Risse im Weg: Ein Jugendbuch aus Deutschlands dunkler Zeit
Von Udo Keil
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Buchvorschau
Risse im Weg - Udo Keil
1
Der Herbst hatte sich bisher von seiner besten Seite gezeigt. Die Sonne wärmte noch einmal Straßen und Fabriken der großen Stadt Lodz. Doch diese Stadt gab es nicht mehr. Fortan sollte sie „Litzmannstadt heißen. Über der großen Freitreppe des Hauptbahnhofes sei ein neues Bahnhofsschild angebracht mit dem neuen Namen ihrer alten Stadt, erzählten sich die Einwohner. Trotz aller Ungewissheit und Schikanen, welche die deutsche Besatzung mit sich brachte, ließ man sich nicht unterkriegen. Es herrschte lebendiges Treiben auf den großen Boulevards. An der Kreuzung, der jetzt so genannten, Adolf-Hitler-Straße und Meisterhausstraße, tobte das Leben wie eh und je. Da die Stadt im Krieg nicht zerstört wurde, glänzten die großen Schaufensterscheiben in der Sonne. Ungewohnt war nur, dass an Stelle der bekannten Firmenschilder der Geschäfte jetzt „Bäcker
an Stelle„inkarniere stand. Dort wo ein Schild eine „cukiernia
ausgewiesen hatte, konnte man „Konditorei lesen und eine „delikatessy
nannte sich jetzt: „Feinkost."
Menschen schlenderten an den Auslagen vorbei, suchend, ob etwas für sie dabei sei. Nur das jetzt mehr Uniformen im Straßenbild beherrschten. Neben den graugrünen der Deutschen Wehrmacht waren auch die der Polizei und die schwarzen der SS zu sehen. Auch sonst hatte sich einiges in dem Straßenbild geändert. Die Briefkästen der polnischen Post waren den roten der „Deutschen Reichspost" gewichen. Natürlich wehten an allen Behörden und Dienstellen die verhassten Hakenkreuzfahnen. Hier in diesem Stadtteil reihten sich dicht an dicht die Paläste der ehemaligen Textilbarone. Lodz war das Manchester des Ostens. Der Reichtum der Elite der Stadt bestand darin die Armut der noch Ärmeren auszubeuten. Und davon gab es genug. Russland, Weißrussland und die baltischen Staaten hatten genug Potenzial um die polnische Textilindustrie zum Tuchlieferanten für Westeuropa zu machen. So erzeugte der Reichtum der Stadt auch unvorstellbaren Armut, die sich in den reichlich vorhandenen Elendsquartieren zeigte.
Ludwik folgte langsam aber zielsicher der Adolf-Hitler-Straße. Vor der Besatzung war sie die berühmte „ulica piotrowska", die Prachtstraße der Stadt, vorbei an den Palais der ehemaligen polnischen Textilbarone. Die ehemaligen Besitzer der waren, wie alles Polnische, enteignet worden. Nicht normal enteignet, mit einem Richterspruch und Verteidiger. Nein, man hatte sie weggejagt. Wer sich am Ende des deutschen Feldzuges gegen Polen noch schnell in das Ausland absetzten konnte, der tat es. Wer das aber nicht konnte oder auf irgend eine Form der Zusammenarbeit mit den Deutschen hoffte, wurde einfach aus seinem Haus oder seiner Wohnung gesetzt. Jetzt gehörten sie den Besatzern. Das ging allen Polen so, ob arm oder reich. Auch wurde der älteste Teil der Stadt zwangsgeräumt und als Quartier für die Juden genutzt. Die polnischen Bewohner dieses Stadtteils wurden auf die frei werdenden Wohnungen der Juden in der verteilt.
Wobei zu bemerken ist, dass jede, aber auch jede, einigermaßen gute Wohnung natürlich den neuen Bürgern aus dem „Altreich, zugesprochen. Die Wohnungen, die für die „Neubürger
nicht gut genug waren, dort konnten die Polen einziehen und sehen wie sie zurechtkamen.
Es herrschte ein Gedränge auf dieser ehemaligen Prachtstraße von Lodz. Höllisch aufpassen musste man, denn wer einen Deutschen absichtlich oder unabsichtlich anrempelte, der wurde wild beschimpft und angeschrien. Natürlich konnte jeder sehen, wer ein Pole war, denn man musste das „Polenabzeichen an der Kleidung tragen. Überall sah man Personen mit dem violett-farbigen „P
an der Kleidung. So gekennzeichnet eilten sie schnell zu ihren ihnen zugeteilten Arbeitsstellen. Bloß nicht zu spät kommen.
Dazu kam, dass die Straßenbahnen nur mit Genehmigung der Stadtverwaltung benutzt werden durften. Und diese bekam man nur, wenn man in einem kriegswichtigen Betrieb der Deutschen arbeitete. Sogar die Fahrradbenutzung war genehmigungspflichtig. Ludwik ging es genau so. Er wollte schnell zur Arbeit kommen. Er hatte großes Glück gehabt. Obgleich er Gymnasiallehrer für Physik und Chemie gewesen war, gelang es die deutschen Meldebehörden zu täuschen und sich als Chemielaborant eintragen zu lassen.
Alles, was irgendwie nach polnischer Intelligenz aussah, wurde von den deutschen Behörden rücksichtslos verfolgt. So glaubte er, würde er nicht so sehr von den deutschen Behörden beobachtet. Wichtig besonders, da er in der polnischen Untergrundschule illegal polnischen Schülern Unterricht gab. Die Deutschen hatten Schulunterricht für polnischen Kinder auf ein Mindestmaß gekürzt. Jetzt war er unterwegs um zu seiner Arbeitsstelle zu kommen.
Die „Likörfabrik Hans Steinmann KG war ihm von dem Arbeitsamt zugewiesen worden. Sie lag am oberen Ende der Straße. Vorn war es ein normales Mietshaus, in dessen Erdgeschoss sich die Wohnung und das Kontor des Besitzers befand und hinter dem lang gestreckten Vorderhaus breitete sich die Fabrik aus. Im Gegensatz zu anderen deutschen Unternehmen waren hier zwischen den Fabrikationshallen Grünanlagen angelegt worden und die Gebäude frisch gestrichen. Ja, es war sogar eine kleine Sportanlage für die Arbeiter geschaffen worden.Das war ungewöhnlich, sogar verboten, dass sich die Polen sich an solch eines Luxus erfreuen konnten. Bei dem Einstellungsgespräch hatte Steinmann Ludwik aufgefordert die Wahrheit zu sagen. „Von mir brauchen sie keine Angst zu haben, fragen sie meine Angestellten, die werden ihnen das betätigen.
„Jawohl, kam die Antwort von Ludwik. Die Antwort seines neuen Chefs überraschte ihn nach dem Gesehenen schon nicht mehr. „Mir reicht ein einfaches
Ja oder von mir aus auch ein
Tak! Selten hatte er so etwas Ungewöhnliche von einem vorgesetzten Deutschen gehört. Normalerweise benahmen sie sich überheblich und hingen ihr angeblich überlegenes „Deutschtum
heraus. „Was ist ihr Beruf?, wurde er gefragt. Nach kurzem Überlegen kam die Antwort. „Ich war Chemie und Physiklehrer am ‚Deutschen Gymnasium‘ Lodz. Jetzt heißt es wohl
Günter-Prien-Schule. „Kennen sie mit alkoholischen Ingredienzien aus?
, wurde er gefragt.„Ich glaube schon, im Studium und im Unterricht habe ich ja ständig damit zu tun gehabt. „Danke, das reicht mir. Sie sind jetzt in meinem Labor angestellt. Wir stellen trinkbaren Alkohol für die Wehrmacht her. Trauen sie sich das zu?
„Ich glaube schon Herr Steinmann. „Dann sind sie mein neuer Laborleiter. Prima, dass sie Deutsch und Polnisch sprechen. Melden sie sich beim Schichtleiter Petrowski.
Ludwik dachte, er spinne. Ein Pole als Schichtleiter. Was es nicht alles gab. Später lernte er noch mehr über diesen außergewöhnlichen Deutschen, der jetzt sein Chef war. Mehrmals schon hatte die SS und die Schutzpolizei seinen menschlichen Umgang mit polnischen Arbeitern gerügt und mit Zwangsmaßnahmen gedroht. Dann, so konnte er aus späteren Gesprächen entnehmen, rief Steinmann, das deutsche Kompetenzgerangel nutzend, die zuständige Heeresverwaltung in Litzmannstadt an und beschwerte sich über die Einmischung dieser Dienststellen. Dabei kam ihm die Spannung zwischen Heer, SS und Schutzpolizei zu Gute.
Steinmann informierte die Heeresleitung Litzmannstadts über die Einmischung und diese intervenierte bei den Behörden. Die „Hans Steinmann KG sei unverzichtbar für den Kampf im Osten. „Mischen sie sich nicht in die Angelegenheiten des Heeres ein. Mir ist das vollkommen egal wie die Polen behandelt werden. Hauptsache es wird geliefert und unsere Truppen bekommen ihre Zuteilungen und diese dient zur Erhaltung der Kampfmoral der kämpfenden Truppe. Wenn Herr Steinmann meint, sein Wirken sei gut für die Steigerung der Produktion, dann ist es so. Heil Hitler!
Damit legte der General der Heeresverwaltung Litzmannstadt den Hörer auf. So war dann immer alles beim alten geblieben. Steinmann war sogar noch weiter gegangen. Zwei Polinnen wurden von ihm angefordert. Sie sollten für „seine Belegschaft kochen. „Bei diesem Fraß
, den sie in den Lagern bekämen, „kann man nicht gute Arbeit leisten. Zähneknirschend ließ die Arbeitsverwaltung von Litzmannstadt auch das geschehen. Besser man legte sich nicht mit dem Heer an. Hans Steinmann war ein typischer Fall eines Bürgers des „Altreichs
, der dem Aufruf gefolgt war den Osten des Deutschen Reiches, und dazu zählte ja jetzt der Warthegau, mit deutschen Leben zu erfüllen und den Geist des Großdeutschen Reiches in den ehemals polnischen Gebieten in das Land hineinzutragen. Im schlesischen Lauban besaß Steinmann ein seit Generationen betriebenes Kolonialwaren-Geschäft mit einer angeschlossenen Weinhandlung.
Dieses führte jetzt sein Prokurist, während er sich in das Abenteuer Litzmannstadt gestützt hatte. Sein bisheriges Leben in dieser Kleinstadt, in der auch noch seine Familie lebte, hatte wohl dazu geführt, dass ihm noch ein bisschen christliche Menschenliebe geblieben war. Da unterschied sich von vielen anderen Unternehmern, die sich als Glücksritter verstanden und die Gunst der Stunde beim Schopf zu packen und die ihnen zugefallenen Vergünstigungen weidlich ausnutzten.
2
Es war dunkel in der engen Wohnstube. Den Ofen hatten sie heute nicht angeheizt. Obwohl der Novemberwind kalt durch die Straße wehte und zu normalen Zeiten dafür gesorgt hätte, dass jedermann in warmen Stuben auf den kommenden, sich schon ankündigenden Winter wartete, war es in diesem Herbst anders. Jeder der noch Feuerholz und etwas Kohlen im Keller hatte, versuchte diesen eisernen Vorrat so lange wie möglich zu strecken.
Die deutschen Besatzer hatten alles unternommen, um die polnische Bevölkerung so kurz wie möglich zu halten. Ständig gab es in allen Versorgungslagen Kürzungen und Einsparungen. Natürlich nur für die polnische Bevölkerung. Da hieß es haushalten. Schon lange war nichts mehr, wie es einmal war. Seit der Besetzung Polens ging es ihnen schlecht. Leider nicht nur ihnen, sondern allen Polen. Besonders denen, die jüdischen Glaubens waren.
Ob sie den Glauben auch ausübten, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Auch nicht gläubige Juden wurden verfolgt. Die Nazis hatten sich in den Kopf gesetzt die germanische Rasse zur Weltherrschaft zu bringe und alles „Blutsfremde" aus zu rotten. Das taten sie dann auch. Der älteste Teil von Lodz, der sich Baluty nannte und die Vorstadt Marysin wurde dafür ausgewählt.
In diesen Stadtteilen, dort wo das Elend am schlimmsten und die Wohnverhältnisse am schlechtesten waren, wurden alle Juden der Stadt zusammengetrieben und untergebracht. Doch nicht nur Lodzer Juden wurden dort zusammengepfercht. Nein, alles was in Deutschland und den besetzten Gebieten jüdisch war, war für das Litzmannstädter Lager vorgesehen. Die Bürger, die bis jetzt in den jüdischen Stadtteilen gewohnt hatten, wurden auf die freigewordenen Wohnungen jüdischer Bewohner in den anderen Gegenden verteilt. Das Ghetto war entstanden. Als Vorstufe des Todes. Umgeben von einem Stacheldrahtzaun und bewacht von Posten der SS und der berüchtigten Sonderpolizei. Dort waren alle Juden eingesperrt und sich selbst verwaltend zusammengepfercht.
Man sprach, über einhunderttausend jüdische Menschen seien dort untergebracht. Ein „Judenältester" regierte über sie und es gab eine eigene Verwaltung.
Sogar eine Ghetto-Polizei versah hier ihren Dienst. Aber alles verlief so, wie es die deutsche Ghetto-Verwaltung angeordnet hatte. Schlimme Dinge wurden von dort erzählt. Doch auch ihnen, den „normalen" Polen ging es schlecht.
Die Bahn, auch Bus und Straßenbahn durften sie nur mit Genehmigung