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Wege
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eBook324 Seiten4 Stunden

Wege

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Über dieses E-Book

Eine Deutsche in Frankreich – und dann auch zeitweise wieder in Deutschland: Janne ist eine Frau, die einen ungewöhnlichen Weg wählt, ihren Beruf und ihr Beamtensein aufgibt, um in Frankreich in einem Château aus dem 13. Jhdt. ein Gästehaus einzurichten. Sie verliert ihren Mann an den Krebs, muss sich neu erfinden, für sich wieder ein Leben aufbauen.

Sie erinnert sich an Episoden, die mit dem Gehen, dem Laufen, der Bewegung, dem Einschlagen neuer Wege, zu tun haben.

„Wege“ ist ein Rückblick, eine Selbstvergewisserung, eine Wiederentdeckung. Es ist ebenso eine ehrliche und sehr persönliche Auseinandersetzung mit den Themen unserer Zeit.

Eine Lektüre, die man sich nicht entgehen lassen sollte.

Maren Woehe, geb. 1955 in Offenbach/Main, wuchs in Schleswig-Holstein auf und studierte in Hamburg Geschichte und Literaturwissenschaften. Sie arbeitete als Lehrerin an einem Gymnasium und zog dann Anfang 1996 in ihre Wahlheimat, den Südwesten Frankreichs. Dort betrieb sie 13 Jahre lang ein Gästehaus in einem 700 Jahre alten Château.

Nach dem Tod ihres Mannes verkaufte sie es, blieb aber dennoch in Frankreich. Den Großteil des Jahres verbringt sie in ihrem Haus auf dem französischen Land, die Wintermonate aber verbringt sie in Deutschland bei ihrem heutigen Lebenspartner. 

In den vergangenen 14 Jahren übte sie verschiedene Tätigkeiten aus, unter anderem als Dozentin für Business English, im Kulturamt einer deutschen Stadt und als Betreiberin einer Kunstgalerie und eines Cafés. Sie ist als Malerin tätig und stellt ihre Werke bei Ausstellungen in Frankreich und Deutschland aus.
SpracheDeutsch
HerausgeberEuropa Edizioni
Erscheinungsdatum22. Sept. 2022
ISBN9791220132695
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    Buchvorschau

    Wege - Maren Woehe

    Maren Woehe

    Wege

    © 2022 Europa Buch | Berlin

    www.europabuch.com | info@europabuch.com

    ISBN 9791220129732

    Erstausgabe: Oktober 2022

    Gedruckt für Italien von Rotomail Italia

    Stampato presso Rotomail Italia S.p.A. - Vignate (MI)

    Wege

    Diese Erzählung widme ich allen Menschen, die mein Leben bereichert haben.

    Für Jürgen. Für Klaus.

    Mein Dank gilt dem Verlag Europa Buch, vor allem Jennifer Püschel, Sylwia Zborowska und

    Martina Sferrago: Danke für die Unterstützung und die ermutigende Zusammenarbeit.

    Ich danke meiner Schwester Jördis für ihre Hilfe, ihre

    Anregungen und dafür, dass sie immer da ist,

    wenn ich sie brauche.

    To love oneself is the beginning of a lifelong romance.

    Oscar Wilde

    Google maps sei Dank: da ist er, der erste Weg, der sie für alle Zeiten auf Feld- und Wiesenwege geprägt hat. Birkenweg heißt er dort, wo er beginnt. Wie mit einem überdimensionalen Lineal gezogen führt er den Radfahrer, den Wanderer, zum Oberlauf der Alster. Dorthin, wo der Fluss noch erst einer werden will, wo es ihn schaudert vor der Großstadt, vor der weißen Flotte, den Kanälen und der Begegnung mit der Elbe und ihren Containerschiffen, die er schließlich tragen hilft, vier Stunden bis in das große Meer. Hier ist er ein Bächlein, gerade tief genug, um an einem warmen Sommertag hineinzusteigen bis zu den Knien. Der Genuss im kühlen Nass, das Gurgeln und Plätschern um die nackten Beine herum, die Lichtspiegelungen auf der schwappenden Oberfläche.

    Die Einsamkeit der Wiesen und des Moors.

    Früh lernte Janne den Respekt vor diesem unsicheren Grund, vor dem Trügerischen daran. Auch wenn es noch dauerte bis zu ihren ersten Moorleichen im Schleswiger Museum, bis zur schaurig-schönen Lyrik einer Annette Droste-Hülshoff. Im Moor zu versinken war als Bedrohung präsent; das Versprechen, vorsichtig zu sein, sich nicht hineinzutrauen in das Schwammige, eine Voraussetzung für die elterliche Erlaubnis, Radfahrten in das Wilstedter Moor zu unternehmen, immer mindestens zu zweit, versteht sich.

    Nun wohnte ihr Klassenlehrer dort, mitten in dieser einsamen Gegend. Damals waren Lehrer in einer Dorfschule noch allmächtig. Bei gutem Wetter – und wenn ihm danach war – entschied er kurzerhand, die Schülerinnen und Schüler in Zweierreihen antreten zu lassen. Dann marschierten sie, einander an den Händen haltend und mit Gesang, hinaus in das Wilstedter Moor. Unterwegs gab es Anschauungsunterricht in Biologie. Blätter verschiedener Bäume wurden gesammelt, die Aderung begutachtet, Blüten gepflückt zur späteren Pressung im Poesiealbum. Der Weg erschien den Kindern lang, es wurde heiß, die Bäume warfen nicht ausreichend Schatten. Die Hände wurden schwitzig und durften jetzt losgelassen werden, denn das Ziel war nicht mehr weit. Die Frau des Lehrers erwartete seine Schutzbefohlenen immer mit Limonade, `Brause´ genannt, weil sie so schön prickelte. Sie stritten sich, um das Recht zu schaukeln, einige verzogen sich in den Schatten und lauschten den Geschichten über das Moor.

    Nicht umsonst war der Lehrer gleichzeitig Vorsitzender des dörflichen Männergesangsvereins: Es ging wieder los: Die blauen Dragoner, sie reiten…, Wildgänse rauschen durch die Nacht…, Es klappert die Mühle am rauschenden Bach…, und dann, auf dem Weg zurück in die Dorfschule: Das Wandern ist des Müllers Lust… und Es tönen die Lieder … im Kanon.

    Mit roten Wangen und müden Gliedern erreichten sie den Schulhof. Dort patrouillierte der kriegsversehrte Religionslehrer, im Anzug, seinen verbliebenen Arm auf dem leicht vornüber gebeugten Rücken haltend, den leeren Ärmel in der Jackentasche gesichert. Ein kurzer Plausch der beiden Kollegen, ein Pfiff mit der Trillerpfeife, und alle rannten zurück in eines von den insgesamt drei Klassenzimmern. In den Köpfen klang noch nach, was Hermann Löns über das Moor gedichtet hatte:

    Alle Birken grünen in Moor und Heid

    Jeder Brambusch leuchtet wie Gold

    Alle Heidlerchen jubeln vor Fröhlichkeit

    Jeder Birkhahn kollert und tollt

    Meine Augen gehen wohl hin, wohl her

    Auf dem schwarzen, weißflockigen Moor

    Auf dem braunen, grünschimmernden Heidemeer

    Und steigen zum Himmel empor

    Zum Blauhimmel hin, wo ein Wölklein zieht

    Wie ein Wollgrasflöckchen, so leicht

    Und mein Herz, es singt ein leises Lied

    Das auf zum Himmel steigt

    Ein leises Lied, ein stilles Lied

    Ein Lied so fein und so lind

    Wie ein Wölklein, das über die Bläue zieht

    Wie ein Wollgrasflöckchen im Wind

    Ein Wollgrasflöckchen war in Jannes Fantasie ein lustiges, kleines Ding, weich wie Seide, leicht wie Luft. Unbeschwert, so erscheinen diese Jugendjahre allzu gern aus der Rückschau. Das waren sie aber keineswegs immer. Eben der Lehrer, der die Drittklässler singend durchs Moor zu Limonade und Schaukel führte, verpflichtete die Mädchen, auf dem Heimweg Weidenruten zu pflücken, mit denen er Axel regelmäßig Schläge auf seinen Allerwertesten verpasste, vor versammelter Klasse, nach dem oft schon vom vorauseilenden Weinen entstellten Geständnis des Jungen, einmal wieder die Hausaufgaben nicht gemacht zu haben. Axels Vater saß im Gefängnis, seine Mutter lebte mit ihm und sechs weiteren Kindern auf engstem Raum in einem schäbigen Häuschen und hatte ganz offensichtlich nicht die Mittel und Möglichkeiten oder nicht den Willen und die Kraft, ihre Kinder zu schulischem Fleiß anzuhalten. Darauf nahm in den frühen 60er Jahren ein Dorfschullehrer keine Rücksicht. Die Klasse begleitete das Geschehen mit einer Mischung aus Mitleid und Schadenfreude…und pflückte weiter Weidenruten. Und Axel trug eine kurze Lederhose, die die Schläge abfedern sollte, ihn aber im Norden Deutschlands auch als Außenseiter brandmarkte.

    ---

    Warme, sanfte, süße Luft. Sie hebt die Grenze auf zwischen ihrer Haut und der Umgebung. Immer wieder eine Offenbarung für ein Nordlicht wie sie. Heute führt Jannes Lieblingsweg durch einen südlichen Wald. Er strömt so viel Duft aus, dass sie sich getragen fühlt, auch wenn sie nie weiß, ob das Rascheln am Wegrand von einer Schlange rührt, die die hohen Farne als Deckung benutzt. Die Schönheit des Wegs tut fast weh. Mit dieser Ambivalenz lebt sie. Die Augen trinken das Blau, das betörend durchlässige Blau dieses Himmels im Südwesten Frankreichs, die abgestuften Grüntöne dieses Walds. Der Weg lockt zum Laufen, die Kiefern verströmen den Geruch von Sommer: kein Widerstand, nur Aufgehen in der Bewegung, in einer Landschaft, die dich sanft umarmt. Und dann brennt der Wunsch, es möge bitte nie vorbei sein, tausendfach wiederholbar, immer wieder für sie da. Dieser Weg möge nie enden.

    Dennoch hat er – wie alle Paradiese – seine kleinen Teufel: Mücken und nervige Miniaturfliegen, die immer das Gesicht suchen und ständig weggewedelt werden müssen. Als sie diesen Weg regelmäßig zum Joggen benutzte, vor 11 Jahren, schwenkte sie immer wieder einen Farnwedel vor dem Gesicht hin und her. Das half gegen die Plagegeister, störte aber auch das Abtauchen in unsortierte Gedanken, Assoziationen, die das Laufen sonst so kontemplativ machten. Damals lief sie gleich nach dem Aufstehen, vor dem Frühstück – welch eine Überwindung für jemanden, der eigentlich ohne den Morgenkaffee antriebslos ist. Weil sie es dennoch schaffte, fühlte sie sich stark, voller Kraft und Tatendrang. Den eigenen Widerstand überwinden. Dem kann sie heute noch nachspüren, wenn sie den Weg nimmt, er hat die Erinnerung an dieses Gefühl im warmen Waldboden gespeichert, im sonnengetrockneten Wegesand. Aufregend waren die undeutlichen Aussichten auf alles, was da noch kommen konnte. Gerettet, so fühlte sie sich. Und das hatte sie weitgehend allein geschafft. Sie hatte sich selbst gerettet.

    Und dann war da noch Lilly. Wege mit Lilly, ihr Weg mit Lilly. 

    Als Lilly noch klein war und die Beinchen zu schwach, um viel mehr als einen Kilometer zu laufen, pflegte Janne ihr Hundemädchen nach kaum der Hälfte des Morgenmarschs auf den Arm zu nehmen. Sie trug das knuddelige Wollteil, bis die Arme schwer wurden. Aber was macht das schon, wenn eine warme Zunge die Hand leckt, wenn aus braunen Augen ein Blick voller Vertrauen geschenkt wird, unter blonden Wimpern hervor, die jedes Model neidisch gemacht hätten. 

    Es ging am Hof des Nachbarn vorbei: Pflaumenpaule, so nannte sie ihn, selbstverständlich hat er das nie erfahren. Jean-Paul war ein Bully, „Silvester Stallone für Arme" hatte eine Freundin ihn getauft. Er fühlte sich als Herr auf dem Hügel und setzte seine Interessen so rücksichtslos durch, als befände man sich nicht im Südwesten Frankreichs des 20. Jahrhunderts, sondern im Wilden Westen um 1800. Seine gut 80 Hektar Pflaumenplantagen bearbeitete er intensiv mit allen Gerätschaften, die viel Krach und Gestank produzierten. Und wenn die Bäume zeitweise seiner kraftstrotzenden Aufmerksamkeit nicht bedurften, schraubte er an seinen Traktoren, Erntemaschinen und – vorzugsweise – Motocross Rädern herum, fluchte, ließ die Schraubenschlüssel klirrend auf den betonierten Hof fallen und jagte immer wieder die Motoren hoch. 

    Mitten in den Feldern, auf denen er wahlweise Mais oder Sonnenblumen anbaute, lag ein Grundstück, das ihm nicht gehörte, von dem er aber bei jedem Pflügen und bei jeder Aussaat ein Stück mehr abzwackte. Langsam, aber sicher zingelte er Elodie ein, die Postbotin des Orts, die das ungepflegte, langsam verfallende Haus von ihrem Vater geerbt hatte. Sie schlich sich nach ihrer wochentäglichen Runde mit dem Postauto, ihrer beweglichen Festung, die ihr blitzschnelles Davonfahren ermöglichte, aus Angst vor Jean-Paul nur im Dämmern aus dem Haus. „Er darf nicht wissen, dass ich hierherkomme, mit dir rede. „Warum darf er das nicht? fragte Janne. „Jeanne, du hast ja keine Ahnung. Er hat uns schon in der Schule schikaniert. Keiner stellt sich ihm entgegen. Es ist besser so, glaub mir." Der Blick huschte nach links und dann nach rechts, als würde das dunkel gebräunte Muskelpaket auf zwei Beinen jeden Moment auftauchen, mit bedrohlichem Blick unter dem tiefsitzenden Ansatz der gekräuselten Haare.

    Um ihre Warnung zu unterstreichen, erzählte Elodie von der wunderschönen Allee majestätischer Bäume hinauf zum Château, uralte Bäume, die Jean-Paul in einer Nacht- und Nebelaktion von seinen Leuten fällen ließ, um vom Weg aus ungehindert mit dem Traktor auf seine Felder und Plantagen gelangen zu können. Als der Bürgermeister ihn hinterher darauf hinzuweisen wagte, dass das eine ungenehmigte Aktion gewesen sei, baute sich Pflaumenpaule vor ihm auf, schaute mit zusammengekniffenen Augen auf ihn hinab und sagte nur: „C´est fait. Et alors…?!" (Es ist getan. Und nun…?!).

    Nun, das wollen wir doch mal sehen. Würde er sich ihr in den Weg stellen, wenn sie zwischen den blühenden Pflaumenbäumen und den Scheunen hindurch den Bauernweg benutzte, um den leicht abschüssigen Feldweg zu erreichen, der ihre Morgenwelt aufschloss? Lilly vorweg, freudiges Schwanzwedeln wie ein Wegweiser durch taubenetzte Wiesen. Hinter dem Hofgelände ging es rechterhand hinab durch diese sanft hügelige Landschaft. Klatschmohn und wilde Orchideen säumten den Weg. Rot und lila im Kontrast mit dem frischen morgendlichen Grün. Lilly im Trab, Janne hinterher. Laufen, welch eine belebende, wunderbare Erfahrung, immer wieder. Dass die Beine nach einer Weile ihren Job von ganz allein machen, dass der menschliche Körper alles bereithält, um mehrere Kilometer zügig und mit Genuss hinter sich zu bringen, dass man sich anschließend so gut durchwärmt und tatenlustig fühlt: Das ist immer wieder ein wohltuendes, ja beglückendes Erlebnis.

    Linkerhand in der Senke lag Paules Wasserreservoir, gedacht, um in trockenen Sommern die Felder zu bewässern, aber auch als Fischteich genutzt. Allerdings gab es für den Fang Konkurrenz: Ganz ruhig, wie eine Statue, stand ein Graureiher im Wasser, um sich zu bedienen. Das versuchte Jean-Paul mit einer Anlage zu verhindern, die in regelmäßigen Abständen Schüsse abgab. Wen interessierte, dass die Dorfhunde hochgeschreckt wurden und bellten, wen interessierte, ob das Geknalle unangenehm war, solange Jean-Paul seine Fische nicht mit dem Reiher teilen musste? Der große Vogel spreizte seine Flügel und gab auf – nicht ohne einen heiseren Schrei abzugeben.

    Der Weg schlängelte sich in einer Rechtskurve hinunter und verließ das Hoheitsgebiet ihres Nachbarn, um an einem Tomatenfeld entlang zu führen. Mundraub wagte Janne nicht, so verlockend die tiefroten Früchte auch in der Morgensonne leuchteten. Eines Tages schließlich traf sie auf den Bauern, der sie probieren ließ: Eine saftigsüße Köstlichkeit zerschmolz auf ihrer Zunge. So ein Geschmackserlebnis hätte sie gern ihren Gästen geboten, aber er schüttelte nur den Kopf. Seine gesamte Ernte war vorab verkauft ins Ausland, wohin verriet er nicht. 

    Also weiter, über die Straße den nächsten Hügel hinauf, an einer Fichtenschonung vorbei bis nach Born, dem Nachbarort, wo Lilly und Janne dann vor der Friedhofsmauer auf Louise warteten. Janne nutzte die Zeit für ein paar Dehnübungen, für die sie das Friedhofstor zur Hilfe nahm, indem sie ihre Arme dagegen stemmte, beugte und streckte, dann die Beine. Lilly schlief schon einmal eine Runde im Schatten der Mauer. Schließlich erschien Louise mit ihrem schon ziemlich in die Jahre gekommenen Renault, in dem eine Ladung Baguettes duftete, für französische Verhältnisse recht verlässlich um acht Uhr. Janne setzte sich auf den Beifahrersitz, nahm Lilly anfangs auf den Schoß, später, als sie dafür zu groß und zu schwer wurde, zwischen die Beine, und ab ging´s, zurück zum Château, wo Janne duschte, sich präsentabel kleidete und dann die von ihrem Ehemann vorbereiteten Schüsseln mit Obstsalat, Joghurt und Müsli, die Platten mit Schinken und Käse, die Karaffe mit dem Orangensaft, Croissants und Baguettes auf dem Büffettisch arrangierte. Ab 9 Uhr trafen die `Frühaufsteher´ unter den Gästen des Hauses ein und bestellten ihren Kaffee, Tee oder heiße Schokolade. Das war der Moment für Louise, schon einmal in die Zimmer zu schlüpfen und dort ihre Arbeit aufzunehmen. Janne verschaffte ihr Zeit, hörte sich die Geschichten ihrer Gäste an, schlug ihnen Ausflugsziele vor, buchte Restaurantplätze und Eintrittskarten für die Grotte `Font de Gaume´ oder das Château `Beynac´ und diskutierte auch schon mal mit einem Pariser Anwalt darüber, ob die Behörde für Altertümer und Sehenswürdigkeiten in Périgueux einen guten Job machte, ob man neu entdeckte Grotten für das breite Publikum öffnen oder ausschließlich der Wissenschaft überlassen sollte. „Mais, Madame …", so hieß es dann, und diese Gespräche waren oft mehr als ein Ausgleich für das, was sie hinter sich gelassen hatte.

    ---

    Was will er von mir? Warum bricht mein altes Leben in mein neues ein? Was holt mich da wieder ein, wer wirft das Lasso? Oder messe ich einem unüberlegten Tun nur zu viel Bedeutung bei, weil es in meinem Sinnzusammenhang erheblich größer wird, als es verdient? 

    Da kommt aus dem Nichts eine Mail, die mich anknipsen soll, anzapfen. Da ist jemand ganz bei sich, bei den eigenen Problemen, und überlegt keinen Moment lang, wie sein Ansinnen wirkt. Da entblößt sich jemand und erwartet eine ähnliche Entblößung als Reaktion. Das verwirrt und irritiert. 

    Vordergründig bittet Christian um Hilfe für seine Tochter, die angeblich Unterstützung bei ihrer Präsentation für die Abiturprüfung braucht. Mein Gott, meine aktive Zeit als Lehrerin liegt 25 Jahre zurück. Heute lese ich anderes, anders. Ich habe nicht mehr die Herangehensweise des Lehrers, der Lektüre mit den Augen des Vermittlers aussucht, der Inhaltsangaben und Interpretationen im Blick hat. Während der letzten Jahre habe ich wieder gelernt, einzutauchen, mich treiben und fesseln zu lassen, wenn ich lese. 

    Was soll das also? Ich ringe mit mir, überwinde meinen Widerwillen und mache mich ein paar Stunden später – um 2 Uhr nachts – an die Arbeit. Es ist leicht, denn alles, was angefordert wird, findet sich im Internet, kann gegoogelt werden. Das müsste Christian als ehemaliger Journalist eigentlich wissen. Also geht es ihm um etwas anderes. Ich schicke ihm eine knapp gehaltene Antwort mit dem Anhang, der die Fragen beantwortet – und erhalte am nächsten Tag den Hinweis, dass ich wohl die Frage nicht verstanden hätte, dass es sowieso zu spät sei, weil die Präsentation schon fällig war, als die erste Mail mich erreichte, und die Frage, wo ich denn genau wohne.

    Noch einmal: Welche Art von Hilfe will er wirklich?

    Sie ist unangenehm berührt, erinnert sich an einen anderen Mann, der den Freund gab, um sie auszunutzen, zuerst ihre Gastfreundschaft, ihr Mitgefühl, ihre Bereitschaft, sich zu kümmern, sich zuständig zu fühlen. Und dann nahm er das Geld, das sie ihm aus Freundschaft bereitwillig lieh, um es nie zurückzuzahlen, sondern sie stattdessen noch zu beschimpfen. Einer dieser Männer, die sich ewig potent und überlegen gefühlt hatten, um dann eines Tages mit Niederlagen nicht umgehen zu können. Verbales Um-sich-Schlagen als einzig mögliche Reaktion. Das Sich-an-die-Wand-gedrückt-Fühlen, bis die Kehle sich zuklemmt und nur noch Geschrei den Pfropfen löst. Oder Gemeinheit. Es müssen doch andere schuld sein. Scheitern war nie vorgesehen, das ist etwas für die Schwachen.

    Jetzt dieses unvermittelte Anrufen eines Lebens, das sie vor so langer Zeit hinter sich gelassen hat. Janne ist irritiert. Sie will dahin nicht zurück, das ist abgeschlossen. Aber Christian tut so, als sei sie immer noch zuständig, wenn es um Abiturfragen geht, als habe sie zur Verfügung zu stehen, und zwar prompt.

    Sie spürt der eigenen Skepsis nach, fragt sich, wo das Vertrauen in die guten Absichten der anderen geblieben ist: verloren gegangen mit dem Älterwerden. Nicht die Falten sind das Thema, nicht die immer mal wieder schmerzende Hüfte, nicht die Notwendigkeit, mit drei verschiedenen Brillen zu jonglieren, sondern das verlorene Grundvertrauen, die Bereitschaft zur Abwehr. Janne hatte sich immer als jemand verstanden, der eher ja sagt als nein… und damit gut gefahren ist. Also ist auch das vorbei. Sicherheiten sind Fragen gewichen, der Zweifel hat viele der alten Überzeugungen ausgehöhlt. Die erhoffte Gelassenheit, in der sie sich in ihrem FrankreichLeben üben wollte, hat sich nicht eingestellt.

    ---

    Ganz sanft und unspektakulär kommt diese Landschaft daher – und bildet sich für immer auf der Seele ab. Janne ließ ihre Augen wandern, schickte den Blick den Horizont entlang, der Pinien und Kiefern blau aus dem Grün herausragen ließ. Eine kleine Erhebung hier, eine herabfließende Wiese dort, einzelne, kerzengerade herausstechende Pappeln als Markierungen. Und dann wird das Auge vom Steingebirge des Château de Biron eingefangen, das seit mehr als 700 Jahren die Region beherrscht.

    Ewig, so erschien ihr das Bild, unveränderbar.

    War es das, was sie suchte? Hatte sie sich auf den Weg gemacht, um anzukommen, um endlich ihren Ort zu finden? Suchte sie etwas das blieb, als Ausgleich für die vielen Verluste? Ihr fehlte das Vertrauen in das Selbstverständliche von `Heimat´. Sie wusste nicht, wie das geht, wie man sich so völlig einlässt. Nichts blieb verlässlich da. Ihr schien, dass sie immer wieder neu aufbrechen sollte und sich immer wieder erkämpfen musste, was zu ihr gehören sollte. Wie sollte sie also davon ausgehen können, hier bleiben zu dürfen, alt zu werden an einem Platz, der endlich ganz ihrer war? …Oder vielmehr: dem sie ganz gehörte.

    Heute wäre ihr Vater 93 Jahre alt geworden. Sein Satz: „Wenn die Dinge nicht so laufen, wie man will, bleibt man an seinem Platz und harrt aus" hatte sie noch schneller fortgetrieben. Er hatte nie verstanden, dass das ja genau das war, was sie nicht wollte. Und ihr Wille, ihr Leben in die Hand zu nehmen, statt es über sich hereinbrechen zu lassen, hatte sie hierher geführt. 

    ---

    Ein Schleier von Feuchtigkeit legte sich über die Landschaft wie ein hauchdünnes Seidentuch. Seit dem Gewitter am gestrigen Abend, das eine lange, trockene Hitzeperiode beendet hatte, war die Luft spürbar kühler, und ein einzigartiger Duft stieg auf, gebraut aus Gras- und Erdgeruch, einer Andeutung von Blüten und Meer, belebend und geheimnisvoll. Der Regen war so fein, so allgegenwärtig, ohne anzugreifen, ohne Wind oder Schärfe, einfach nur da – wie eine Verheißung. Als wäre all die im Boden gespeicherte Sonnenwärme befreit und wüchse daraus hervor, um die Welt zu verwandeln.

    Jetzt müsste man laufen, dachte Janne, durch einen tropfenden Wald laufen über samtweichen Boden, und tief einatmen. Stattdessen stand sie unter dem Dachüberstand ihres Hauses und blickte nach Osten. Biron schien sich im Grau zu verkriechen. Die Mauern waren nur noch ein eingetrübtes Abbild ihrer rosig-goldenen Sommerabendpracht, von bleifarbenen Dächern hinuntergedrückt. Das Fehlen von Helligkeit nahm dem Land das Lebendige und deckte es zu. Dann kam die Dämmerung, die Vögel wurden leiser und schliefen schließlich ein. Ruhe. Füchse, Katzen, Eulen – alles Nachtaktive war leise und dem menschlichen Auge verborgen. Die Täuschung war perfekt.

    Janne atmete noch einmal tief die beginnende Nacht ein und ging dann ins Haus. Nachtaktive der anderen Art hatten ihre Tätigkeit aufgenommen: die Neffen.

    Nach dem Tod des alten Julien, der ein paar hundert Meter weiter in einer steinernen Kate ohne Bad gehaust und im einzig bewohnbaren Raum vor dem offenen Kamin sein Bett aufgebaut hatte, eroberte sich die Natur zurück, was vom Haus mit den eingeschlagenen Fensterscheiben und von der verwitterten und halb zusammengebrochenen Scheune übriggeblieben war. Die Neffen, seine Erben, unternahmen nichts gegen den Verfall, beuteten nur das Land aus, das sich zu einer großen, uralten Weide hinab schwang. Sie heuten, sie pflügten und eggten, vor allem aber pfiffen und schrien sie über die Traktorengeräusche hinweg, als sei es normal, sich beim Mähen der großen Wiese von Traktor zu Traktor zu unterhalten, eben nur lauter. Rufe gingen hin und her, in einer Art Geheimsprache, die aus Lauten bestand, die man auch hier nur in einem Ort, gar in einer bestimmten Familie verstehen konnte. Wozu der nächtliche Aufwand betrieben wurde, erschloss sich Janne nicht. Wenn sie gelegentlich tagsüber den Weg einschlug, der an der Ruine vorbeiführte, sah alles aus wie immer. Metall rostete vor sich hin, gebrochenes Holz diente Käfern und Ameisen als Straße und Unterschlupf, Steine waren an Plätze gekullert, die in Jahrzehnten Rätsel aufgeben würden, Kräuter, Nesseln und Disteln wucherten aus jeder Ritze und überzogen den Hof mit einem dichten Teppich, und die Wiese hinterm Haus sah eigentlich unverändert aus. Nur die Weide war bis auf Stümpfe gekürzt. Das also war´s: Da war mal wieder ein Baum im Weg. Was blieb, war eine Wunde in der Landschaft.

    Was blieb, war aber auch der Weg, der an Juliens letzter Bleibe vorbei durch Ginster und Macchia auf einen Hügel führte. Dort drehte Janne sich um, immer. Der Blick auf das Château de Biron war atemberaubend. Von hier aus gesehen, stieg der Bau noch gewaltiger aus der Horizontlinie auf. Darüber hinaus erschloss er dem Betrachter sofort Zweck und Bedeutung des herrschaftlichen Bauwerks: Da war eine die Umgebung beherrschende Festung errichtet worden, die das Umland kontrollierte und schon von weitem erkennbar machte, wer hier die Macht hatte. Janne hatte keine Mühe, sich den Weg vorzustellen, der, entlang der Sichtachse, einst Ross und Reiter durch den dichten Wald nach Biron geführt hatte. Selbst die Ehrfurcht, die während des Ritts Begleiter gewesen sein musste, stellte sich unmittelbar ein, schien mit Händen zu greifen. 

    Der Anspruch auf Macht und Kontrolle: Schaut her, ich bin hier oben, ihr seid da unten, all das vermittelte sich auch zweifellos von den Zinnen des mittelalterlichen Baus. Janne hatte mehrfach Sommerfestivals im Innenhof des Châteaus besucht. Sie erinnerte sich besonders gut an die Aufführung des Balletts `Romeo et Juliette´. Die geräumige Holzbühne, die zu diesem Zweck aufgebaut worden war, verbarg sich innerhalb der Außenmauern, die den Innenhof schützten. Die Holztribünen aber waren ansteigend so aufgebaut, dass die oberen Ränge den Blick ins weite Land freigaben.

    Janne saß mit Pat, einer Bekannten, in einer der oberen Reihen und teilte ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Geschehen auf der Tanzbühne und den Blitzen am Horizont. Sie hatte großen Respekt vor Gewittern, um nicht zu sagen eine Heidenangst. Drei Gewitterherde machte sie aus, die – noch viele Kilometer entfernt - ihre Blitze in den Boden jagten. Dunkle Wolkenmassen schoben sich im Zeitlupentempo heran. „Wenn die Gewitter sich nähern, flüchten wir ins Auto, flüsterte sie Pat zu. „Wir haben noch viel Zeit, das Wetter zieht nur ganz langsam heran, war die Antwort. Das stimmte. Außerdem: Welch ein Spektakel! Als wollte der Himmel Künstlern und Publikum zeigen, wie man Großartiges inszeniert. 

    Es war windstill, geradezu trügerisch still. Pat schien nicht beunruhigt. Janne sorgte aber schon dafür, dass die beiden sich nach der Pause ganz an den Rand setzten, um schneller davonlaufen zu können. Ihr war mulmig zumute. Sie konnte sich kaum noch auf das Geschehen auf der Bühne konzentrieren. Musik und Tanz erschienen ihr nur als Beiwerk zu dem gigantischen Himmelsschauspiel.

    Die Erinnerung an ein anderes Gewitter, vor vielen Jahren am Nordseestrand, das sie und ihre Familie an die Strandkörbe fesselte, während rundherum die Blitze in den Sand peitschten, ließ sie ihr Leben lang nicht los. Damals hockten sie alle durchnässt und ängstlich in den beiden Körben, weil das Wetter derartig schnell und ohne Vorwarnung über sie hereingebrochen war, dass die Zeit gefehlt hatte, die Körbe flach zu legen und sich darunter klein zu machen. Brillen und Eheringe nahm man mit zitternden Fingern ab, um kein Metall am Körper zu haben. Ihre jüngste Schwester Jütte biss in den Griff des geflochtenen Korbs, in dem sie ihre Badesachen aufbewahrte. Ihre Mutter sandte Stoßgebete zum erbarmungslosen Himmel, und die Männer waren sichtlich bemüht, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen.

    Damals waren sie davongekommen. Das Gewitter hatte sich irgendwann ausgetobt und ihnen erlaubt, über den Dünenkamm hinweg zu rennen und die Autos zu erreichen. Noch heute sieht sie das Bild, das sich ihr bot, als sie sich während der Flucht nach ihrem Mann umdrehte, der plötzlich nicht mehr an ihrer Seite war: Da stand er, das nasse Haar klebte am Gesicht, die Brille war wieder an ihrem Platz, die Schultern hochgezogen, um die zittrigen Hände das Feuerzeug besser kontrollieren zu lassen, und zündete sich eine Zigarette an: kaum dem möglichen Ende entronnen – typisch! dachte sie.

    Nach der Pause konkurrierten das tiefe Rollen und Grummeln der Gewitterfront mit der Musik. Pat blieb unbeeindruckt, und Janne mochte nicht den Spielverderber geben. Auch fand sie, die Tänzer hätten einen Schlussapplaus verdient. Sie wollte nicht die erste

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