Freiheit - eine Inventur: Zwischen Betreuungspolitik und digitaler Selbstentmündigung
Von Karl Hepfer
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Freiheit - eine Inventur - Karl Hepfer
Karl Hepfer
Freiheit – eine Inventur
Zwischen Betreuungspolitik und digitaler Selbstentmündigung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2023 transcript Verlag, Bielefeld
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.
Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld
Umschlagabbildung: Sabine Erdbrink und Karl Hepfer
Print-ISBN: 978-3-8376-6552-9
PDF-ISBN: 978-3-8394-6552-3
EPUB-ISBN: 978-3-7328-6552-9
https://doi.org/10.14361/9783839465523
Buchreihen-ISSN: 2364-6616
Buchreihen-eISSN: 2747-3775
Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de
Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Vorbemerkung
1.Theorie
1.1Die Freiheit zu tun, was immer wir wollen…
1.2Individuum und Kollektiv
≡ Benthams ›Panopticon‹
1.3Die Abwesenheit äußerer Hindernisse
≡ Biometrie
1.4Autonomie
1.5In freier Entscheidung gegen die Autonomie?
≡ Wohnraumüberwachung
1.6Mills Voraussetzungen und die ›Befehlsgewalt der Gesellschaft‹
≡ ›Smarte‹ Todessehnsucht
1.7Das Paradox der besten Wahl
≡ Schuldvermutung
1.8Das Dogma der Effizienz
≡ Nichts geht verloren
1.9Nudging: der Mensch als Maschine
≡ ›Wearables‹
1.10Selbstoptimierung
1.11Veränderte Verhältnisse
2.Praxis
2.1Konformismus
2.2› Big Data‹
2.3Weiter so! – Der ›Naturalistische Fehlschluss‹
2.4Grenzen der Verantwortung
2.5Das höchste Ziel
2.6Folgen
2.7Sozialer Determinismus
2.8Virtuelle Freiheit: Ein Ersatz für die reale?
2.9Staatlicher Übergriff und Selbstermächtigung
2.10Smarter Totalitarismus
2.11Die Macht der Mehrheit
2.12Ökonomie
2.13Einfache Sprache
2.14Unbegrenzte Möglichkeiten
2.15Die Freiheit der Andersdenkenden
2.16Covid19: Comeback des Kollektivismus
2.17Fazit
3.Anhänge
Anhang 1 – Willensfreiheit
Anhang 2 – Neo/Liberalismus
4.Quellen und Anmerkungen
Quellenverzeichnis
Anmerkungen
Inzwischen haben wir begriffen, dass es bei diesen
Technologien nie um Beziehungen zueinander,
sondern um Macht über andere ging.
E. Snowden
Vorbemerkung
Die Steinzeit endete vor gut 8000 Jahren mit dem Wechsel zur Metallverarbeitung. So steht es im Lehrbuch. Heute wissen wir, dass dieses Zeitalter erst 1983 wirklich zu Ende war. Denn erst in diesem Jahr brachte eine Elektronikfirma aus Schaumburg/Illinois das erste Mobiltelefon auf den Markt. Es hörte auf den Namen Motorola Dynatac und kostete ein Vielfaches aktueller High-End-Modelle. Mit den Nachfolgern des Dynatac verbringt jeder Mensch in diesem Land heute knapp vier Stunden seiner Lebenszeit – pro Tag und im Schnitt.¹ Dauerte der flächendeckende Umstieg vom Faustkeil auf Messer, Löffel, Axt und Sägeblatt um die 300 Generationen, so vollzog sich der Siegeszug der Elektronik to go in nicht einmal einer Generation. Heute ist das mobile Endgerät ein ständiger Begleiter fast jedes Deutschen jenseits des Grundschulalters. Weltwahrnehmung, Kontaktpflege, Orientierung, Einkauf, Freizeitgestaltung – ohne Handy und Internet geht inzwischen für die meisten so gut wie nichts mehr.
Das hat Folgen. Eine der wichtigsten betrifft eine grundlegende Zutat unseres Lebens: unsere Freiheit. Während allgemeine Unzufriedenheit und Reizbarkeit, Abgelenktheit und verkürzte Aufmerksamkeit, Vernachlässigung der realen Umgebung und Gesundheitseffekte als Folgen des durchelektronisierten Alltags gelegentlich ins Bewusstsein drängen, bleiben die Konsequenzen für unsere Freiheit in der Regel unsichtbar. Jedenfalls solange man nicht bewusst hinsieht. Denn anders als bei einer militärischen Sonderaktion, die Menschen die Hoheit über ihre Lebensführung und ihr Land nehmen soll, liegt der Schaden für die Freiheit hier nicht offen auf der Hand. Es ist ein Freiheitsverlust der kleinen Schritte, der im Zusammenwirken einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren entsteht. Die elektronischen Handschmeichler und unser Online-Verhalten sind dabei nur ein Aspekt, wenn auch ein wichtiger. Weitere sind (unter anderem) eine Politik der ständigen Bürgerbeschwichtigung und -betreuung, wie sie in den letzten Jahren üblich geworden ist, ein Dauerkrisenmodus, der die öffentliche Kommunikation regelmäßig an ihre Grenzen führt, eine Nachlässigkeit bei staatlichen Kernaufgaben, die sich nicht zuletzt in einer sogenannten Optimierung des Gesundheits- und des Bildungswesens niederschlägt, die Art und Weise wie wir miteinander umgehen. Die Entwicklungen wirken zusammen und arbeiten weitgehend unter dem Radar daran, unserer Freiheit auf mittlere und lange Sicht ihr Fundament zu entziehen.
Für ein besseres Verständnis des Zusammenspiels, müssen wir ein wenig ausholen. Denn nicht nur die Wechselwirkungen und Vielfältigkeit der einzelnen Entwicklungen trüben hier den Blick, sondern auch die Tatsache, dass die Frage nach der Freiheit nicht irgendeine Frage ist. Im Gegenteil, sie betrifft den Kern unseres modernen Gesellschafts- und Selbstverständnisses. Darauf weist schon die Vielzahl von Kombinationen hin, in denen uns das Wort begegnet: Gedankenfreiheit, Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Reisefreiheit, Religionsfreiheit und andere. Dies hat seinen Teil dazu beigetragen, dass der Freiheitsbegriff über die Zeit zu einer Chiffre von vagem Inhalt und hoher Beliebigkeit geworden ist,² die es den unterschiedlichsten Gruppen ermöglicht, sich unter seinem Banner zu versammeln. Dabei ist nicht zuletzt der begriffliche Nebel, der die Freiheit umgibt, dafür verantwortlich, dass wir uns in ihrem Umfeld an viele widersinnige Denkfiguren gewöhnt haben. So scheint es gegenwärtig beispielsweise völlig normal zu sein, denjenigen, die unsere Freiheit mit Terror und Bomben beseitigen wollen, mit dem reflexhaften Ruf nach einer rigiden Einschränkung oder sogar nach der weitgehenden Abschaffung bürgerlicher Freiheiten zu begegnen. Die Freiheit soll hier im Namen der Freiheit eingeschränkt werden – um den Freiheitsfeinden ihr Handwerk zu legen. Ähnliches gilt für die fürsorgliche Einhegung der Bürger im Namen ihrer eigenen Freiheit, eine Denkfigur, die auch in offenen Gesellschaften inzwischen zum Standardinventar des Regierungshandelns gehört. Und zwar eben auch dort, wo sie keinerlei Berechtigung hat. Ein zentrales Anliegen des folgenden Textes ist es, den Blick für den Begriff und die Sache zu schärfen, so dass es leichter fällt, unzulässige Berufungen auf die Freiheit zu erkennen – und entsprechend zu handeln.
Dies verlangt zunächst eine Beschäftigung mit den theoretischen Hintergründen, beginnend beim Ursprung unserer modernen Freiheitsvorstellung in der Aufklärung. Und zwar, weil viele der Fragen und Themen, die uns heute in diesem Zusammenhang beschäftigen, zu jener Zeit das erste Mal systematisch diskutiert wurden und weil diese Diskussion unseren Blick bis heute prägt. Es lässt sich daher nicht vermeiden, dass es gleich zu Beginn etwas kompliziert wird. Die gute Nachricht ist jedoch, dass es im zweiten Teil, in dem es um die Anwendung der in Teil eins gewonnen Einsichten auf die aktuelle Lage geht, deutlich einfacher zugehen wird.
Wer etwas Geduld aufbringt und sich den theoretischen Grundlagen im ersten Teil stellt, erfährt, warum die Überlegungen und Antworten von damals in der Diskussion zwar noch sehr präsent sind, aber oft nicht mehr richtig greifen. Und er erfährt auch, wie die verschiedenen Aspekte der Freiheit miteinander verzahnt sind und welche aktuellen Entwicklungen deshalb besondere Aufmerksamkeit erfordern. Vorrangiges Ziel der Darstellung ist es, aus den grundsätzlichen (philosophischen) Überlegungen zum Thema einen Nutzen für die Beurteilung unserer gegenwärtigen Situation zu ziehen. Letzte Antworten wird es dabei, wie so oft in der Philosophie, keine geben. Wer nach ewigen Wahrheiten sucht, muss sich bei der Konkurrenz und ihren Glaubensgewissheiten umsehen. Wer dagegen das eigene Nachdenken den absoluten Wahrheiten vorzieht, ist hier richtig. Die gedankliche Auseinandersetzung wird seinen Blick und seine Urteilskraft schärfen und die Kenntnis der Zusammenhänge wird seine Argumentation in der Sache stärken. Der Schwerpunkt der Analyse liegt dabei, wie angedeutet, eher auf den wenig sichtbaren Mechanismen, die dabei sind, das Fundament unserer Freiheit ernsthaft und dauerhaft zu schädigen, als auf dem Versuch, Menschen durch Waffengewalt ihrer Freiheit zu berauben.
Vorweg an dieser Stelle noch eine kurze Bemerkung zur Organisation. Die Anmerkungen, von denen es einige gibt, stehen hinter dem Haupttext. Dies mag lästig sein, weil es zum Umblättern zwingt. Da sich hier aber nicht nur Quellennachweise finden, die bequem am Seitenende Platz gefunden hätten, sondern auch längere Erläuterungen, die den Lesefluss unterbrechen, ist dies die elegantere Lösung. Hinzu kommt, dass, wer erst im Anschluss an den Haupttext einen Blick in die Anmerkungen wirft, ohne allzu häufiges Zurückblättern auskommen dürfte.
Hannover, im März 2022
1.Theorie
1.1Die Freiheit zu tun, was immer wir wollen…
»Die einzige Freiheit, die diesen Namen verdient, ist die, unser eigenes Wohlergehen auf unsere eigene Weise zu verfolgen, solange wir dabei nicht versuchen, anderen ihre Freiheit zu nehmen oder ihre Bestrebungen behindern, ihr Wohlergehen zu erreichen«.¹ Diese wirkungsmächtige Bestimmung stammt aus einem Schlüsseltext über die Freiheit. Er wurde Mitte des vorletzten Jahrhunderts von John Stuart Mill (1806-1873) der Öffentlichkeit vorgestellt. Dort bezieht der britische Philosoph die Freiheit offensichtlich bereits auf das Zusammenleben.
Doch wie verhält es sich mit ihr vor jeder Vergesellschaftung des Menschen, also in einem (imaginierten) ›Naturzustand‹,² in dem jeder auf sich allein gestellt für sein Überleben sorgt? Ist Freiheit wenigstens dort das Vermögen, jederzeit tun und lassen zu können, was auch immer wir wollen? Oder steht sie auch hier schon unter Einschränkungen? Eine kurze Überlegung macht deutlich, dass die überaus naheliegende Bestimmung der Freiheit als Vermögen, tun und lassen zu können, was immer wir wollen, auch hier schon nicht zutrifft. Zwar müssen wir im Naturzustand keine Rücksicht auf andere Menschen nehmen, doch die Natur selbst setzt uns klare Grenzen. Unsere Biologie, die Beschaffenheit unserer Umwelt und die Gesetze der Physik beschränken unsere Möglichkeiten. Diese Einsicht liegt auf der Hand. Doch sie weist auf einen wichtigen Gedanken hin, der sich leicht übersehen lässt: Gegen die Naturgesetze oder die Klugheitsregeln des Überlebens ist jede Auflehnung vergeblich – egal wie wir uns zu ihnen stellen, ändern können wir sie nicht.³ Anders dagegen die Gesetze und Regeln des sozialen Miteinanders: diese können wir anpassen, überarbeiten und verbessern (oder verschlechtern), im Idealfall durch friedliche Verhandlung und in Kooperation.
Und genau hier beginnt das philosophische Nachdenken. Denn folgen wir beim Aushandeln der Freiheit im gesellschaftlichen Zusammenleben etwa Mills naheliegender und durchaus einleuchtender Bestimmung, dass die Freiheit des Einzelnen dort endet, wo sie die Freiheit anderer beeinträchtigt, so wirft dies umgehend eine Reihe von Fragen auf. Einige von ihnen sind grundlegend und durchaus schwer zu beantworten. Dies gilt bereits für die naheliegende Frage, wann und wo genau die Ausübung meiner Freiheit die Freiheit meines Gegenübers einschränkt; und es gilt auch für die daran direkt anschließende Frage, wie mein Gegenüber oder auch die ganze Gemeinschaft reagieren darf und soll, wenn die Ausübung meiner Freiheit andere Menschen in ihrer Freiheit einschränkt.
Den entsprechenden Zusammenhang kennen wir gut aus dem Alltag. Er spiegelt sich beispielsweise in der Frage, ob der Hang zu verletzungsträchtigen Sportarten oder ungesunder Ernährung die Krankenkasse zu höheren Prämien berechtigt, oder dazu, einen Antrag auf Aufnahme in die Versicherung von vornherein abzulehnen. Denn offensichtlich schränken Risikokandidaten die Freiheit der ›Solidargemeinschaft‹ ein, weil sie die Kasse zwingen, entweder die Beiträge für alle zu erhöhen oder aber Leistungen zu kürzen. Im Ergebnis bedeutet das, dass alle Versicherten, ob Risikosportler oder nicht, ob Steak- oder Körner-Fan, Alkoholiker oder Abstinenzler, einen größeren Teil ihres Einkommens für die gleichen Leistungen aufbringen müssen und über diesen Teil dann nicht mehr frei verfügen können. Schränkt ein solches Verhalten also ihre Freiheit ein? Sicher. Ist diese Einschränkung zulässig und vertretbar? Das kommt darauf an. Denn einerseits ist es einer der Kerngedanken einer solidarischen Krankenversicherung, die Gesundheitsrisiken einer frei gewählten individuellen Lebensführung abzusichern. Und zwar ohne vorzugeben, welches Verhalten akzeptabel ist und ohne die ständige Überwachung ihrer Mitglieder. Andererseits ist die Versuchung groß, bestimmte Verhaltensweisen als vermeidbare Risiken mit einem individuellen Risikoaufschlag zu belegen. Und im Extremfall die Aufnahme zu verweigern oder uneinsichtigen Mitgliedern zu kündigen.
Wer meint, dies sei legitim, kann sich zur Begründung auf eine der beiden Traditionslinien berufen, auf denen sich die Freiheitsdiskussion bis heute bewegt.⁴ Diese Tradition bestimmt die Freiheit des Einzelnen von der Gemeinschaft aus. Wer dagegen der Auffassung ist, die Gemeinschaft solle ein solches Verhalten mittragen, nicht zuletzt, weil Vorschriften hier die Freiheit der individuellen Lebensführung erheblich einschränken, hat dagegen die zweite große Argumentationslinie der Philosophiegeschichte im Rücken. Diese beginnt mit ihren Überlegungen beim Individuum und betrachtet den Menschen erst in zweiter Linie als Teil einer Gemeinschaft. Bevor wir die beiden Modelle gleich etwas näher betrachten, ist es wichtig, sich an dieser Stelle bewusst zu machen, dass die Antwort auf die grundsätzliche Frage, wo die Freiheit des Einzelnen im Zusammenleben endet, aufgrund des unterschiedlichen Blicks auf die Rolle von Individuum und Gemeinschaft durchaus verschieden ausfallen kann. Das heißt, wer bestimmen möchte, wie viel Zwang die Gemeinschaft auf den Einzelnen ausüben darf oder sogar muss, damit alle Beteiligten ihren Lebensentwürfen in (größtmöglicher) Freiheit nachgehen können, kommt oft zu anderen Schlüssen, wenn er die Freiheit des Einzelnen als eine Funktion der kollektiven Freiheit betrachtet, als derjenige, der die Freiheit vom Individuum aus denkt.
1.2Individuum und Kollektiv
Sehen wir uns zunächst die kollektivistische Seite genauer an. Der Grundgedanke derjenigen, die von der Gemeinschaft aus denken ist dieser: Der Einzelne kann nur dann frei sein, wenn die Gemeinschaft, deren Teil er ist, als Ganzes frei ist; das heißt, unabhängig von dem, was andere Gemeinschaften für sich entscheiden. Da diese Grundannahme die Freiheit des Individuums direkt vom Zustand der eigenen Gemeinschaft abhängig macht, muss der Einzelne in diesem Modell für die Freiheit seiner Gemeinschaft unter Umständen erhebliche Einschränkungen bei der selbstbestimmten Verfolgung seiner Ziele hinnehmen.¹
So formuliert klingt der kollektivistische Ansatz nach einem schlechten Handel. Warum sollte ich mich darauf einlassen, meinen Lebensentwurf zunächst den Bedürfnissen der Gemeinschaft unterzuordnen – und das nur auf das vage Versprechen hin, dass die Gemeinschaft mir irgendwann meine Freiheit mit Zinsen zurückgibt?
Eine kurze Überlegung macht deutlich, dass der Ansatz nicht ganz so abwegig ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Schließlich gewinnt auch der Einzelne, wenn es seiner Gemeinschaft gelingt, Reibungsverluste niedrig zu halten. Denn wenn das Kollektiv bei der Organisation und der Zuteilung von Ressourcen freie Hand hat, kann es dadurch den Spielraum für die Gemeinschaft unter Umständen erheblich vergrößern – und später ihre Mitglieder an den entsprechenden Gewinnen beteiligen. Eine Ressourcenverwaltung, die wenig Rücksicht auf die individuelle Freiheit nehmen muss, führt daher im guten Fall tatsächlich dazu, dass die anfänglichen Einschränkungen für den Einzelnen später mehr als ausgeglichen werden und die individuelle Freiheit am Ende höher ist, weil die Gemeinschaft weitgehend unabhängig von äußeren Einflüssen agieren kann und sich zum Beispiel keine Gedanken über die Energieversorgung im kommenden Winter machen muss. Soweit die Theorie.
Bekanntlich hat der kollektivistische Ansatz zurzeit keine gute Presse. Dies hat vor allem zwei praktische Gründe. Erstens sind die historischen Versuche, ihn in großem Stil in die Tat umzusetzen, im letzten Jahrhundert spektakulär gescheitert. Sowohl der Kommunismus in seinen verschiedenen Ausprägungen als auch der Nationalsozialismus waren, indem sie (im Namen der Partei, des Kollektivs, oder der Volksgemeinschaft) auch die Freiheit des Einzelnen von der Gemeinschaft aus bestimmten, die Quelle erheblicher sozialer und wirtschaftlicher Verwüstungen.²
Zweitens speist sich das Misstrauen gegen diesen Ansatz aus der durchaus naheliegenden Vermutung, dass, wenn sich die individuelle Freiheit allein oder auch nur überwiegend im Hinblick auf die Bedürfnisse der Gemeinschaft bestimmt, es für den Einzelnen meistens doch eher ungemütlich wird. Dass dieses Misstrauen nicht unbegründet ist, lässt sich bei einem zweiten Blick auf das Versicherungsbeispiel erkennen. Denn sobald dort im Namen der Solidargemeinschaft ein bestimmtes Verhalten für alle verbindlich festgelegt wird, greift dies tatsächlich weitreichend in die freie Verfolgung individueller Lebensentwürfe ein. Egal, ob es diejenigen trifft, die ohne Neondress, Helm, Hand- und Knieschutz auf ihr Fahrrad steigen, oder diejenigen, die regelmäßig den Grünkernbratling für das Steak vom Grill stehen lassen: Sie alle laufen in diesem Modell Gefahr, im Namen