Weitere 70 Tage Pandemie: Wie der Irrsinn weiterging und ich trotzdem nicht verrückt wurde
Von Hendrike Piper
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Buchvorschau
Weitere 70 Tage Pandemie - Hendrike Piper
Liebe Leserinnen und Leser!
Als ich mit „70 Tage Pandemie" mein erstes Buch beendet habe, war ich neben unermesslich stolz darauf auch ziemlich erleichtert darüber, endlich alle sich mir aufdrängenden Worte aufs Papier gebannt zu haben und einen Schlussstrich ziehen zu können.
Doch dann, nur wenige Tage, nachdem das Buchpaketchen verschnürt war, lag ich wieder abends wach, bestürmt von Gedanken, die zu Wörtern, die zu Sätzen wurden. Ich begann, wie schon die Wochen und Monate zuvor, mir Luft zu verschaffen, indem ich alles in einem auf meinem Nachttisch liegenden Notizblock festhielt.
Nach einer Woche fanden sich hierin bereits 20 Punkte – mir wurde klar, dass ich entgegen meiner eigenen Hoffnung doch noch nicht alles zur Pandemie und allem, was dazugehört, gesagt hatte, was ich wollte. Innerlich etwas seufzend begann ich wieder zu schreiben.
Im Gegensatz zum ersten Buch ging mir dieses nicht so leicht von der Hand. Immer wieder unterbrachen Phasen der Resignation, aber auch der anderweitigen Ablenkung den Schreibfluss. Kraft und Mut fand ich immer wieder durch verschiedene Feedbacks zu meinem ersten Werk – mein Dank gilt den betreffenden LeserInnen!
Jetzt, im September 2020, ist es endlich soweit und weitere 70 Tage sind durchlebt und festgehalten.
Ich wünsche Euch allen viel Spaß damit – und mir selber (und uns allen), dass es keinen dritten Teil geben muss!
Eure Hendrike
Prolog
„Hendrike, liegen mir meine Freundinnen seit Wochen in den Ohren, „Hendrike, wie geht denn das weiter mit dieser Rocona-Simulation?
, „Hendrike, schreib’ doch da bitte einen zweiten Teil!".
Jetzt wundert Ihr Euch bestimmt, dass ein solches Lästermaul wie ich tatsächlich Freundinnen hat. Das Geheimnis des Erhalts dieser ist natürlich, dass ich meine ganzen, nennen wir sie mal: inneren Wahrheiten zwar denke, neuerdings auch aufschreibe, aber meist nicht ausspreche. Wieso denn auch? Andere wären nur verletzt und die Welt wohl auch kein besserer Ort.
Jedenfalls haben sie alle mich jetzt so lange bedrängt, dass ich, obwohl ich gerade erst eine andere, weitaus persönlichere Simulation beendet habe (Ihr lest von mir, versprochen!), beschließe, mich auf ein Revival¹einzulassen. Rocona 2.0 sozusagen. Ein bisschen aufgeregt bin ich schon. Diesmal entscheide ich mich für eine Variante, bei der man auch mal ein paar Tage überspringen kann; und möchte zudem ein paar Wochen nach meinem letzten Ausstieg zurückkommen – in der Hoffnung, dass sich etwas Wesentliches geändert hat und mein Ausflug in diese damals so verstörende Welt vielleicht schon bald wieder vorbei ist. Ich buche jedoch wieder 70 Tage, man kann ja nie wissen, außerdem ist der Mensch (also auch ich) ja ein Gewohnheitstier.
Drei, zwei, eins – los geht’s!
¹ Revival = Englisch für: Wiederaufleben
Tag 90
Vorsichtig schaue ich mich in dieser mir wie altbekannten, nun aber nach der Pause doch wieder neuen Welt um und suche auf altbewährte Weise erstmal Hilfe und Infos über WhatsUpp, Internet und Tageszeitung. Ich erfahre, dass es seit meinem Weggang hier vor etwa 3 Wochen weitere sogenannte Lockerungen gegeben habe, die Fallzahlen trotzdem weitestgehend niedrig geblieben und die nächsten Schritte zur Rückkehr in die (neue? alte? Wer wird denn so oberkritisch sein?) Normalität geplant sind. So ist auch mein erster Eindruck, als ich abends durch die Straßen meiner Stadt schlendere. Voll sind jene, voll mit lachenden, gelösten Menschen, die beieinandersitzen, zusammen essen und trinken -und sich oft sogar auch umarmen. Ich bin verdutzt: War das alles nur ein böser Traum und meine Skepsis am Ende meiner ersten Zeit hier gänzlich unberechtigt? Hat in der Dauer meiner Abwesenheit tatsächlich eine differenzierte Debatte über Sinn- und Unsinn des Ganzen statt- und man nun gemeinsam zu einem guten angemessenen Umgang mit Rocona gefunden?
Interessiert lausche ich, im Licht der untergehenden Sonne einen Drink in einem Café schlürfend, den Gesprächen meiner Nebensitzer. In den meisten jener dreht sich doch noch alles um das Thema Nr.1. Über den Lockdown – ich freue mich schmunzelnd, dass sich dieser von mir damals favorisierte Begriff wohl im Volksmund durchgesetzt hat – wird nun in einer Art ehrfürchtiger Vergangenheitsform geredet: „damals im Lockdown. Ich fühle mich an Formulierungen wie „damals im Krieg
erinnert und muss mich kurz kneifen um mich zu vergewissern, dass ich das wirklich so gehört habe.
Ich meine, was war denn „damals im Lockdown" für die meisten von uns? Krankheit, Tod, Verderben? Mitnichten! Vielmehr: Kurzarbeit, Langeweile, Panikmache, ABM. Und das, was mir in dieser Phase zu schaffen gemacht hat, nämlich ein zunehmendes Zweifeln am Sinn und der Richtigkeit des Herunterfahrens des Lebens an sich – davon reden die am Nebentisch bestimmt nicht, mit ihrem „damals im Lockdown".
Nee, da am Nachbartisch geht es um deutlich profaneres: Wer mit wem und dass man damals sein Lieblingsshampoo wegen Lieferschwierigkeiten nicht bekommen habe.
Oh Mann! Dabei sollte ich doch vielleicht eigentlich froh sein – heißt die Tatsache, dass sich Menschen wieder in solcher Inbrunst über diese Nebensächlichkeiten des Lebens austauschen können, nicht doch auch, dass sie aus der Falle der Rocona-Angst entkommen sind?
Ich werde es wohl erfahren.
Tag 91
Ich fürchte, meine gestrige Abschlussfrage kann ich heute schon mit „nein" beantworten. Nein, sie sind nicht der Angst entkommen. Aber wer sind eigentlich sie? Wie schon bei meinem ersten Ausflug in die Pandemiewelt ist es alles andere als klar, wie die gesellschaftliche Stimmung eigentlich ist, was die Mehrheit oder zumindest viele nun wirklich wollen. Schaut man in die Zeitung (ja, meine heißgehasste Tageszeitung ist auch in „Rocona, die zweite wieder am Start. Da wir ein Zweijahresabo haben, konnten wir die nicht abbestellen), entsteht ganz klar der Eindruck, dass „wir mittendrin sind in der Pandemie
, „uns Abstand, Mundschutz und Kontaktbeschränkungen noch lange Zeit begleiten werden und alles andere „unverantwortlich
wäre – um nur mal ein paar Zitate der heutigen Ausgabe wiederzugeben. Geradezu lustvoll suhlt sich da eine junge Redakteurin in der mir ja nun schon zu bekannten wohlanständigen Empörung über die Party-People² und der Schönzeichnung einer anhaltenden neuen Normalität voll solidarischen Maskenträgertums, leider aber ohne Urlaube, Feiern und sonstige Dinge, die Freude machen. Wer braucht denn das auch schon, wie schön, dass mit Rocona nun ein Grund da ist, es denen, die sich dabei amüsieren, auch noch zu verbieten.
Ich starre auf das Bild der Schreiberin des Textes und es will mir einfach nicht in den Kopf hinein, wie so ein junger Mensch so eine verbohrte Spaßbremse sein kann. Andererseits: Gab es nicht schon immer junge Menschen, die sich selber absichtlich Spaß und Freude versagten? Ich denke natürlich an Nonnen und Mönche im Schoße der Kirche.
Und als Erklärung für dieses Verhalten bleibt hier wie dort doch wieder nur die Angst. Hier vor Rocona, dort vielleicht vor dem Leben an sich. Was dann letztendlich wieder auf das gleiche hinausläuft, denn zu den vielen Dingen, die im Leben unsicher und gefährlich sind, die einem Angst machen (und trotzdem dazugehören, wenn man es lebt mit Haut und Haar) zählen nun mal auch Krankheiten, z.B. Virusinfekte. Wer davor Angst hat, muss zu Hause bleiben, nur mit Maske raus, Nonne werden.
Wenn aber nun eine Mehrheit Angst hat? Müssen alle Maske tragen, wie es hier so gerade mal ist. Aber ist es denn wirklich eine Mehrheit? Ich erinnere mich an die vollen Straßen gestern und gehe nachdenklich zu Bett.
² Party-People = Englisch umgangssprachlich für: Feiernde Menge von Personen
Tag 92
Heute fahren wir erstmal in Urlaub!
Sensationellerweise hat nämlich nicht nur unsere Regierung pünktlich zu Pfingsten die Wiedereröffnung von Ferienwohnungen und Hotels zugelassen, sondern auch unser Lieblingshotel im Schwarzwald Nägel mit Köpfen gemacht und sogar just heute mit dem ersten Tag, wo DAS wieder erlaubt ist, Schwimmbad und Sauna wieder freigegeben. Es geschehen noch Zeichen und Wunder, wir freuen uns riesig – und ignorieren das kleine mulmige Gefühl angesichts der sich über mehrere Computerseiten erstreckenden „Hinweise zu hygienischen Maßnahmen in Zeiten der Rocona-Pandemie" auf der Hotel-Homepage.
Während der Hinfahrt staune ich wieder mal über den blauen Himmel. Worauf ich anspiele, ist diesmal nicht das anhaltend gute Wetter, sondern die Abwesenheit von Flugzeugen. Seit Beginn des Lockdowns ist der Luftraum so gut wie frei von denen, Kunststück, es darf ja keiner irgendwohin. Und die paar „Ernteflieger", mit denen sie osteuropäische Helferlinge nach Deutschland karren, weil sich trotz einiger freiwilliger deutscher Aushilfen gezeigt hat, dass diese zu so einer harten Arbeit nicht im Stande sind (na so was!), fallen nicht