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Kosmos Mensch: Personale Psychotherapie. Wege zur Selbstwerdung
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eBook746 Seiten9 Stunden

Kosmos Mensch: Personale Psychotherapie. Wege zur Selbstwerdung

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Über dieses E-Book

Ein neues, differenziertes Menschenverständnis

Der Mensch ist ein Kosmos, unendlich und faszinierend. Es ist ein großes Unterfangen, dieses weite Universum zu erforschen und es dabei in seinen vielen Parametern zu erfassen. Und es ist gleichzeitig ein wichtiges Unterfangen: Denn das Terrain ist keineswegs bereits durchmessen und geprüft. Im Gegenteil: Wer Klarheit erstrebt und sich dem Wesen des Menschen sowie einer philosophischen Hermeneutik verpflichtet fühlt, wird in dem vorliegenden psychiatrischen Werk genügend Material und Anreize sowie ungewohnt neue Ansichten und Erkenntnisse finden.
Auf der Suche nach Wahrheit darf es keine üblichen Ehrerbietungen an Ärzte oder Philosophen geben, schon gar keine Schonung. In einigen modernen Theorien haben althergebrachte Begriffe und Metaphern eine Neubelebung erfahren und werden in veränderten Bedeutungen gebraucht. Auch hier ist immer kritische Reflexion gefragt.
Doch Dieter Spazier geht mit seinem Buch noch weiter: Dem erfahrungsgerechten Menschenbild gehen die Erkenntnis von Grundstrukturen und wertneutrale Formen des Denkens voran. Dazu gehören Glaubwürdigkeit und eine couragierte Haltung gegenüber vordergründigen Konventionen, eine neu gelebte Mitmenschlichkeit: Psychotherapie bleibt eine Aufgabe des Menschen am Menschen.
Der Psychotherapeut muss, wenn er seinen Auftrag ernst nimmt und umfassend versteht, begreifen, was der kranke Mensch ist, wie er handelt, worüber er nachdenkt, was er empfindet, was auf ihn einwirkt. Das schließt auch ein, wie sich ein Mensch durch Technik oder Kunst ausdrückt, wie ihn seine Anlagen, Bedürfnisse und Fähigkeiten zu einem besonderen, einzigartigen Menschen machen.

- Einander-Verstehen und interpersonale Kommunikation als Kern von Psychotherapie, Psychiatrie und hermeneutischer Philosophie
- neue, revolutionäre Fragestellungen und philosophische Rückbezüge
- praktische Fallgeschichten und Anmerkungen zur Therapeutenausbildung
- Schwerpunkte: Menschenbild, Persönlichkeit, Charakter, Merkmale und Aspekte der personalen Psychotherapie, Sprache der Psychotherapie u.v.m.
- fundierte Abhandlung, die den Blick öffnet für ein neues Verständnis von Psychotherapie


Einander verstehen: Der Therapeut als Zuhörer und Lernender

Die interpersonale Kommunikation soll Wege erschließen und ein psychotherapeutisches Handeln möglich machen. Dabei ist zu bedenken: Die Psychotherapie geht genau besehen der Philosophie dadurch voraus, indem sie das eigentliche Erfahrungsfeld ist, auf welchem der Wahrheit des Menschseins auf die Spur gekommen werden kann. Für den Psychotherapeuten soll die Lebenswelt seines Patienten weitläufig und auch konkret vorstellbar werden.
Vermittels sympathetischer Aneignung kann sich der Therapeut die jeweilige Lebensform seines Patienten vorstellen, er kann soziale Mängel oder schädliche Gesellschaftsstrukturen erkennen. Und dennoch muss ihm bewusst sein, dass er es mit einem besonderen, individuellen Menschen mit einer je eigenen Erfahrung zu tun hat. Damit verbunden ist die Feststellung, dass Welt und Gesellschaft nicht so beschaffen sind, wie sie für den Menschen besonders erträglich wären.

Standardwerk für Psychiater, Philosophen und Soziologen

Dieter Spazier hat dank seiner sechzigjährigen Praxis und Erfahrung als Psychiater hier ein Lebenswerk geschaffen, das nicht nur für Psychiater, Ärzte und Psychologen wichtig ist, sondern auch für Philosophen, Pädagogen und im Sozialbereich Tätige. Mit Verweis auf zumeist unreflektiert Gewohntes, das die Praxis bestimmt, versucht er den Blick zu öffnen für ein neues unverstelltes Verständnis, für eine neue Naivität, für eine Abkehr vom gewohnten Terrain.
Dabei ist ihm wichtig, dass sich der Psychotherapeut philosophische Grundlagen und Hintergründe als Hilfen aneignet, da diese ihn für ein neues Verständnis des Menschen aufgeschlossen machen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Dez. 2022
ISBN9783347788886
Kosmos Mensch: Personale Psychotherapie. Wege zur Selbstwerdung
Autor

Dieter Spazier

Dr. Dieter Spazier, geb. 1934 in Worms am Rh. Ab 1957 in der medizinisch-anthropologischen Schule Viktor von Weizsäckers in Heidelberg. Facharzt für Neurologie und Psychiatrie. Psychotherapeut. Forensischer Psychiater. 1966–1969 Leiter der Psychiatrischen Univ.-Poliklinik Heidelberg. 1971–1985 an der Universität Heidelberg Leiter eines eigenkonzeptualisierten universitätsunabhängigen psychotherapeutischen Beratungszentrums. Gleichzeitig psychiatrische Leitung eines halbstaatlichen Behandlungszentrums (Nowhere-House) Ludwigshafen. 1987–2019 niedergelassener Facharzt in Hamburg. Buchveröffentlichungen: · Grenzübergänge. Psychotherapie als kollektive Praxis (mit J. Bopp). 1975 · Nowhere. Expeditionen in die Unwegsamkeit der Drogenszene (mit F. Theysohn). 1981 · Der Tod des Psychiaters. Die gefährliche Zähmung des Irrationalen – Gedankennachspiel zu einem Kriminalfall. 1982 · Hanglage Süllberg. Roman. 1990 · PsychiaterSein. Karl Peter Kisker – Eine Auswahl seiner Schriften (hrsg. mit W. Machleidt und T. Passie). 2007

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    Buchvorschau

    Kosmos Mensch - Dieter Spazier

    Einführung

    Die vorliegende Schrift will weder lehrbuchartige Zusammenfassung noch technische Anleitung sein. In ihr soll versucht werden, in geeigneten sprachlichen Formen eine seit langem praktizierte Praxis von Psychotherapie vorzustellen. Damit wird informiert und gewiss auch provoziert. Wer „vom Fach" ist, mag Gründe haben, sich mehr oder weniger kritisch, zugleich konstruktiv zu äußern. Dabei würde das Eigene mit dem Anderen verglichen und Richtiges und Falsches, Vorteilhaftes und Nachteiliges gegeneinander abgewogen. Es sollte, und dies wünscht sich der Autor besonders, genügend Leser anregen und sie durchaus auch eigene und andere Wege finden lassen. Auf solche Weise eröffnete sich eine Diskussion, die dem weiteren Nachdenken über das Thema nur nützlich sein kann.

    Da in der personalen Psychotherapie alles in unabsehbar zahlreichen, im Grunde endlos vielen Formen und Bewandtnissen des menschlichen Lebens zur Sprache gebracht wird, muss ein Text wie der vorliegende ein umfangreicher sein. Ihn in eine dramaturgisch wirkungsvolle und spannende kurze Form zu bringen, ist nicht erlaubt. Ebenso wenig könnte eine wie sonst wissenschaftsübliche Gliederung in Betracht kommen.

    In der Psychotherapie interagieren zwei Kosmen miteinander. Jedes Mal entsteht im Versuch des Einander-Verstehens ein Drittes als ein neues Wesen. Ein Bericht davon kann weder vollständig noch systematisch gegliedert sein. Der Autor möchte seinem Stoff gerecht werden und geistige Offenheit bewahren. Ihn verpflichtet die neue philosophische Hermeneutik ¹ als die Pfadfindung zur Wahrheit. Vielleicht eignet sich der Autor als Lotse in einer vielfältigen Welt, Er ist kein Vorauswisser. Er erinnert Aspekte einer Verstehensgeschichte immer wenigstens zweier Menschen, die miteinander kommuniziert haben.

    Das kommunikative Handeln stellt sich als Beziehungsgeschichte dar. Ihr Chronist ist der Psychotherapeut als eine Art Fährmann.

    Die sich hier abzeichnenden geschichtsphilosophischen Fragen kennzeichnen den Versuch, dem alles überwölbenden Problem der historischen Hermeneutik nachzuspüren.² Es wird sich auf eine gemeinsam bipersonale Erfahrung bezogen. Das Fachliche daran ist notwendiger Weise subjektiv. Es entspringt der Selbstbetroffenheit.

    Was die kommunikative Situation der Psychotherapie kernhaft ausmacht, sperrt sich gegen einen vollständigen Bericht. Einen solchen kann es nicht geben. Was beschrieben werden soll, ist nicht etwas, vor das sich wie vor einen Gegenstand gestellt werden kann.

    Der Leser wird sich einen Weg zum Verständnis dadurch bahnen, dass er sich nach eigenen Erfahrungen in einer der beiden Personen zu erleben sucht. Der Autor ist im rollengemäßen Handeln authentisch engagiert. Doch ist er nicht gedoppelt anwesend, also nicht ein zweites Mal als ein sich über die Schultern schauender Forscher dabei.

    Was sich gemeinsam im kommunikativen Handeln von Therapeut und Patient zuträgt, kann nicht neutral und sozusagen unbeteiligt beobachtet werden.

    Was der Therapeut hier erinnernd schreibt, enthält Unschärfen und ins eigene Leben nicht einbeziehbare Felder. Aber, wenn er nicht unglaubwürdig werden will, muss es die korrekte nicht von subjektiv Störendem abgelenkte, sondern alles Wesentliche erfassende Erinnerung sein. Immer wach muss er verorten, was im eigenen Raum, was in der Sphäre des Anderen und was im gemeinsamen Raum das personal Kommunizierbare ist. Der therapeutisch erworbene Zugewinn hat die besonderen Eigenschaften der über das Selbst hinaus wachsenden Geschichte und des geweiteten Raumes.

    In langjähriger Erfahrung ist dem Autor deutlich geworden, dass die rückwärtsgewandte kausalistische Ursachensuche (nach dem naturwissenschaftlichen Kausalnexus) nicht mehr die der Psychotherapie gestellte Aufgabe sein konnte, sondern die auf Zukunft gerichtete , also noch zu leistende Gestaltung und Umgestaltung des Bisherigen, also prospektive Leistung.

    Psychotherapie ist eine dem prospektiv-hermeneutischen Prinzip verpflichtete Aufgabe, also das Erschaffen des noch nicht gebauten Selbst in neu zu gewinnende Räume hinein (auch als Raumerschaffung, i.e. Topopoesis vom Autor apostrophiert in: Spazier/Bopp: Grenzübergänge. 1975. es 738). Allerdings musste die in der Terminologie der Freud’schen Psychoanalyse gebräuchliche Übernahme physikalischer Begriffe unbefriedigend bleiben. Daher bot sich der dem Chor im geistlichen Raum eingegebene Bedeutungsgehalt zur Übernahme an. Choropoesis bezeichnet zutreffender den sich von innen aufs jeweils notwendige Maß erweiternden geistigen Raum, der auch nicht – wie die ‚sich im Raume hart stoßenden Dinge‘ – mit den dinghaft besetzten Arealen der anderen Menschen und deren Dingen wie insgesamt den Weltdingen in unserer materiellen Welt kollidiert.

    Der Psychotherapeut wird sich auch außerhalb der leibhaftigen Begegnungen, die er regelmäßig mit seinem Patienten hat, auf diesen Umgang mit ihm besinnen. Gleichwohl wird er sich hüten, das therapeutische Geschehen, soweit es von ihm steuerbar erscheint, nach einem wiederholbaren Muster zu gestalten. Was in einem derartigen Muster als zunächst für unerheblich festgestellte Wiederholung und Rhythmik gehalten wird, droht im nächsten Schritt die Vorform von Theorie anzunehmen, um danach durch (vermeintlich) erkannte Gesetzmäßigkeiten über das konkret Erfahrene hinaus zu allgemeingültiger Theorie zu werden. Das besiegelte, ohne vielleicht bemerkt zu sein, das Ende der Therapie. Dem Therapeuten fehlte nämlich die naive Frische und Offenheit des Erlebens. Ihm unterliefe, dass er, von Sitzung zu Sitzung mehr, nur noch aufmerksam wäre für das, was der Theorie gerecht wird.

    Über das Medium eines Sprachtextes (was kein Pleonasmus ist!) ein Bild davon zu geben, was Psychotherapie, im Besonderen hermeneutische Psychotherapie ist, sträubt sich gegen die wissenschaftsübliche Systematisierung.

    Der Verfasser dieses Textes tritt unweigerlich aus der nativen Rolle des Therapeuten heraus. Was er unternimmt, hat das Kuriose, dass er im Grunde auch sich selbst nachspürt. Es wäre töricht und kaum zu etwas nütze, etwa nur das Patientenverhalten zu beschreiben. Dieses allerdings geschieht gerade in den sehr zahlreichen Publikationen, in denen sich kasuistisch an der Geschichte des Patienten, und zwar an seiner vortherapeutischen Biographie wie auch an den von ihm gemachten Äußerungen während der Therapie abgearbeitet wird.

    Es bleibt zumeist unbemerkt, dass der in der Fallgeschichte unbenamte (damit zur Figur gemachte) Patient in der Fachpublizistik zu einem beliebigen Gegenstand herabgestuft wird. So soll im Grunde davon überzeugt werden, dass die Theorie zutrifft.

    Derartig gestaltete Formen wissenschaftlicher Mitteilung mögen sich bei Gegenständen der Naturwissenschaften eignen. Psychotherapie kann dieses Schema nicht übernehmen. Obwohl von dem grundsätzlichen Nicht-Wissen-Können alle Philosophie ihren Ausgang nimmt, befindet man sich in der sokratischen Klemme. Freilich ist es falsch, daraus einen tatenlosen Pessimismus abzuleiten. Es gehört zur Bewegtheit menschlichen Geistes, Gedanken zu entwickeln, wie es ebenso geboten ist, Falschgedachtes zu markieren und wieder zu entfernen.

    Was der tätige Psychotherapeut über sein Tun berichten kann, muss er in der Beengtheit seiner Situation zu artikulieren versuchen. Er darf auf keinen Fall von seinem „Gegen stand", der hier der Mensch ist, weg in ein fremdes Lager überlaufen, wo sich in den bunten Kleidern wohlfeiler Theorien gefallen wird. Augenscheinlich genug befindet sich der Autor in einem Dilemma.

    Er ist Verhältnissen konfrontiert, die philosophische Themen sind, hier insbesondere die philosophische Hermeneutik (H. G. GADAMER) und die Sprachspiel-Lebensform-Philosophie (L. WITTGENSTEIN). Diese haben indessen noch keinen angemessenen Gebrauch am Gegenstand des psychisch kranken Menschen erfahren. Daher sieht sich der Autor vor die Aufgabe gestellt, diese Erkenntnisse der Hermeneutik wie auch der Sprachtheorie WITTGENSTEINSCHER Provenienz als am Menschen praktisch werdender Philosophie zu untersuchen. Er bewegt sich dabei auf einem bisher noch kaum bestellten Feld. Das rechtfertigt sich immer wieder aus der Tatsache, dass der basalen Beschaffenheit wie auch der großen Störanfälligkeit menschlichen Seins die gehörige Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Ohne diese Mühen ist kein Weiterkommen. Psychotherapie, wenn sie der ihr gestellten Aufgabe gerecht werden will, muss dezidiert philosophische Praxis sein. Biologische und (naturwissenschaftlich fundierte) psychologische Anthropologie-Entwürfe taugen nicht, den Menschen auch in seiner geistigen Dimension zu erfassen. Der Philosophie sind hier große Aufgaben gestellt. Sie müsste auf die originale Praxis dessen zugreifen, was thematisiert wird.

    Ein ziemlich hinderliches Fachwissen ist erheblich zu relativieren. Es muss der Mut zur Naivität aufgebracht werden. Gerade dieser Naivität scheint Ludwig WITTGENSTEIN, der selbst vor der Niederschrift seiner „Philosophischen Untersuchungen" sechzehn Jahre lang mit der universitären Philosophie ausgesetzt hatte, seine Gunst zu schenken. Es ist immer wieder vom Ursprung her zu denken bzw. in umgekehrter Richtung aus dem, was der geistige Überbau genannt wird, zum Ursprung zurückzufinden. Was uns begegnet, sind die manifesten Gebilde der Lebensformen. Es sind beschreibbare Manifestationen, die immer eine individuelle Handschrift zeigen. Diese lehnt sich vielfach aber an standardisierte Muster an. Ihr Inneres ist als Selbstbewusstsein wie in einer Sammellinse gebündelt. Darauf zuzugreifen, heißt sich besinnen. Im allgemeinen ist der historische Parameter einbezogen, wenn von Erinnern die Rede ist. In den Lebensformen konkretisiert sich menschliches Sein. Lebensformen sind die aktualhistorischen Tatsachen, die einem begegnen, wenn man dem Sein nachspürt. Es wäre voreilig, hier schon eine Beschreibung für das zu vermuten, was beispielsweise Ludwig BINSWANGER und nach ihm V. E. von Gebsattel, Hans TRÜB, Medard BOSS u. a. Daseinsanalyse genannt haben. Es bedarf einer besonderen kritischen Auseinandersetzung damit, was sich heute als „Daseinsanalyse" versteht.

    Vor dem nächsten Schritt, dass Lebensformen nach Inhalt und Sinn erforscht werden sollen, und auch vor der Frage, wie das geschehen kann, liegt eine Erkenntnis, die in aller Regel übersehen wird, nämlich die, dass der einzelne Mensch nicht als in sich geschlossen Seiendes, nicht als Monade auftritt, sondern mit einem oder mehreren Anderen in Beziehungen verflochten ist. So hat es, wer sich anschickt, Lebensformen zu erforschen, immer schon mit der Komplexion eines am Du resp. am Anderen erfahrenen Erlebens, d. h. mit einer wir-haften Lebensform zu tun. Das ist deswegen wichtig, weil sich diese komplexe Form strukturell in der als Inter-Personalität vollzogenen Psychotherapie wiederfindet. Dabei ist gespiegelt oder es setzt sich in bis dahin nicht realisierbaren Modalitäten (anders) fort, was Teil eigener Erfahrung ist. Dessen hat sich gerade hermeneutische Psychotherapie stets eingedenk zu sein.

    Mit Lebensformen ist schon auf WITTGENSTEINS späte Sprachphilosophie Bezug genommen. Bevor der nächste Schritt getan und darüber nachgedacht wird, wie sich Lebensformen als Gegenstände von Psychotherapie zum einen aussprechen, zum anderen, wie durch Hermeneutik auf ihren Kern gekommen werden kann, will dem Autor ein Hinweis wichtig erscheinen, wie es um den nichtprofessionellen Philosophen steht. Auch bei WITTGENSTEIN gehen wir den Weg vom bloßen Sein zum philosophischen Begriff mit. Das Besondere und Befreiende in WITTGENSTEINs „Philosophischen Untersuchungen" liegt nachgerade darin, dass ausdrücklich nicht von Vorgedachtem als philosophischem Erkenntnisgut ausgegangen wird, sondern dass sich der Blick so naiv wie möglich auf noch geistig unsignierte naive Gegebenheiten im Dasein des Menschen richtet. Sobald es bedacht und philosophisch begriffen ist, gewinnt diese zuerst noch naive Wahrnehmung ihre metaphysische Entsprechung im verallgemeinernden Gedanken. Es gibt grundsätzlich nicht den umgekehrten Weg. Aus einem Wissen um Grundstrukturen und Sinn von Seiendem ist nicht zu konkret Seiendem zurückzufinden.

    Diese Feststellung hat den Gehalt einer universalen Wahrheit. Denn bloß zu verstehen, was ist, gibt nicht die Mittel an die Hand, lebendig Seiendes zu erschaffen. Das menschenmöglich Schöpferische ist sein so beschränktes wie zugleich grenzenlos bereicherndes Vermögen des Kunstwerkes. Nie kommen wir auf die Seite des schöpferischen Genius, dessen am meisten verbreiteter Name GOTT ist.

    Nach diesem Einschub sei darauf zurückgekommen, wie Psychotherapie mit ihrem Gegenstand der Lebensform, im Grunde einer gedoppelten Lebensform, umzugehen vermag. Hier wird man mit WITTGENSTEIN statt zum definierten und seinen Gegenstand benennenden Sprachausdruck zum varianten Sprachspiel geführt. Davor liegt freilich, dass Sprache bloß eine unter grundsätzlich mehreren Ausdrucksformen von Sein ist. Man denke nur an ganz elementare Weisen, wie Sein in Erscheinung tritt. Es ist auch nicht gekannt durch definierende Bezeichnung einer begrenzten Anzahl von Eigenschaften. Neben den sprachlichen Ausdruck treten auch Gebärdenspiel, Stimme, Blick. Und so sehr wir auf Sprache ausgehen und gern das Variante des WITTGENSTEIN’schen Sprachspiels aufgreifen, so entschieden ist doch klar, dass uns als einem Anderen, der dem Patienten zuhört und verstehen will, Lebensformen nur dadurch verständlich werden können, dass wir uns eigener Lebenssituationen erinnern und im Vergleichen damit Ähnlichkeit und Differenz feststellen. Der Prozess des Verstehens erfordert überdies den Brückenschlag der kommunikativen Erfahrung miteinander. Erst im Einander-Verstehen können sich die Sprachspiele ergeben – wohl auch Denkspiele – , die aus der gegenwärtigen realen und wiederum gedoppelten Lebensform zurück auf die vorherige anlassgebende Lebensform als ihre abstrakte Entsprechung passen. Dies leistet nicht die mathematisch-logische Analyse. Es muss stattdessen sozusagen spielerisch zufallen. Das Spiel wird hier zu einem nicht nur hilfreichen, sondern förmlich notwendigen Mittel. Darum ist dem, was Spiel philosophisch bedeutet, besondere Beachtung zu schenken. Es wird in einem eigenen Kapitel darauf eingegangen. Vom spielenden Kind HERAKLITs ausgehend, über SCHILLERs „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, weiter über NIETZSCHEs „Pan paidia bis zu HEIDEGGERs: „Sein und Grund (werden) dasselbe. Sein als Gründendes hat keinen Grund, spielt als der Ab-Grund jenes Spiels das als Geschick uns Sein und Grund zuspielt und auch Jean Paul Sartres „Le jeux délivre la subjectivité: Durch das Spiel hält sich der Mensch von der Herrschaft der Dinge über ihn frei, denn es ist „une activité dont l’ homme est l’origine première, dont l’homme pose lui-même les principes et qui ne peut avoir de conséquences que selon les principes posés". Von da ist es nur ein Schritt zur Virtualität in ihrer Wirkung als parallele Realität.

    Aus dem bisher Gesagten mag erhellen, dass nicht an Traditionen angeschlossen werden kann. Das Unterfangen zu verbalisieren, was in der vom Autor vertretenen und hier beschriebenen hermeneutischen Psychotherapie geschieht, hat das Stockende, das so kennzeichnend ist wie das, was immer wieder Künstler zu Absicht, Inhalt und Form ihrer Werke zu kommentieren versuchen.

    Es können in einer derartigen Einführung gar nicht die verwendeten Mittel und Begriffe in einem etwa durch philosophische Untersuchung festgestellten Verhältnis von Rangfolge und Zusammenhang beschrieben werden. Sie können es deswegen nicht, weil sie innerhalb der Philosophie in zum Teil weit auseinanderliegenden Regionen parzelliert sind. Das Sicherste scheint zu sein, sich am Geländer des psychotherapeutischen Procedere festzuhalten, das diesen Weg säumt.

    Wesentlich durch das Mittel der Sprache und hier in dem spielerisch freien Umgang als Sprachspiel (WITTGENSTEIN) wird zunächst über die Erfahrung dessen zu verstehen gesucht, was im Miteinander der psychotherapeutischen Begegnung das Neuerkannte ist. Darüber hinaus ist der Weg weiter zu gehen zu einem profunden Einander-Verstehen, das weit hinter und unter die schöne Fassade reicht. Der Weg führt zu etwas hin, das Sprache als schönen Klang hinter sich lässt und tief liegende seinsnahe, d. h. noch ungestaltete und entsprechend freie Bereiche elementaren Lebens aufschließt. Es wird sich nicht mehr an Bildung und Kultiviertheit erfreut, obgleich diese Güter verfügbar bleiben. Aber der Umgang mit ihnen muss die vorherige zwanghafte Bestimmung individueller Seinsbefindlichkeit verlieren. Was für Gesetze des Lebens und der Welt gehalten worden ist, relativiert sich zu Konventionellem.

    Die psychotherapeutische Situation ist auch der Raum, der mit gutem Grund als der dritte Ort beschrieben wird, an dem eine neue, wenn auch besondere Form von Kommunikation erfahren werden kann. Hier ist sehr genau darauf zu achten, was sich von der kontinuierlich gelebten Alltagsbeziehung des Patienten unterscheidet. Man hat es mit einem Spezifikum von Psychotherapie, aber auch mit einem besonders sensiblen und schwierigen Phänomen zu tun. Was in der Therapie geschieht, ist virtuelle Beziehung. Hierin besonders zeigt sich die im Übrigen nicht exponierte Asymmetrie der Rollen. Diese Rollendifferenz darf aber nicht auf Kosten der Authentizität der Beziehung gehen. Der Therapeut muss in seinem (Übertragungs-)Verhalten für den Patienten erkennbar und erfühlbar die Qualität des nicht nur phantasierten oder sonst virtuellen Partners, sondern die echte Qualität des anderen Menschen haben.

    Das eigentliche Kernstück dieser psychotherapeutischen Kommunikation liegt in der hermeneutischen Arbeit.

    1 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. 1960.

    2 Im Stoffganzen dieser Schrift, spielen in der Flucht des Nachdenkens über wesentliche Aspekte der philosophischen Hermeneutik bes. H.-G. Gadamers, vor ihm die Sozialontologie M. Heidegger’s (Sein und Zeit, 1927) und dann der späte L. Wittgenstein (Philosophische Untersuchungen, 1960) eine größere Rolle. Bedeutsame Denkanregungen stammen im Übrigen von Reinhart Koselleck (bes. aus: Zeitschichten. Studien zur Historik. 2000). Die von ihm entwickelte historische Hermeneutik kann ein neues Verständnis der individuellen Biographik begründen.

    Kapitel 1

    Theorie und Praxis

    Üblicherweise wird Gesundheit mit gesundem Körper und Krankheit mit Dysfunktion oder Läsion des Körpers gleichgesetzt. Geist ist ein davon abgehobenes Drittes. Soweit sich die Medizin damit befasst, besteht Klarheit in Bezug auf den Körper als in Anatomie und Physiologie darstellbare organische Natur. Davon unterschieden ist die Seele, zu der Charakter, Persönlichkeit, Wesen assoziiert werden. In der wissenschaftlichen Psychologie und Psychopathologie finden wir die Prinzipien der Naturwissenschaften und damit auch das Kausalprinzip. Man war stets bestrebt, die Psychiatrie unter den Wissenschaften hoffähig zu machen. Als programmatisch galt Griesingers Satz: „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten." Das hat bis heute Bestand. Es schien nur eine Frage der Zeit und des wissenschaftlichen Fortschritts, diese naturalen Ursachen zu ermitteln. Die bekannten großen Formen der Psychotherapie (der Begriff wird, was hier grundsätzlich zu sagen ist, sehr unspezifisch und uneinheitlich angewandt) verstehen sich als dem Kausalprinzip verpflichtet. So beanspruchen die Verhaltenstherapie, die Hypnose, aber vor allem die Psychoanalyse, wissenschaftlich fundiert zu sein.

    Das nicht Fassbare des Seelischen und das insgesamt als Verhalten und Erleben Erscheinende drücken sich in den vielfältigen Formen des Bewusstseins aus, so in Vorstellung, Überzeugung, Einstellung, Absicht, Urteil, Erfahrung, Verstehen, Gedächtnis, Affektivität, Identität, Selbst, Persönlichkeit des Menschen. Man stellt sich das gern als einen physiko-chemischen Prozess vor. Zwischen einem angenommenen Ursprung (Causa) und der sinnlich wahrnehmbaren Phänomenologie (Verlaufsgeschichte, Syndrom, Erscheinungsbild, Status, Situation) erstreckt sich die je individuelle Geschichte des Menschen nach den Gesetzen der Logik, zuzüglich neuer jeweils für sich zu untersuchender Einflüsse. Sie werden als Modulatoren eines aus dem Anderen hervorgehend gedacht. Das immer Nächstfolgende wird als aus seinen Ursachen heraus Absehbares dargestellt. Bei genauerem Hinsehen vermisst man aber den naturwissenschaftlichen Beweis.

    Psychotherapie versteht sich landläufig als Analyse historischer Vorgänge. Von der Erinnerung des Vergangenen wird sich die Wiederbelebung der für Ursachen gehaltenen Konflikte und von der neuerlichen „Durcharbeitung" deren Lösung versprochen. Man sitzt auf diese Weise unbemerkt zahlreichen Prämissen und Präjudizien auf. Zugleich vertraut man arglos den impliziten Theorien.

    Das vorstehend Gesagte ist im Konjunktiv zu verstehen. Im Bereich des Psychischen jedenfalls wehrt sich der kritische Verstand gegen die Verabsolutierung des naturwissenschaftlichen Kausalnexus. Selbst in den Naturwissenschaften, beispielsweise in der Atomphysik oder in der Astrophysik, muss er heute ausdrücklich relativiert werden. Es kommt ihm offensichtlich nur noch eine eingeschränkte Bedeutung zu. Die Kritik wehrt sich gegen eine Dogmatisierung des Kausaldenkens. Eine philosophische Anthropologie geht fehl, wenn sie partialwissenschaftliche Vorstellungen als vollständig ansieht und naiv übernimmt.

    Als Normalfall gilt, soweit es jedenfalls Willkürhandlungen betrifft, dass körperliche Funktionen durch zentrale Impulse aktiviert werden, die menschliches Bewusstsein qua Wille und Intention steuern und kontrollieren. Hier erhebt sich die prinzipielle Frage, ob sich im Gehirn als dem zentralnervösen Organ bereits spezifische, d. h. nichtkörperliche Bestandteile zeigen, die dem menschlichen Subjekt zugehören. Die sogenannte Subjektsteuerung hat bekanntlich keinen zentralen theoretischen Ort in der personalen oder anthropologischen Medizin. Das zugehörige wissenschaftliche Substrat der Forschung waren die Psychosomatik und die Psycho-Physik (in ihrem Zentrum, also vor mehr als sechzig Jahren, die Schule Viktor von WEIZSÄCKERS³).

    Subjekt ist freilich mehr als bloße Intention, die sich beispielsweise darauf beschränkt, dem Körper Aufträge zu erteilen, um – mangels des tierischen Instinkts – primär die körperlichen Bedürfnisse (d. h. elementar Atmen, Essen und Trinken) zu befriedigen, sekundär sich auch gegen die Unbilden der Natur zu wehren, d. h. sich Unterkünfte zu schaffen, sich zu bekleiden und so Naturgewalten zu überstehen.

    Dem Subjekt ist jedoch mehr aufgegeben als das zu leisten, was beim Tier der Instinkt besorgt. Primär schon sind Fühlen und Denken dabei. Nach der Wahrnehmung (Sensorik, Rezeption) wird das Wahrgenommene in Beziehung gesetzt zu Gewusstem und Gewolltem, was, zunächst noch prozessual gedacht, Perzeption und Apperzeption sind. Wahrnehmung und Empfindung wie auch Wissen verknüpft der Mensch zu vorgestellten Zusammenhängen, die ihm in nächstfolgenden Situationen als empirisch bereichertes Wissen hilfreich sind.

    Es ist über den Begriff Gemüt nachzudenken. Er wird vorschnell vielfach mit Psyche gleichgesetzt. Aber er umfasst mehr. Hier spätestens stößt man an eine Grenze. Jemand ist harthäutig oder weichherzig, mitleidsvoll oder ungerührt, ablehnend, einfühlend oder aggressiv, egoistisch oder altruistisch. Zum menschlichen Subjekt gehört schließlich auch entscheidend, was es von innen heraus an Bildern und Vorstellungen entwickelt, was phantasiert wird, um es ggf. (nicht notwendig immer) in eigener Produktion als technische und künstlerische Schöpfung den Naturdingen hinzuzufügen. Das menschliche Gemüt bedarf dazu der Anschauung. Von außen beschreiben und verstehen wollende Vorstellung gelingt nicht. Die Grenze ist erst recht überschritten, wenn von Grundbegabungen des menschlichen Wesens wie Freundschaft, Liebe und schöpferischem Geist die Rede ist.

    An der aufgezeigten Grenze müssen Materialisten und Neurobiologen ihre Ohnmacht eingestehen. Hier ist nichts mehr abbildbar und messbar, nichts mehr als Leistung des zentralnervösen Organs zu fassen (also des Gehirns als des körperlichen Substrats des kreativen Geistes; V. VON WEIZSäCKER hat, in Unterscheidung vom sogenannten Leistungs-Substrat vom Leitungs-Substrat gesprochen). Hier erweist sich das Postulat, Geist und Gemüt seien Produkte des menschlichen Gehirns, nicht nur als spekulativ, sondern als falsch.

    Nichtsdestoweniger hat man wegen der „materialen" Verschiedenheit Körper und Geist/Seele voneinander unterschieden und den Menschen insoweit bipolar existieren lassen. Es ist eine von der Naturwissenschaft inspirierte Faszination, die dazu geführt hat, dasjenige, das außerhalb des körperlichen Substrats liegt, zum Gegenstand der Betrachtung, Beforschung und Theoriebildung zu machen.

    Man darf an dieser Stelle feststellen, dass, was sich einer weitestgehend physiko-chemisch oder chemo-physikalisch erklärbaren Gesetzhaftigkeit fügt, das Somatische ist. Dem steht gegenüber, was dem Menschen ebenso zwingend zugehört, aber der gängigen wissenschaftlichen Forschung und Deutung unzugänglich ist: Geist und Gemüt. Sieht man genauer hin, so ist unter dem Anspruch eines identischen Begriffsverständnisses die Psyche ein allgemeiner Stoff nur in den Bereichen, wo sich „psychische Leistungen" messen und bestimmen lassen. Die Lehre davon heißt Psychologie. Man möge sich die Mühe machen, als Gesamtrepräsentanz psychologischer Erkenntnisse den Inhalt des vielbändigen Handbuchs der Psychologie⁴ zumindest einmal anzusehen. Es geht hier um Motivation, Wahrnehmung, Antrieb, Intelligenz, Kombinatorik, Sprachverständnis, Gedächtnis etc. Mitnichten findet sich das sogenannte Unbewusste der Psychoanalyse. Im Grunde geht es um mentale Leistungen. Man denke insbesondere an die Verhaltenslehre, also die Ethologie, die es gleichermaßen in der tierischen Forschung gibt. Es handelt sich definitiv ausschließlich um Psycho-Biologie. Hier wird mit einem Seelenbegriff operiert, der mit Seele nichts zu tun hat. Die Psychotherapie indessen hat auch nichts mit der Seele der Theologie zu tun. Hier zeigt sich ein Dilemma. Denn es ist gefragt, was eigentlich bei Psychotherapie und ihren vielfältigen theoretischen Variationen Psyche meint. Sich auf den in der Psychologie verwendeten Terminus Psyche näher einzulassen, vor allem in der sogenannten Psychoanalyse Sigmund Freuds und ihrer Weiterentwicklung, kann hier nur in die Irre führen. Es ist zu deutlich, dass hier von Beginn an versucht wurde, durch klassisch physikalische Vorstellungen und Begriffe (bis hin zur identischen Übernahme der entsprechenden Bezeichnungen) Psychoanalyse zu einer populärwissenschaftlich verständlichen Form eines naturwissenschaftlichen Gegenstandsbereichs zu machen. Psychische Erscheinungen bzw. das, was man davon wahrnimmt oder dafür hält, werden auf die Mechanik, auf die Thermik, auf die Elektrik, auf die Optik oder auf die Strömungslehre zurückgeführt. Kurzum: Psychisches wird in Teilprozesse aufgelöst gedacht, die samt und sonders kausalistisch funktionieren sollen.

    Darüber hinaus begegnet man dem Begriff Biographie als dem Geschichtlichen, das sich über Zeiten und Wege zuträgt. Das Unverständliche und Unerklärbare dabei wurde in den Begriff des Unbewussten gepackt. Er hat sich bemerkenswerterweise trotz (vielleicht gerade wegen) seiner Substanzlosigkeit durchsetzen können.

    Der Autor, der sich hier über Psychotherapie Gedanken macht, wagt an dieser Stelle bereits ein deutliches Nein, was psychoanalytische Theoriei nhalte betrifft. Namentlich der Unbegriff des Unbewussten ist nicht haltbar, er hatte nie eine philosophische Fundierung. Es mag Vergessen, es mag auch noch Verdrängen geben. Da aber entstehen nicht Unwissenheit und Verantwortungsverlust oder bloße Triebgebundenheit, sondern da bleiben Bewusstsein und Verantwortung. An die Stelle von Vergessenem und Verdrängtem tritt anderes, das in jeweils besonderer Weise das Wesen des Menschen in seiner aktuellen Gestalt ausmacht. Das „Unbewusste" kann beispielsweise nie dahin führen, dass ein zuvor ethisch geordneter und verantwortungsvoller Mensch in einer Art Sucht kein Bewusstsein mehr dafür hätte, was verantwortliches Handeln und Anstand sind. Der Mensch mag durch Krankheit exkulpiert sein, wodurch er gehindert sein kann, diese Fähigkeiten wahrzunehmen. Aber nicht generell Schwäche und Versagen, hier zumal versagte Bedürfnishaftigkeit, führen zur Exkulpation.

    Zurück zu den Begriffen Psychotherapie und Psyche. Der Begriff Psyche ist in der Psychoanalyse eigenwillig ausgelegt worden. Er wird bereits in der Theorie zu einer Eigenschaft des sogenannten psychischen Apparates reduziert. Man hat Psyche einzuholen in den übergeordneten Begriff der Person. Sie bezeichnet die Einzigartigkeit des Menschen in seinem Eigenwesen. Mit der Persönlichkeit, dem einzigartigen eigenen Wesen, das einen Menschen kennzeichnet, tritt der psychotherapeutisch Tätige in eine Beziehung ein. Es handelt sich um die Begegnung von zwei einmaligen Wesen. Diese unterscheiden sich durch die definierte Situation, wonach der eine über einen wesentlich empirisch begründeten Erkenntnisvorsprung verfügt, der andere sich in einem Konflikt, d. h. in einer Situation widersprüchlicher Gefühle befindet, die er nicht zu einem Zusammenhang zu verknüpfen vermag. Der Psychotherapeut hat nicht wie etwa ein Dermatologe, der die gesamte Körperhaut nach Effloreszenzen absucht, eine Landkarte seines Patienten zu erstellen, um diese mit einer abstrakten Norm zu vergleichen und gemäß eines Krankheitsschemas eine Diagnose zu stellen.

    3 Hier haben in den späten vierziger und bis in die Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, nach von Weizsäckers Tod und diesen überdauernd, Richard Siebeck, Paul Christian und Wilhelm Kütemeyer, auf besondere Weise Herbert Plügge (alle Heidelberg), danach die Medizin-Anthropologen wie vor allem V. E. von Gebsattel, Erwin Strauss, V. E. Frankl, Dieter Wyss, Medard Boss, Ludwig Binswanger, Hans Trüb u. v. a. der Anthropologischen Medizin zum Durchbruch verholfen. Allerdings traten um 1960 herum die Restauratoren ihre Herrschaft an. Diese hält bis heute vor. Man darf wohl den Grund für den Rückschritt hinter dieses personale Verständnis des Arzttums im rasant wachsenden Fortschritt der Medizintechnik vermuten. Die Sicht Viktor von Weizsäckers als einer (im Sinne eines „Gestaltkreises") geschlossenen Einheit des Menschen als Körper-Geist-Seele hatte etwas vom Traum der Quadratur des Geistes. Es war eine idealistische Vision. Aber man darf auf keinen Fall verkennen, dass dabei das Tor zwischen der Medizin und der Philosophie weit geöffnet worden ist. Ein Weiterdenken hat es nur im Abseits der Psychiatrie gegeben, soweit diese sich nicht in die biologistische Psychiatrie und in die Psychoklassifikation amerikanischer Provenienz verabseitigt hat.

    4 Handbuch der Psychologie in 12 Bänden. Herausgegeben von K. Gottschaldt, Ph. Lersch, F. Sander, H. Thomae. Göttingen: Hogrefe 1966/1967.

    Kapitel 2

    Das personale Miteinander

    Wenn man bloß abweichende Verhaltensstörungen wie in der Verhaltenstherapie im Visier hat oder entsprechend der psychoanalytischen Theorie sogenannte infantilgenetische Störungen zu erkennen glaubt, bewegt man sich in Bereichen, die dem Hilfe suchenden Patienten fremd sind. Sie sind ihm auch kaum durch noch so umfangreiche Erklärungen näherzubringen. In einer sich neu entfaltenden Kommunikation sollen beim Kranken Ressourcen freigelegt werden; Druck, Angst, Schmerz, Depression, Zweifel sollen als etwas Handlungslähmendes festgestellt werden. Man hat es mit dem Menschen in seiner heutigen Gestalt zu tun und wie er sich in der ihn umgebenden Welt situiert. Er will Fesseln abstreifen und Hemmungen loswerden, die ihn an seiner Entfaltung gehindert haben. Psychotherapie versteht sich dann als ein zukunftsgerichteter konstruktiver Prozess, der prospektiv und nicht historisch-analytisch darauf ausgerichtet ist.

    Was man in der Psychoanalyse Übertragung und Gegenübertragung nennt, sind die gegenseitig aufeinander gerichteten Phantasien. Sie verhelfen auch dem jeweils Anderen dazu, neue Möglichkeiten des Sich-selbst-Werdens resp. des Zu-sich-selbst-Kommens zu erkennen.

    Psychotherapie ist eine besondere Form der Kommunikation. Sie will den Menschen von Zwängen befreien, die nicht unwesentlich aus der ihn umgebenden Welt hervorgehen. Dabei bestimmt ihn besonders das Berufsleben, aber ebenso das sogenannte private Leben, d. h. wesentlich auch die durch „freie" Wahl gestifteten Beziehungen. Was dabei in der Regel vernachlässigt wird, sind vielfach dominierende Figuren in der privaten Umwelt.

    Oft wird die Eigenentfaltung bereits in der Erziehung nicht zugelassen. Was einer immer gekonnt, vielleicht auch gewollt hat, wurde primär von den Eltern oder anderen erzieherisch einwirkenden Personen, die elterliche Gewalt ausgeübt haben, verhindert. Das soll dem Unterdrückten und Verschütteten nachträglich bewusst und verfügbar gemacht werden. Man betritt dabei aber keine Phantasiewelt, die anstrebt, Beziehungen zu liquidieren und den Beruf zu wechseln. Stets sind gewissenhaft gesellschaftliche Zwänge davon zu unterscheiden. Diese haben ihrerseits eine Geschichte und können nicht aus bloß eigenem Entschluss geändert werden. Sie stellen Kräfte dar, die mehr oder weniger schicksalhaft hinzunehmen sind. Es sind mitunter auch Bereiche, die sich technisch handhaben lassen, um sich vielleicht von ihnen zu befreien. Es ist das Erlebnis einer aufkeimenden inneren Freiheit. Man erinnert sich an Schillers „Der Mensch ist frei und würd’ er in Ketten geboren".⁵

    Es sind auch die Selbst-Einsichten eines Therapeuten maßgebend, der ein halbes Jahrhundert lang Psychotherapien durchgeführt hat. Er ist nicht etwa nach dem Anciennitätsprinzip würdig und geeignet, Gültiges zu sagen. Sondern ihm sind durch die Reichhaltigkeit seiner Erfahrungen überhaupt Einblicke möglich, wie derart peristatische Momente zu relativieren und nicht als konstant zu denken sind, dass das menschliche Wesen und entsprechend die Formen menschlichen Seins davon unabhängig gültig sind.

    Es gibt nicht den homo psychologicus. Noch weniger gibt es den homo psychoanalyticus. Grundlage kann und darf einzig die philosophische Anthropologie sein, die Erfahrungen des personalen Umgangs miteinander einschließend. In dieser Aussage steckt ein kritisches Bewusstsein dafür, wie mangelhaft diese Basis ist. Denn es ist die Forderung formuliert, Philosophie habe sich von der Lebenspraxis prüfen zu lassen. Das wäre wiederum ein Thema, das ein eigenes Kapitel füllt. Der diesbezüglich fachfremde Psychotherapeut hofft dabei als der winzige David auf den kompetenten Goliath.⁶

    Auf diesem gedanklichen Weg gelangt man zum Normbegriff. Es ist provinzieller Regionalismus, wenn ein Psychotherapeut seinem erlernten Wissen entsprechend an einem Normbegriff festhält, der im Rahmen der betreffenden Therapietechnik Welt und Gesellschaft erklärbar erscheinen lässt. Besonders zu beachten ist, wie inkompetent und kritiklos man sich gegenüber politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen verhält. Man denke an die Überzeugung, dass Gesellschaft als zweite Natur zu sehen sei. Vor allem die Verhaltenstherapie postuliert in ihrer Theorie schon die Vorstellung der Anpassung an herrschende Normen. Im Allgemeinen werden Sozialisierungsprozesse so verstanden, dass Gesellschaft als Faktum angenommen wird und sich in die entsprechenden Gegebenheiten zu fügen sei. Man geht davon aus, dass nur dadurch Konflikte abgebaut werden könnten.

    Der Autor stellt erneut das Postulat auf, dass es stets nur die individuelle Norm gibt. Das scheint ein Widerspruch in sich zu sein. Es soll damit gesagt werden, dass der je einzelne Mensch in dem Maße gesund und sich selbst verfügbar sein kann, wie es seinem Eigensinn entspricht, d. h. dasjenigem, was ihm aus seiner besonderen Geschichte heraus mit dem ihm angeborenen persönlichen Charakter einzig richtungs- und maßgebend vorkommt. Und da gibt es bestimmt keine Einheitlichkeit. Alles was im üblichen Begriffsverständnis Norm genannt wird, gehört der äußeren Situation an. Es ist ein Stoff, mit dem sich auseinanderzusetzen bzw. auf den sich zumindest einzustellen ist, der vielleicht aber auch revidiert werden muss.

    Hier erreicht man ein besonderes Gebiet der Soziologie. Philosophische Anthropologie und Gesellschaftsphilosophie behandeln keine historischen Spezialitäten. Ihr Ziel ist, die Grundlagen herauszupräparieren, die sich über lange Zeiträume in verschiedenen Epochen und zu verschiedenen Zeiten als gesellschaftliche Systeme etabliert haben. Überhaupt geht es um einen Systembegriff in Verbindung mit dem Gesellschaftsprozess. Dazu kommt der Begriff der Zeitgeschichte. Was jeweils in einer Zeit geltend ist und so auch sinnlich wahrnehmbare Wirklichkeit darstellt, ist notgedrungen der Gegenstand, den ich als Einzelner zu erkennen und zu verstehen versuche. Die Art und Weise, wie in der Gesellschaft etwas dank der heutigen Medienvielfalt für wirklich gehalten und als Tatsache postuliert wird, trägt ein Weiteres dazu bei. Denn die heute geltende Gesellschafts-Wirklichkeit erscheint nicht nur unkommentiert, sondern sie misst sich selbst auch ihre eigene Bedeutung zu. Beispielsweise gilt sie als fortschrittlich in Bezug auf ehemalige Verhältnisse. Sie hat auch immer einen entsprechenden prädikatisierenden Zusatz wie beispielsweise: pluralistische Gesellschaft, Mediengesellschaft, Überflussgesellschaft, Wegwerfgesellschaft, Konsumgesellschaft bis hin zur sogenannten Wertegesellschaft. Von der visionierten sogenannten digitalen Gesellschaft gar nicht zu reden.

    Es kann kein Zweifel darüber aufkommen, dass es sich jeweils um Ideologien handelt. Dies sind keine philosophisch fundierten Sichten oder Inhalte, sondern Weltanschauungen. Sie entsprechen gegenwärtigem Geschmack, gegenwärtiger Meinung, gegenwärtiger Mode, gegenwärtigen Wertschätzungen, gegenwärtig angemessen erscheinender Politik. Sie können traditionalistischkonservativ sein. Sie können avantgardistisch sein. Sie können sich selbst genügen und werden nicht satt, sich selbst zu loben. Sie können auch pessimistisch und skeptisch sein. Nebenbei hängen sie immer mit wirtschaftlich-sozialen Lagen zusammen. Praktisch nie spielen geistige Momente eine prägende Rolle. Ganz im Gegenteil trifft zu, dass Notzeiten, die wesentlich wirtschaftlich bedingt sind, mitunter auch Kriegszeiten, das „Positive" mit sich gebracht haben, dass sie zur Verinnerlichung und zum Nachdenken führten. Man darf die Behauptung aufstellen, dass Wellness-Gesellschaft und Geist einander widersprechen. Andere haben formuliert, Geist sei immer notgeboren, während Ungeist aus Überfluss und Verschwendung resultiere, wobei einem alles zufalle, ohne sich anstrengen zu müssen.

    Zurück zum Normbegriff. Eine ebenso richtige wie einfältige Definition des Normbegriffes ist: Normal ist, was am häufigsten vorkommt. Man spricht in gebildeterer Sprache von Signifikanzen, die statistisch ausgewiesen werden. Wie verhält es sich damit in der psychotherapeutischen Situation? Eine falsche Psychotherapie geht davon aus: Allein die Tatsache, dass ein Patient in die Sprechstunde kommt und darüber klagt, dass er an den normalen Anforderungen und Herausforderungen des Lebensalltags scheitert, bedeutet, dass ihm die Fähigkeit der Anpassung fehlt. Es könnte sich zwar noch das Ziel der taktischen Anpassung ergeben. Das bezeichnet eine Form des Sich-Einlassens auf die gegebenen Verhältnisse unter dem Vorbehalt, dass man sie im Grunde nicht anerkennt. Man richtet sich also opportunistisch in der aktuellen Wirklichkeit ein. Ob dieser Zwischenschritt eine zulässige Methode ist, wird später noch zu erörtern sein. Aber es liegt eine völlige Verkehrung der Vorstellungen darin, dass ein Psychotherapeut stellvertretend die gesellschaftliche Norm vertritt, während er in seinem Gegenüber die als Krankheit beschreibbare Abnormität sieht. Ein aus philosophischer Anthropologie gespeister geistiger Hintergrund des Therapeuten macht sich indessen zum Handlanger der gegebenen gesellschaftlichen Wirklichkeit, d. h. er polarisiert sich auch nicht zum abnormen Kranken. Wahre Psychotherapie lässt sich vom Normbegriff nicht gängeln. Normalisierung ist nicht die Aufgabe des Psychotherapeuten. Der Psychotherapeut darf kein fügsamer gesellschaftlicher Handlanger sein.

    Wie schon gesagt, begeben sich Therapeut und Patient auf die Suche nach dem ihnen in dieser besonderen Konstellation möglichen kommunikativen Optimum. Die Therapie gelingt in dem Maße, wie es ihnen möglich ist, einander zu verstehen. Dieses Einander-Verstehen darf kein bloß intellektuelles sein. Es ist zugleich ein Einander-Einfühlen, ein Einander-Bekanntwerden auf affektivem und emotionalem Gebiet. Inwieweit sich das struktural und wesensmäßig von den Charakteristiken des liebenden Miteinanderseins unterscheidet, ist eine sehr diffizile und gleichzeitig nicht ganz abwegige Frage. Auf jeden Fall, so empfindet es der Autor, steht jeweils dahinter die hohe Wand eines nicht zu diskutierenden Respekts des Einen vor dem Anderen und dessen Würde der Einmaligkeit. Damit ist wohl ausgeschlossen, dass mit dem wachsenden Maße des sich Einander-Kennens auch die Dominanz des Einen über den Anderen möglich ist und damit ein Problem von Herrschaft und Unterwerfung entsteht. Beim gegenseitigen Respekt der Einmaligkeit des je Anderen sind diese Formen des Behandelns in einer abträglichen Bedeutung ausgeschlossen.

    Hier gehört etwas zur Befindlichkeit des Religiösen gesagt. Philanthrope Menschen wie etwa Albert SCHWEITZER und überhaupt Güte sowie materielle Hilfe spendende Menschen wie Mutter Theresa und viele andere wirken heilsam auf ihre Anhängerschaft. Es entsteht eine gewisse Familiarität Gleichgesinnter, die in der liebevollen Anhänglichkeit an ein Vorbild im Unterschied oder im Gegensatz zu ihrem vorherigen Leben stehen. Sie können wieder Freude und Mut entwickeln, die sich nicht ausgenutzt und fremdgesteuert erscheinen. Inwieweit man das mit dem sogenannten GURUtum in Verbindung bringen darf, ist eine Frage wert. Es hat wenig zu tun mit den bürokratisierten Großreligionen und ihren ausgetüftelten Theologien wie auch bis ins Kleinste durchstrukturierten Ritualen.

    Auch die Sprache ist wichtig. Gerade wir Europäer verständigen einander in hochentwickelten Sprachen. Sie stellen in ihrer eigenen Rhetorik jeweils schon grandiose Manifeste geistiger Erkenntnis dar. Die Korrespondenz über die Sprache ist entsprechend eine außergewöhnlich gebildete. Sie findet auf hoher Ebene statt. Es stellt sich die Frage, wie therapiegeeignet oder im Gegenteil therapiefeindlich die besondere Betonung der Sprache ist. Konkreterweise wird man es hier insbesondere auch mit der Logotherapie Viktor Emil FRANKLS zu tun bekommen. Vielleicht kann allgemein die These aufgestellt werden, dass Sprache in dem Maße therapiegeeignet ist, wie sie nicht intellektuelle Botschaft ist, wie sie nicht Inhalte übermittelt, nicht begriffsgebunden festgelegt ist, sondern in poetisch-lyrischer Weise in Begriffs- und Bedeutungsintervallen Auskunft über Befindlichkeiten gibt. In dem Maße, wie die ausgestaltete Sprache direkte Informationen auf das Technische, im Übrigen jedenfalls auf das Bewusste beschränkt, gewinnt umgekehrt die sogenannte Körpersprache und das, „was der Bauch sagt", in der Psychotherapie vielfach größere Bedeutung. Vor dem Körpersprachlichen haben Mimik und Gestik ihren Platz. Insbesondere das Sich-ins-Auge-Fassen, der Blick, schlägt die Brücke vom Einen zum Anderen. Man muss genau unterscheiden zwischen Ansehen, Hineinsehen und Hindurchsehen.

    Immer wieder ist zurückzukehren zu der Frage: Was ist Psychotherapie? Es lassen sich einige Grund- und Leitthemen benennen, die das Wesentliche der psychotherapeutischen Begegnung zeigen. Doch allein schon der Begriff Psychotherapie ist kritikwürdig. Der dem Psychotherapeuten begegnende Mensch ist nicht bloß als „Psyche" anwesend. Seine Erscheinungsform ist primär sein Körper und dessen Ausdruck. Im Ausdruck allerdings zeigt sich wesentlich Psychisches, d. h. sein persönliches Wesen Ausmachendes. Mir sitzt ein Mensch gegenüber, wie er leibt und lebt. Die anthropologische Medizin hat einmal ausdrücklich betont, der Leib sei immer beseelter Leib. Es kann aber nicht die Rede davon sein, dass ich als Psychotherapeut vom Leiblichen abstrahiere. Der Leib gehört zum vollständigen Erfassen des Menschen hinzu, der mir gegenüber sitzt. Indessen drückt sich Seele auch darin aus, was ein mir unsichtbarer Mensch schreibt, sei es in langen Briefen, sei es in nachgelassenen Schriftwerken längst Verstorbener. Oder es drückt sich aus in einem Kunstwerk, das ein schon lange nicht mehr lebender Mensch hinterlassen hat.

    Aber es ist nicht nur das, was der therapeutisch Tätige vom Patienten wahrnimmt. Auch er befindet sich in der Situation von Begegnung: Psychotherapie ist die vielleicht eindringlichste Form der Begegnung von Mensch zu Mensch. Dieses Miteinander, Gegenüber, auch Gegeneinander, hat schöpferische Qualität.

    Viktor von WEIZSäCKER⁷ hat statt vom Patienten vom kranken Menschen gesprochen. Er hat, wie seine weiteren Schriften bezeugen, das Ens humanum gemeint, das sowohl krank wie gesund sein kann. Kranksein ist nicht Sinnverlust. Oft genug war es Sinngewinn, was freilich nicht bedeutet, dass der Mensch erst zu Sinn käme, wenn er krank wird. Aber es war das Zerbrechliche, das Störbare, die Krankheit als dem menschlichen Wesen zugehörig erkannt. Darüber hinaus war Weizsäcker zur These gelangt, dass es den gesunden Menschen im Grunde gar nicht gibt. Der Mensch ist immer ein pathisches Wesen. Mit allem, was er kann, soll, darf, muss, will, sind aus dem Hic et Nunc des lebendigen Augenblicks hinausweisende Strebungen bezeichnet, die Ziele, Hoffnungen oder Wünsche sind. Im Erreichen oder Nicht-Erreichen dieser Ziele und Wünsche drückt sich das Pathische aus. Das erscheint schon in den elementaren Notdürften der Luftnot, des Hungers und Durstes, entsprechend im unerbittlichen Zwang zu atmen, zu essen und zu trinken, d. h. im naturhaft Zwanghaften der menschlichen Physis. Am Anfang stehen die Fragen: Wer bin ich? Was fehlt mir? Was will ich? Es bedarf vielfach schon therapeutischer Arbeit, diese Grundfragen als solche bewusst werden zu lassen. Denn in der Regel ist das Ich überhaupt kein Bewusstseinsinhalt. Ich bin in der Regel ein Zweiter, und dieser Zweite übernimmt die Rolle eines Dritten, der Forderungen an mich hat, der mich rügt, der mich straft, der mich vernachlässigt, der mich betrügt, der mich beleidigt. Ich werfe mir vor, meiner Aufgabe nicht gerecht zu werden, als Mutter zu versagen, meiner Verantwortung als Vater nicht nachzukommen. Ich versäume Pflichten. Ich enttäusche andere Menschen. Überhaupt bin ich das Objekt unzähliger Fragen, Ansprüche, Rügen, Erwartungen von allen Seiten.

    Man muss unterscheiden. Dieses Ich ist ein anderes als das, welches sagt: ich bin. In diesem passivizierten Ich komme ich als der, der ich eigentlich bin oder sein sollte, nicht vor. Das bestätigt ein immer wieder verblüffender Test zu Beginn einer Psychotherapie: die Grundaufgabe mit dem Wochenplan, der über sieben Tage viertelstündlich alles registriert, was ich tue, was mit mir geschieht. Fast ausnahmslos pflegt die angefertigte Wochenübersicht nirgends den Namen seines Verfassers zu enthalten. Die Aufgabe des Therapeuten für den Patienten besteht dann darin, dass dieser sich zweimal wöchentlich für je eine Stunde mit dem eigenen Namen einträgt und diesen Wochenplan sichtbar an eine Stelle pinnt, wo er nicht übersehen werden kann. Typischerweise wird nach einer Woche mitgeteilt, dass der Patient mit seinem eigenen Namen nichts anzufangen gewusst hat.

    Es gibt den zum Buchtitel gewordenen Slogan „Dasein heißt ein Rolle spielen".⁸ Man müsste es erweitern: Dasein besteht darin, mehrere Rollen zu spielen, erst recht zu verschiedenen Zeiten. Gleichwohl wäre das eine sehr beschränkte Sicht nach Maßgabe der Rollentheorie. Eine andere Annäherung an die Frage, was Dasein sei, ist die Vorstellung, dass man sich auf längerfristige Situationen im Leben so optimal wie möglich einrichtet.

    Wir leben seit längerem in einer Gesellschaft, in der alles durch Geld geregelt wird. Man verrichtet einen Dienst, eine Arbeit und wird dafür entlohnt. Alles hat einen Gegenwert in Geld. Es grenzt ans Paranoide, dass man durch diese Form der abstrakten Entgeltung Freiheit zu gewinnen glaubt. Man arbeitet nicht mehr für Essen und Logis. Man soll über einen erhaltenen Lohn, das sogenannte Einkommen, die „Freiheit" haben, selbst darüber zu bestimmen, in welchen Verhältnissen man lebt. Man absolviert eine Ausbildung, um dann entsprechend der erworbenen Qualifikation angestellt zu werden. Es wird ein Platz in der Berufswelt eingenommen, eine gesellschaftlich anerkannte Leistung erbracht, gegebenenfalls eine sogenannte Berufslaufbahn angestrebt, die in der Regel Rang- und Gehaltserhöhungen verspricht. Gleichzeitig besteht die Gefahr der Arbeitslosigkeit, so dass man trotz seiner beruflichen Qualifikation scheinbar nicht mehr gebraucht wird.

    Worauf es hier ankommt: Die Arbeit füllt einen beträchtlichen Teil des individuellen Lebens aus. Man befindet sich mit seinen Kollegen in einer Subgesellschaft und bezieht dort unabhängig von der messbaren beruflichen Leistung eine soziologisch definierte Position. In der Regel handelt es sich um eine Gruppe, die entsprechend der Soziometrie gruppendynamisch funktioniert. Hier kommen neben den beruflichen Qualitäten auch die persönlichen Bedürfnisse zum Tragen. Arbeitet man täglich acht bis zehn Stunden, bleiben ca. vierzehn Stunden fürs private Leben. In dieser von beruflicher Anforderung freigestellten Zeit ist der Mensch, soweit man ihn statistisch erfassbar normal denkt, seiner „freien" Selbstbestimmung gemäß in der Lage, ein soziales Leben zu gestalten, im Idealfall eine Beziehung einzugehen und eine Familie zu gründen. Der Mensch findet sich zumeist in der Rolle von Ehemann oder Ehefrau, von Vater oder Mutter wieder, zusätzlich womöglich in der Rolle von Sohn oder Tochter. In dem, was sich also zwischen den Menschen als Beziehung ereignet, findet das sogenannte soziale Leben statt.

    Man hat es mit einer Zweiteilung von Beruf und Familie zu tun. Das Dritte ist der biologischen Notdurft gezollt. Diese wird zur Regeneration des Körpers und seiner Kräfte gebraucht; der dafür benötigte Zeitaufwand – man denke besonders an den Schlaf – verkürzt das private Leben. Durch die grobe Zweiteilung des Menschen in einesteils das berufliche Wesen und andernteils das sozial-familiäre Wesen entsteht eine Situation, in der sich der Mensch in der einen wie in der anderen Welt zu verwirklichen sucht. Der Mensch entwickelt sowohl eine berufliche als auch eine individual-soziale Identität. Bei der letztgenannten wird das Teilprädikat „individual" zu relativieren sein.

    Wie jeder aus Erfahrung weiß, gelingt es dem einen oder anderen, sich im Beruflichen besonders auszuzeichnen, Karriere zu machen und so zu höherem Ansehen zu gelangen, auch zu größeren Einkünften. Man spricht in diesem Zusammenhang gern von einem „Erfolgsmenschen oder – vice versa – von einem „Versager. Analysen weisen aus, dass eben diese Erfolgsmenschen sozusagen kompensatorisch in der privaten anderen Hälfte ihres Daseins nur Schattenwesen sind. Sie haben dort nicht das Sagen oder sind gar Unterdrückte. Ebenso scheint das Umgekehrte vorzukommen. Der gute Familienmensch schlägt sich nur schlecht und recht im beruflichen Bereich durch. Vielleicht schafft er nur das Existenzminimum, um seine Familie ernähren zu können. Er weiß sich nicht auszuzeichnen oder durchzusetzen. Der Psychotherapeut weiß, dass es zu Konflikten, wenn nicht Katastrophen und Zusammenbrüchen kommt, die nicht mehr aus eigenen Kräften bewältigt werden können. Dann versagen die Systeme sowohl des Berufslebens wie des Familienlebens. Der zuvor bezogene Selbstwert wird entzogen oder geht verloren. Im wörtlichen Sinne bricht dann die halbe Welt zusammen.

    Am häufigsten passiert der Kollaps im Persönlichen, d. h. im Beziehungsund Familienbereich. Insbesondere pflegen Ehen zu scheitern und danach in der Konsequenz Familien auseinanderzubrechen. Das hat zu der Vorstellung geführt, dass die häufigste Ursache für psychische Labilisierungen und Zusammenbrüche im Kern Beziehungsstörungen und Beziehungskonflikte sind. Wenn der davon Betroffene bisher hauptsächlich in der Beziehung aber seinen Halt gefunden hat, wird sein Wertesystem zerstört. Seine Identität ist vernichtet. Er hält sich selbst für nichts mehr wert und kann in der Depression suizidal werden, auch mit der Konsequenz des vollendeten Suizids.

    Ein Teil der so Geschädigten unternimmt den erfolgreichen Versuch, alle Energien in die berufliche Existenz zu investieren. Das führt nachvollziehbar unausweichlich zu einer Verkrampftheit, die beruflicher Höchstleistung in der Regel hinderlich ist. Man muss konstatieren, dass der um die Hälfte seiner selbst gebrachte Mensch, der als Patient signiert, nur noch auf einem Bein steht. Falls es sich dabei um die „bessere" Variante handelt, ist es das Standbein. Wenn er dagegen als Erwerbstätiger scheitert, pflegt sich das in aller Regel komplizierter zu gestalten, weil davon auch die familiäre und soziale Rolle stark beeinflusst wird, die – mehr als man glaubt – von der beruflichen Wertschätzung abhängt, die er zuvor hatte. Nicht zuletzt bringt die in der Regel erniedrigende Situation der geringeren finanziellen Einkünfte im privaten Bereich eine Veränderung mit sich, die Situation wird als entwertend erlebt. Man weiß, dass sich selbst der arbeitslos gewordene Single vergräbt und versteckt. Das berufliche Desaster wird als persönlicher Misserfolg erfahren. In allen Fällen kommt es zu einem dramatischen Selbstwertverlust.

    Das geschilderte Szenario ist gültig wiedergegeben in dem Bild eines Menschen, der auf zwei Beinen steht, was, wenn man eine physikalische Vorstellung zu Hilfe nimmt, nur dadurch einigermaßen stabil sein kann, indem ständig mehr oder weniger kräftezehrende Wippbewegungen der Füße stattfinden, um nicht umzufallen. Stabiler Stand ist nur gewährleistet, wenn etwas auf wenigstens drei Beinen steht. Wo aber in dem beschriebenen Modell des Menschen in der durchschnittlichen Situation des gegenwärtigen gesellschaftlichen Lebens ist das dritte Bein?

    Sehr früh wird der Heranwachsende durch die unmittelbaren menschlichen Vorbilder damit vertraut gemacht, wie es sich in privaten Bezirken, speziell im familiären Leben in entsprechenden Rollen leben lässt. Ebenso wird sehr früh über Bildung, Schulbildung, Ausbildung auf das Leben vorbereitet. Es werden die zu Leistungen qualifizierenden Eigenschaften entwickelt, damit der schließlich Erwachsene einen Beruf ergreifen kann. Dabei wird in aller Regel nur mittelbar, oft genug nur zufällig nach Begabung, Neigungen und Vorlieben gefragt. Hier ist einschränkend zu sagen, dass sehr früh dem werdenden Menschen Vorbilder vorgesetzt werden, die er vielleicht nicht wegen ihres Berufes liebt, denen er jedoch bezüglich ihrer beruflichen Qualifikation und Stellung nachzueifern trachtet. In aller Regel geht bei dieser zweigeteilten Erziehung und Sozialisierung des heranreifenden Menschen unter, was er selbst, d. h. von innen heraus nach eigenen Wünschen und Fähigkeiten ist bzw. sein könnte. Oft genug wird das verschüttet, jedenfalls ignoriert oder sehr früh ins existentiell Abseitige einer bloßen Liebhaberei abgedrängt.

    Auf diese Zusammenhänge muss es dem Psychotherapeuten ankommen. Er sollte bestrebt sein, dieses ursprünglich dem Ich seines Patienten Zugehörige, mit dem dieser identisch ist oder doch Identität herzustellen bemüht sein müsste, aufzuhellen und so erkennbar zu machen. Wie sehr das fehlt, mitunter ganz vergessen und gar nicht mehr wahrgenommen wird, ist in der Psychotherapie zu rekonstruieren, oft überhaupt erst zu entdecken. Der Wert des Menschen ist erkennbar zu machen. Darin liegt ein ganz wichtiges Ziel. Das ist das erwähnte dritte Bein, genau genommen ist es das eigentliche Standbein. Die beiden anderen sind außerhalb des Ich aufgerichtete Stützkonstruktionen, die den gesellschaftlichen Halt sichern sollen. Durch den Abzug aller Kräfte vom Ich und durch die Anstrengung, die auf diese beiden appositionellen Konstruktionen verwendet wird anstatt auf seine Entwicklung, wird der Mensch gesellschaftlich instrumentalisiert und konditioniert. Das bezieht sich auch auf mitmenschliche Beziehungen (außer Liebe).

    Über das symbolische Fragezeichen des in den Wochenplan eingetragenen eigenen Namens will der Psychotherapeut zuerst nur auf diese Frage und auf dieses Manko aufmerksam machen. Danach hat sich alle Mühe der Psychotherapie darauf zu konzentrieren, dieses Ich zu entwickeln und zu stärken. Die Stärke dieses Ich muss dann auch darin bestehen, dass die beiden anderen Identitäten relativiert werden können. Ihnen muss das so absolut Ansprüchliche entzogen werden. Sie müssen, auch wenn das nicht besonders glücklich ausgedrückt erscheint, zu einer Manövriermasse werden. Schon gar nicht dürfen sie einen Rang haben, dass sich von ihnen der Wert des Menschen ableitet. Das trifft auch für die Rolle zu, die ein Mensch innerhalb einer Beziehung oder einer Familie einnimmt. Hier muss Psychotherapie ihn dazu ermutigen, einen „gesunden Egoismus zu entfalten. Die Erfahrung zeigt regelmäßig, dass durch einen solchen gesunden Egoismus sogar der kommunikative Wert innerhalb einer Beziehung wächst, wenn nicht überhaupt erstmals sichtbar wird. Wer sich immer nur still fügt, wird nicht mehr wahrgenommen, schon gar nicht geachtet, ist keine Orientierungsfigur. Vielfach wird er auch gar nicht geliebt. Er scheint zu den gewöhnlichen unwichtigen dinglichen Gegebenheiten im Umfeld anderer zu gehören. Die Erziehung zum „gesunden Egoismus ist indessen nichts weiter als ein Aspekt des unter Trümmern ausfindig gemachten, freigegrabenen und dann geförderten Selbst.

    Hier wird sich der Philosophie des AUGUSTINUS angenähert, bei dem sich die Selbstliebe in seiner Lehre des amorproximi (in den Confessiones) gepriesen findet. Augustin hat über die Nächstenliebe reflektiert und den zwingenden Schluss gezogen, dass überhaupt der Nächste des Menschen er selbst ist. Daher auch ist der Selbstmord bei Augustin die größte und schwerste aller Todsünden.

    Hier nicht ausgeführt, aber am Rande doch notiert soll sein, dass es dieses Ich bzw. dieses Selbst ist, aus dem die Kraft zum künstlerischen Schaffen entspringt. Das kann freilich nicht bedeuten, dass der Psychotherapeut sich der Aufgabe verschriebe, aus allen seinen Patienten Künstler zu machen. Ein derartiges Programm würde auch nicht Kunst oder künstlerischem Schaffen gerecht. Hier ist mehr an die Variante zu denken, die mit dem Thema der sogenannten Dramaturgie des Selbst anvisiert ist. Das führt zu der Vorstellung, dass das individuelle Leben und seine Gestaltung Kunstwerk und künstlerisches Schaffen sind. Das Medium ist

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