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Ausmass der Gewalt und der ‹youth bulge›.⁸ Damit ist der Anteil der unter 15-Jährigen in einer Gesellschaft gemeint. Je höher der Anteil der Jungen, desto grösser die Gewaltbereitschaft und die Wahrscheinlichkeit kriegerischer Auseinandersetzungen. Bei Familien mit vielen Kindern ist es wahrscheinlicher, dass junge Männer für Gewalteinsätze zur Verfügung stehen. Da sich die Bedeutung des Einzelnen für den Fortbestand der Familie reduziert, sind junge Männer eher bereit, sich für ein gesellschaftliches Ideal, eine Ideologie oder die Familienehre zu opfern. Die emotionale Bindung an das einzelne Kind wird schwächer. Die Familie kann den Verlust eines Sohnes eher verkraften, wenn noch zwei, drei weitere Söhne da sind. Bei einem Einzelkind oder zwei Söhnen wäre der Fortbestand der Familie gefährdet. Gesellschaften, die einen hohen Anteil an jungen Männern aufweisen, zeichnen sich durch ein beträchtliches Unruhepotenzial aus.
Wenn Familien im Durchschnitt drei oder vier Söhne aufziehen, dann gibt es mehr junge Männer, die bereit sind, für die Familie, den Stamm, das Tal oder eine Religion zu kämpfen. In der Schweiz wurde dieses Problem früher durch fremde Kriegsdienste gelöst. Die Antwort auf den Überschuss an jungen Männern waren Solddienste. Die schweizerischen Regierungen gestatteten fremden Ländern das Anwerben von Söldnern.
Im 16. und 17. Jahrhundert dienten zwischen 40 000 und 70 000 Schweizer in den Armeen Frankreichs, der Niederlanden, des Piemonts, Sardiniens und Englands. Das eigene Aggressionspotenzial wurde ausgelagert, die ‹youth bulge› kommerziell genutzt.⁹ Politische Ambitionen wurden begraben.
Heute sind in Ländern wie Äthiopien, Afghanistan, Somalia, Niger, Mali, Pakistan, dem Irak, dem Kongo, dem Sudan und in den palästinensischen Gebieten über 40 % der Bevölkerung unter 15 Jahre alt. Wenn gleichzeitig das Ernährungsproblem gelöst und ein gewisses Bildungsniveau erreicht wurde, besteht die Gefahr, dass Konflikte gewalttätig ausgetragen werden. Bei obigen Ländern handelt es sich um jene Gebiete, in denen in den letzten Jahren Gewalt und Terrorismus leider sehr verbreitet waren.¹⁰ Die Demografie scheint einen Einfluss auf die Art und Weise zu haben, wie wir mit Konflikten umgehen. In der Schweiz und in Deutschland sind lediglich 21 bzw. 19 % der Bevölkerung unter 15. Mit der sinkenden Anzahl Jugendlicher sinkt auch die Gewaltquote. Oder mit anderen Worten: Die Alten meiden körperliche Auseinandersetzungen – wenn sie aggressiv sind, dann setzen sie andere Mittel ein.
Der Blick in die Geschichte und auf andere Kulturen zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit gross ist, dass wir in einer der friedlichsten Kulturen leben, die je existierten. Offene und rohe Gewalt ist zurückgegangen. Es gibt in der Stadt Zürich deutlich weniger Wirtshausschlägereien als vor hundert Jahren, die Dorfjugend der Prättigauer, Engadiner, Toggenburger und Walliser Dörfer geht viel weniger aufeinander los, als noch vor 150 Jahren und heute kann man sogar des Abends sicher von Basel nach Zürich reisen. Das Ausmass der Gewalt hat abgenommen. Natürlich erhöht sich dadurch nicht das subjektive Sicherheitsgefühl. Parallel zur Reduktion der Gewaltquote haben die Besorgnis und die Angst vor Gewalt zugenommen. Gewalt wurde zu einem Medienthema, über das wir allgemeine Ängste und Besorgnisse abhandeln. Unsere Sensibilität der Gewalt gegenüber hat zugenommen, sie wird öffentlich registriert und wir rufen nach Massnahmen.
Wer sich heute durchsetzen will, wählt subtilere Methoden. Faustschläge, der donnernde Zornausbruch oder der Einsatz von Waffen sind Mittel, die Randfiguren der Gesellschaft einsetzen. Nicht integrierte Jugendliche, verwirrte Alkoholiker oder verblendete Fanatiker greifen zur Gewalt. Sie setzen sich damit sogleich ins Unrecht, werden vielleicht sogar bestraft und tragen eine Zwei auf dem Rücken.
Endnoten
¹In einem Interview im ‹ZEITmagazin-Leben› 51/07, S. 30.
²LeBlanc, St. (2003): ‹Constant Battles›. New York: St. Martins Press.
³Ember, C. & Ember M. (1990): ‹Cultural Anthropology›, 6. Auflage. New York: Prentice Hall.
⁴Wendorf, F. & Schild, R. (1986): ‹The Wadi Kubbanijy Skeleton: a Late Paleolithic Burial from Southern Egypt›. Dallas: Southern Methodist University Press.
⁵Keeley, L. (1996): ‹War before Civilization›. New York: Oxford University Press, S. 68 ff.
⁶Ebenda.
⁷Althoff, G.; Goetz, H.-W. & Schubert, E. (1998): ‹Menschen im Schatten der Kathedrale›. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 5.
⁸Heinsohn, G. (2006): ‹Söhne und Weltmacht›. Zürich: Orell Füssli.
⁹Widmer, S. (1971): ‹Illustrierte Geschichte der Schweiz›. Band 2, Zürich: Benziger, S. 241 ff.
¹⁰ Äthiopien war in kriegerische Auseinandersetzungen in Somalia verwickelt und führte Krieg in der Tigray-Provinz, der furchtbare Darfur-Konflikt im Sudan führte zu Hunderttausenden von Toten und in Afghanistan kämpfte die NATO von 2001 bis 2021 gegen die Al Kaida.
2.
Ausrichtung auf die Gemeinschaft
Eine Frau trifft sich heimlich mit einem Mann für ein Schäferstündchen. Hinter einem Gebüsch kommt man rasch zur Sache. Sex ist angesagt. Weil ihr heimlicher Liebhaber eine tiefe soziale Position einnimmt, ist Vorsicht geboten. Sie müssen aufpassen, weil der Mann der Frau eine einflussreiche Stellung in ihrer Gemeinschaft innehat und es auf keinen Fall tolerieren würde, wenn sich seine Frau mit jemand anderem tritt. Ihr Liebhaber würde geschlagen, getreten und von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Nun ist der Mann erregt. Er beginnt sich zu vergessen und will einen Lustschrei ausstossen. Bevor es jedoch so weit kommt, hält ihm die Frau schnell die Hand vor den Mund. Der Schrei könnte sie verraten.
Beim Personal dieser Szene handelt es sich natürlich nicht um Menschen, sondern um Affen. Die Szene wurde vom Biologen Frans de Waal bei einer Gruppe gefangener Schimpansen beobachtet.¹¹ Offensichtlich sind die Menschen nicht die Einzigen, die Handlungen verbergen und sich gegenseitig austricksen. Auch unsere nächsten Verwandten in der Tierwelt sind dazu fähig. Interessant sind die Details: Die Schimpansin verhindert durch ihre Handlung einen Schrei, der sie beide verraten könnte. Sie wendet eine potenzielle Gefahr ab, der sie sich und ihren Kumpanen durch die Eskapade aussetzt. Sie scheint sich bewusst zu sein, dass sie mit ihrem Verhalten einen Code bricht: Als Schimpansen-Weibchen ist man einem Männchen zugeordnet und darf sich nur mit ihm abgeben. Fremdgehen ist verboten und wird geahndet. Die Handbewegung an den Mund ihres Liebhabers zeigt, dass die Schimpansin diesen Zusammenhang realisiert. Sie weiss, dass ihre Tat Ärger auslösen kann. Sie unterscheidet zwischen Richtig und Falsch, hat einen Gruppencode internalisiert. Statt diese Verhaltensregel zu respektieren, wählt sie eine andere Strategie. Sie setzt einen Trick ein, um ihr Verhalten zu verbergen und sie maskiert sich und täuscht ihren Gatten. Die Eskapade wird versteckt. Aus moralistischer Sicht verhält sie sich unehrlich, falsch und verlogen! Die Schimpansin handelt doppelbödig. Ist damit der erste Schritt