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Die Wasserfall Sonate
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eBook893 Seiten13 Stunden

Die Wasserfall Sonate

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Über dieses E-Book

Der Komponist und Pianist Fernand Celadière geht ganz in seiner Musik auf, nimmt das Leben um sich herum kaum wahr. Er arbeitet an einer Sonate, ist überzeugt, dass sie der Höhepunkt seines Schaffens wird. Als er dem Chorsänger Jean begegnet, gerät sein Dasein aus den Fugen. Es entwickelt sich eine tiefe Liebesbeziehung, die schon bald zu zerbrechen droht, als Jean erfährt, dass er an Aids erkrankt ist. Um Fernand vor dem Miterleben eines schleichenden Todes zu bewahren, will Jean die Beziehung beenden. Nun beginnt der Komponist um den Freund und dessen Liebe zu kämpfen. Zum ersten Mal in seinem Leben wird er sich seiner Ängste und Gefühle bewusst, erkennt die eigene Isolation, öffnet sich zwangsläufig immer mehr seinem Umfeld. Dieser innere Kampf findet Eingang in die Arbeit an seiner Sonate.
Seine Schwester Claire, zugleich einzige Freundin und Vertraute, hilft mit ihrer Familie, Fernand diesen schwierigen Weg zu beschreiten. Bei dieser Familie in der Provence findet auch Jean Halt, um die kurze Zeit seiner Liebe zu leben. Selbst als das heile Bild dieser Familie durch Unvorhergesehenes ins Wanken gerät, vermögen Offenheit, Vertrauen und Liebe den Zusammenhalt dennoch zu erhalten. Jeans Cousine Isabelle und seine langjährige Freundin Jeanne stehen den beiden Männern ebenso zur Seite, werden für Fernand zu engen Freunden - für ihn eine völlig neue Erfahrung. Für den Komponisten wird ein Unfall an einem Wasserfall zudem wegweisend für seine musikalische Arbeit. Er erkennt, dass die gemeinsame Zeit zu kurz ist, um Jean die vollendete Sonate noch vorspielen zu können. Die Arbeit gerät auf eine höhere Ebene, zu der Fernand ohne Jean und die neugewonnen Freunde nicht den Mut aufgebracht hätte: Aus der Sonate wird eine Oper, die indirekt Jeans Leben und Schicksal in den Mittelpunkt rückt. Die Uraufführung ein Jahr nach Jeans Tod wird Ausdruck von Fernands neuer künstlerischer Reife, der nun eine überraschende Entscheidung trifft…
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum20. Juli 2015
ISBN9783732351862
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    Buchvorschau

    Die Wasserfall Sonate - Johanna Stephan

    Erstes Buch

    Prachtvoll war es anzusehen, das alte Haus in der Rue Rabelais. Die Balkone waren ornamentreich geschmückt und es sah aus, als reckten sie ihre schmiedeeisernen, bauchig gewölbten Verstrebungen in die Sonne. Die hohen Fenster und die runden Erker spiegelten das Licht wider. Der Glanz vergangener Zeiten, obschon ein wenig verblasst, verlieh dem Haus einen ehrwürdigen Charme. Ja, es war prachtvoll anzusehen – prachtvoll, wenn die Sonne schien.

    An diesem Novembertag stand es einfach da, ließ sich den Nieselregen an die bröckelige Fassade tropfen und die kunstvollen Verzierungen am Mauerwerk wirkten müde und trist.

    Fernand Celadière trat aus der Haustür. Er bemerkte den Regen nicht, hielt seinen Schirm geschlossen in der Rechten und hatte die linke Hand in der Hosentasche vergraben. Vertieft in seine Gedanken, den Kopf ein wenig gesenkt, lief er zügigen Schrittes in Richtung der Rue Margot.

    Er war groß und von schlanker, feingliedriger Gestalt. Auffallend waren seine dunklen Haare, die ihm, dem 47-jährigen, bis auf die Schultern fielen. Seine Augen waren von tiefem Blau. Man hätte nicht sagen können, ob er jemanden wirklich anschaute oder durch ihn hindurch sah, so als dränge er mit seinen Blicken in eine weite unbekannte Ferne. Es waren strahlende Augen. Sie unterstrichen sein freundliches Wesen und selbst wenn er in tiefes Nachdenken versunken war, schien es, als lächelte er. Leicht geschwungene, lange Wimpern gaben seinem Augenaufschlag etwas Scheues. Die Gesichtszüge waren die eines empfindsamen Menschen. Er hatte hervorstehende Wangenknochen und wenn er sehr konzentriert war, dabei die Zähne zusammenbiss, dann wurde ein leichtes Muskelspiel sichtbar. Seine Erscheinung war elegant. Wollte man den Zeitungen glauben, verschliss er die Damenwelt, die ihm zu Füßen lag, gehörig.

    Hingegen verbarg sich hinter dem selbstbewussten Künstler ein stiller, eher schüchterner Mann, dem man nicht den kleinsten Skandal nachsagen konnte.

    Sein Leben war unspektakulär. Erfolgreiche Konzerte und die Veröffentlichung neuer Kompositionen – das waren die Ereignisse, von denen die Zeitungen tatsächlich berichten konnten. Ansonsten stellten sie provokante Fragen oder mutmaßten Ereignisse, die nicht stattgefunden hatten. Eine spätere, klein gedruckte Berichtigung, schaffte die Sachen nicht aus der Welt. Allein seine Frisur, die langen, Haare, bot stets Anlass, ihn mit ein paar Zeilen zu erwähnen. Die Fachwelt, so sie denn ab und an einen heimlichen Blick in die bunten Gazetten warf, lächelte darüber. Er selbst nahm kaum Notiz von den Berichten und wenn, dann kommentierte er sie nicht.

    Sein Schweigen stachelte die Neugier nur umso mehr an, und folglich war mancher junge Emporkömmling schnell bereit, irgendeine Geschichte um einen ledigen, gut aussehenden Künstler aus zweiter Hand oder gar aus angeblich eigenem Erleben zu schreiben.

    Im Laufe der Jahre war um Fernand eine gewisse geheimnisvolle Aura entstanden, an die er sich gewöhnt hatte, die ihm sogar angenehm war, weil er sich darin unangreifbar fühlte.

    Windig war es und die Schöße seines grauen Mantels, den er fast immer offen trug, flatterten im Wind. Nicht selten geschah es, dass sich Passanten nach ihm umdrehten, den Kopf schüttelten oder ihm respektvoll Platz machten. Fernand indes nahm, was um ihn herum geschah, kaum wahr.

    Er hatte sich als Pianist einen großen Namen gemacht, nicht minder als Dirigent und Komponist. Es waren aber nicht nur die brillanten, technischen Fähigkeiten, die ihn zu einem begehrten Künstler machten. Sein ganz eigener Umgang mit der Musik war es. Wie er Musik empfand und sie den Menschen zu vermitteln verstand, dafür fanden selbst Kritiker schwer Worte. Wenn Fernand spielte, dann konnte er die Reaktionen seiner Zuhörer spüren, beeinflussen gar. Wohl wusste er, wann er sein Publikum in Erstaunen versetze, wann es schockiert sein würde, spürte, wann er die Seelen berührte. In solchen Momenten schlummerte eine besondere Sinnlichkeit. Er verstand es, seine Zuhörer zu verzaubern, sie mitzunehmen in eine andere Welt. Während seines Spiels war es ihm manchmal, als sei er dicht an etwas Unfassbarem, er hatte keine Worte dafür, erahnte nur, dass es etwas geben musste, das wie eine Wahrheit über allem stand. Ganz nahe wähnte er sich dann diesem Unfasslichen, glaubte fast, es greifen zu können. Es schwand indes wie ein Nebelschleier dahin, als wollte es ihn narren. Doch es war da, war in seiner Musik. Er spürte es, und eines Tages, so glaubte er, würde er genau das finden, es ausdrücken können. Eine große Sehnsucht fühlte er, von der er hoffte, dass sie sich endlich, vielleicht in seiner Sonate, erfüllte. Ja, die Sonate, sie würde wunderbar werden, das Beste, so glaubte er, was er bisher komponiert hatte.

    Das Reisebüro, zu dem Fernand unterwegs war, lag in einer Seitenstraße, unweit seiner Wohnung. Monsieur Dardot und seine Frau führten es seit vielen Jahren. Madame war jedes Mal ganz aufgeregt, wenn „ihr" Monsieur Celadière kam. Sie bewunderte ihn und wusste über seine Auftritte stets bestens Bescheid. Einmal hatte sie ihren Mann sogar überreden können, mit ihr in eines der Konzerte zu gehen.

    Noch bevor Fernand die Tür öffnete, hatte sie sein Flugticket herausgesucht. Durch das große Fenster hatte sie ihn schon von Weitem erkannt.

    Dienstbeflissen redete sie jetzt auf ihn ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Schließlich übergab sie ihm das Ticket und wünschte ihm eine gute Reise.

    „Er kann so wunderbar zuhören. Daran solltest du dir ein Beispiel nehmen", hielt sie ihrem Mann vor, als Fernand gegangen war.

    „Hey, pass doch auf!"

    Ein Radfahrer, den Fernand beim Überqueren der Straße nicht gesehen hatte, konnte sich gerade noch geschickt abfangen, bevor er stürzte.

    Abrupt aus seinen Gedanken gerissen, war Fernand erschrocken stehengeblieben, versuchte mit ungeschickten Bewegungen zu helfen. Doch der Radfahrer war längst wieder auf den Beinen. Er hatte ebenso wenig Schaden genommen wie das Rad.

    „Gehen Sie immer so gedankenlos durch die Gegend?", fragte er, und sein Ton klang schon versöhnlicher.

    „Gedankenlos? Nein, aber in Gedanken vertieft war ich wohl. Es tut mir leid. Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte das nicht. Es ist mir schrecklich unangenehm."

    Die Aufrichtigkeit seiner Worte, zugleich die Betroffenheit, die der Vorfall in ihm ausgelöst hatte, waren Fernand deutlich anzusehen. Ob dieser Reaktion war der andere nun vollends versöhnt, in gewisser Weise sogar berührt. Er schob sein Fahrrad auf den Bürgersteig und sah Fernand beunruhigt an.

    „Ist schon gut. Es ist ja nichts passiert. Bedrückt Sie etwas? Kann ich Ihnen helfen? Sie wirken so zerstreut."

    „Nein, nein. Ich bin nicht zerstreut. Im Gegenteil. Ich bin ganz bei der Sache. Aber die beschäftigt mich eben sehr. Ich hatte Sie wirklich nicht gesehen. Ist Ihnen tatsächlich nichts passiert?"

    Der andere fing an zu lachen. Er blickte Fernand ins Gesicht, erschrak beinahe, als er dessen leuchtende, blaue Augen auf sich gerichtet sah. Aber es hatte den Anschein, als sähen sie durch ihn hindurch. Das zarte Lächeln war wohl auch nicht für ihn bestimmt. Es war mehr ein inneres, das nur nach außen hin seinen Ausdruck fand. Gleich wird er wieder aus der Realität verschwinden, dachte er.

    „Wissen Sie was?, sagte er schnell, „Gehen wir doch einen Kaffee trinken. Sie sind ja ganz durchnässt. Sie hätten Ihren Schirm aufspannen sollen.

    „Ach ja, der Schirm. Den habe ich ganz vergessen. Aber Sie sind ja auch ohne Schirm gefahren."

    „Ich hab’ ja ein Regencape. Was ist jetzt mit dem Kaffee?"

    Nun erst nahm Fernand den anderen richtig wahr. Die Stimme war ihm aufgefallen. Sie war von dunklem, sonorem Klang, hatte sein Ohr umschmeichelt und irgendwie Zugang in seine innere Welt gefunden.

    „Kaffee? Ja, warum nicht."

    Sie gingen ein paar Schritte. Dann blieb der andere stehen, stellte sein Fahrrad an die Hauswand und sie betraten ein kleines, unscheinbares Bistro.

    „Oh, hallo Jean. Du hast Dich ja so rar gemacht in letzter Zeit."

    Ein junger Kellner tänzelte freudestrahlend zu ihnen heran, hielt aber in seiner Begeisterung inne, als er den tadelnden Blick von Jean sah.

    „Hab halt wenig Zeit. Bring uns bitte zwei Café au lait."

    „Sofort, die Herren."

    Jean, dem dieser Auftritt unangenehm war, hatte indes nicht bemerkt, dass Fernand von einigen Gästen angestaunt wurde.

    Vorsichtig zog Jean sein Cape aus und legte es neben sich auf den Stuhl. Sie setzten sich. Gerade wollte Fernand seinen Schirm an die Lehne hinter sich hängen, da sah er, dass diese abgerundet war. Er hatte den Schirm aber bereits losgelassen und er war zu Boden gefallen.

    „Wie dumm von mir", murmelte er, hob ihn auf, hielt ihn verlegen in der Hand.

    „Legen Sie ihn doch auf mein Cape", sagte Jean und schmunzelte. Die Hilflosigkeit von Fernand amüsierte ihn.

    „Ja, ja, aber ich wollte es nicht nass machen."

    „Das ist nett. Aber Ihr Schirm hat vom Regen weniger abbekommen als mein Cape. Legen Sie ihn nur drauf."

    Fernand tat es und musste nun selbst über seine ungeschickte Bemerkung lächeln. Er senkte dabei ein wenig den Blick. Der andere sah ihn lachend an.

    „Ich heiße Jean."

    „Oh, das macht nichts."

    „Wie bitte???"

    „Ich meinte, ja, also. Was sagten Sie?"

    „Ich heiße Jean, wenn’s recht ist."

    „Ja, natürlich, wie schön."

    Der Kellner brachte wortlos den Kaffee und war im selben Moment wieder verschwunden.

    „Trinken Sie erst mal einen Schluck. Das wärmt, und vielleicht bringt es Sie ja in die Wirklichkeit zurück."

    Fernand tat, wie ihm geheißen. Er bemühte sich, die Klänge in seinem Kopf beiseite zu schieben und schaute sein Gegenüber an. Jetzt blieb sein Blick an ihm hängen. Er sah ihn an, als betrachtete er ein Gemälde. Lange und gründlich. Diese stoppelkurzen Haare stehen ihm gut, dachte er. Und was für schön geformte Züge er hat, kantig, ein bisschen herb vielleicht. Die Toga mit einem eleganten Faltenwurf keck über die Schulter geworfen, der weiße Marmor hat eine zartbräunliche Färbung…aber, oh, dieses Lächeln. Um Gottes Willen, wie lange starre ich ihn denn schon so an?

    Durchaus lebendig und mit Schalk in den dunklen Augen, schmunzelte Jean. Fernand verscheuchte seine Träumerei.

    „Ich heiße Fernand und Sie?"

    „Jean. Hier ist meine Karte, da können Sie den Namen nachlesen, falls Sie ihn wieder vergessen sollten. Es muss ja eine tolle Sache sein, die Sie so sehr beschäftigt."

    „Ja, das stimmt. Verzeihen Sie bitte. Ich kann mir Ihren Namen auch ohne Karte merken, aber ich behalte sie trotzdem."

    Er steckte sie in die Manteltasche.

    Sie tranken den Kaffee und Fernand spürte, wie die Klänge in ihm wieder Gestalt anzunehmen drohten. Wie aus der Ferne hörte er Jeans Stimme.

    „Schade, ich habe leider nicht viel Zeit. Ich war eigentlich auf dem Weg zur Chorprobe."

    „Oh, was probieren Sie denn?"

    Jean entging es nicht, dass Fernand jetzt ganz aufmerksam war.

    „Den Chor der Soldaten und Studenten aus…"

    „…Berlioz, „Faust‘ s Verdammnis. Was für ein wunderbares Stück! „Die Musik scheint Sie ja tatsächlich in die Wirklichkeit zurückzubringen, lachte Jean. „Die Musik ist meine Wirklichkeit.

    Nun entspann sich zwischen ihnen eine lebhafte Unterhaltung. Sie bedauerten, dass ihnen nicht mehr Zeit dafür blieb. Fernand, der dieses Werk von Berlioz mehrmals dirigiert hatte und es sehr liebte, hatte ihr kurzes Gespräch genossen. Und auch das Schmunzeln, es war so ein hintergründiges Lächeln, hatte in ihm ein wohliges Gefühl ausgelöst, ein Gefühl, das er längst verloren geglaubt hatte.

    Als sie sich verabschiedeten, musste er versprechen anzurufen. Vor dem Café spannte er seinen Schirm auf. Jean nahm ihm den aus der Hand, machte ihn wieder zu und gab ihn zurück.

    „Es hat aufgehört zu regnen."

    Fernand stutze kurz, machte eine entschuldigende Geste, indem er die Schultern leicht anhob, die Brauen kräuselte und die Augen niederschlug. Jean lächelte. Er nahm sein Fahrrad, schwang sich in den Sattel. Ein kurzes Winken, und dann fuhr er davon.

    Der Aufzug, der mit seiner metallenen Verkleidung aussah wie ein fahrender Käfig, hielt ihm vierten Stock. Fernand stieg aus und ging nach rechts zu seiner Wohnung. Er öffnete die große Tür und fand einen Zettel, den ihm seine Nachbarin durch den Briefschlitz geworfen hatte.

    „Lieber Monsieur Celadière! Komme am Donnerstag etwas später. Muss vorher noch zu meinem Mann. Das Unkraut überwuchert sonst alles. Mme. Pillot."

    „Ja, ja, kein Problem, murmelte er vor sich hin. Seit dem Tod ihres Mannes kümmerte sich die Nachbarin einmal in der Woche um Fernands Wohnung. Sie kam immer donnerstags, und sie kam immer zu spät. Aber sie machte ihre Arbeit gründlich, vielleicht sogar ein bisschen zu gründlich, hatte er manchmal gedacht. Wie oft hatte er ihr schon gesagt, sie möge die Noten nicht durcheinander bringen, auch nicht die, die auf dem Fußboden lagen. „Ach, Monsieur, wie soll ich denn saubermachen, wenn alles rumliegt. Er hatte sich damit abgefunden.

    Fernand legte den Schirm auf die kleine Kommode in der Diele. Jean fiel ihm ein, der große Mann mit den kurzen Haaren und der sonoren Stimme. Wie der versucht hatte, mit seiner, Fernands, abwesenden Art umzugehen. Er holte tief Luft, spitzte ein wenig die Lippen. Ja, er würde ihn anrufen, ganz bestimmt. Am frühen Nachmittag, gleich nach der Probe. Braune Augen. Nein, lieber erst am Abend. Oder war das auch zu früh? Dieses Lächeln. Aber morgen, da würde es sicher richtig sein. Er müsste in meinem Alter sein. Ja, morgen rufe ich an.

    Er ging in das große Zimmer, setzte sich an seinen Flügel, schloss die Augen und spielte alles, was in seinem Inneren erklang.

    Draußen hatte es wieder angefangen zu regnen. Große Tropfen platschten an die Fensterscheiben, und als Fernand die Augen öffnete, dachte er an Jean, wie der vielleicht eben jetzt, in sein Cape gehüllt, durch die Stadt radelte.

    Das Taxi stand bereits vor der Tür, als Fernand aus dem Haus kam. Er verstaute sein Gepäck auf dem Rücksitz, sah auf die Uhr. Sein Flug ging in zwei Stunden.

    „Wo soll’s denn hingehen, Meister?"

    Fernand sah den Fahrer verwirrt an.

    „Nach Tunesien."

    „Aha, dann werde ich Sie also am Flughafen absetzen."

    „Ja, ja natürlich. Entschuldigen Sie."

    „Keine Ursache. Eine Konzertreise, wenn die Frage erlaubt ist?"

    „Nein. Ein kurzer Urlaub."

    Der Fahrer überließ Fernand seinen Gedanken, rückte seine Mütze zurecht und fuhr los. Gern hätte er dem „Meister" - den Namen wusste er nicht mehr, aber die Frisur, die war ihm in Erinnerung geblieben - erzählt, dass er einmal mit seiner Frau vor langer Zeit in einem seiner Konzerte gewesen war. Aber er behielt es für sich. Fernand hatte sich zurückgelehnt und schaute versonnen auf die Häuser, die an ihm vorüberzogen. Eine ganze Woche ohne Termindruck! Endlich konnte er die Seele baumeln lassen, in eine andere Kultur eintauchen, unerkannt spazieren gehen, sich an fremden Orten verlaufen. Ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Wohl hatte er auf jeder Reise viele Eindrücke aufgesogen, aber er orientierte sich schlecht, merkte oft nicht, dass er im Kreis lief. Manches bestaunte er mehrmals, bis er sich klar darüber wurde, dass er einen falschen Weg genommen hatte.

    Und er würde Zeit haben, an seiner Sonate zu arbeiten. Immer wieder kreisten seine Gedanken um diese Arbeit. Er spürte, dass sie etwas Bedeutendes werden würde. Etwas Großes. Er döste entspannt vor sich hin und freute sich auf die freie Woche, die vor ihm lag.

    „So, da wären wir."

    Das Taxi hielt vor der Eingangshalle des Flughafens. Der Fahrer half Fernand, den Koffer herauszuheben, stand einen Moment verlegen vor ihm.

    „Wissen Sie, eigentlich wollte ich es ja nicht sagen, ich verstehe ja nichts von Musik. Aber meine Frau und ich, wir waren mal in einem Ihrer Konzerte. Da haben Sie so Selbstkomponiertes gespielt. Erst wollte ich gar nicht mitgehen, weil ich mir das mit der modernen Musik nicht vorstellen konnte. Aber dann hat es mir ja doch gefallen und im zweiten Teil war ich richtig begeistert. Ich kann’s Ihnen nicht erklären, aber es hat mir wirklich gefallen."

    „Das freut mich sehr. Vielen Dank, Monsieur."

    Während des kurzen Gesprächs hatte der Fahrer seine Baskenmütze in der Hand zerknüllt. Nun strich er sie glatt, setzte sie auf und stieg wieder in den Wagen. Er war froh, dass er seinem Fahrgast den Konzertbesuch doch nicht verschwiegen hatte und freute sich schon, wenn er zu Hause von der Begegnung erzählen würde.

    Fernand wusste, dass seinen Konzerten der Ruf des Besonderen vorausging. Wenn er spielte, hatte er die Augen meist geschlossen, schaute nicht auf die Noten. Die trug er irgendwo in sich, las sie vielleicht von seiner Seele ab, wie es ein Kritiker einmal ausgedrückt hatte. Anfänglich, als Fernand mit Mitte zwanzig seine ersten großen, öffentlichen Konzerte gegeben hatte, war man schnell bereit, ihm Koketterie vorzuwerfen, und man hatte während der Aufführung hier und da Notenblätter zur Kontrolle mit gelesen. Indes, man konnte ihm keinen Fehler nachweisen, und so gewöhnte man sich an seine Vortragsweise. Als sein Ruf als Pianist international gefestigt war, nahm daran keiner mehr Anstoß. Er selbst hatte sich darüber nie Gedanken gemacht. Wenn er ein Stück verinnerlicht hatte, dann verwirrten ihn die Notenblätter nur. Er benutzte sie beim Üben. Es störte ihn aber, dass sie umgeblättert werden mussten, und es störte ihn noch mehr, jemanden neben sich zu wissen, der für das Umblättern zuständig war. Seine Vorbereitungen auf ein Konzert waren stets so intensiv, dass von Koketterie keine Rede sein konnte. Seine schmalen, langen Finger huschten wie verzaubert über die Tasten, und sein Spiel erweckte den Anschein, als sei er mit dem Instrument verschmolzen.

    Das Einchecken war schnell gegangen. Bis zum Abflug blieb Fernand noch Zeit. Er fuhr mit der Rolltreppe ins Untergeschoss, holte sich einen Kaffee. Plötzlich fiel ihm Jean ein. Vor vier Tagen war er ihm begegnet. Er hatte versprochen, ihn anzurufen. Warum hatte er das vergessen? Er schaute sich um, suchte ein Telefon. Die Karte. Hatte er sie überhaupt bei sich? Fernand wurde nervös, griff in die Manteltasche. Er atmete auf, nahm die Karte heraus.

    Jean Bertisse. Nun musste er nur noch ein Telefon finden. Er rannte die Treppen hoch, zurück in den Eingangsbereich, und endlich fand er eins.

    Vor ihm standen zwei Frauen. Fernand schaute auf die Uhr. Es war kurz vor 11, vielleicht war Jean mitten in einer Probe. Egal. Er konnte ja ein paar Worte auf den Anrufbeantworter reden. Bertisse, den Namen hatte er schon irgendwo gehört. Was wollte er ihm überhaupt sagen? Oder sollte er das Telefonat bis zu seiner Rückkehr verschieben?

    „Wollen Sie nun telefonieren oder nicht? Sie sind dran."

    Eine junge Frau schob ihn fast zum Telefon.

    „Ja, ja, vielen Dank."

    Er nahm den Hörer, steckte seine Telefonkarte in den Apparat und wählte die Nummer. Was, wenn der andere zu Hause war?

    „Jean Bertisse, hallo."

    „Ja, also, ich bin’s, Fernand."

    „Das ist ja eine Überraschung. Ich dachte schon, du hättest die Karte verloren. Ich habe mir Vorwürfe gemacht, dass ich dir nicht deine Telefonnummer entlockt habe. Wie geht’s dir denn? Wir könnten unser Gespräch fortsetzen. Was hältst du davon?"

    „Ja, sehr gern. Aber ich bin gerade auf dem Flughafen und in einer Stunde geht mein Flieger nach Tunis."

    „Kommst du zurück oder wanderst du aus?"

    „Am kommenden Montag bin ich wieder hier. Ich bleibe nur eine Woche."

    „Na, dann sollten wir nächste Woche noch mal telefonieren. Ich würde mich jedenfalls sehr freuen, wenn wir uns sehen."

    „Ja, ich mich auch. Wenn ich zurück bin, melde ich mich."

    „Mach das – und gute Reise."

    „Danke, dann bis nächste Woche."

    „Au revoir, Fernand."

    „Au revoir."

    Er hielt den Hörer noch eine Weile in der Hand und blickte gedankenverloren vor sich hin. Hatten sie sich im Bistro auch geduzt? Er konnte sich nicht erinnern. Diese Vertrautheit war ihm jedoch nicht unangenehm.

    „Ja, so legen Sie doch auf. Ich möchte auch telefonieren."

    Wieder war es die junge Frau, die ihn mit ihrer Ungeduld aus seinen Gedanken riss.

    „Ist ja schon gut. So lange hat es doch nicht gedauert."

    Er ging zur Passkontrolle. Wenn er am Flugsteig wartete, wäre er noch eine Weile ungestört, konnte seinen Gedanken nachhängen.

    Die Woche in Tabarka, dem kleinen Fischerdorf an der Korallen-Küste im Norden Tunesiens, hatte Fernand gut getan. Der Ort mit seinem französischen Flair, der gewaltigen Festung, den lauschigen Buchten und den Pinien- und Korkeichenwäldern im Hinterland, war von Touristen weitgehend verschont. Er hatte lange Spaziergänge gemacht, in der Sonne gelegen und jeden Tag im Meer gebadet. Ausgeruht und zufrieden, dass er einen Teil seiner Arbeiten, die er mitgenommen hatte, zum Abschluss gebracht hatte, sah er durch das kleine Fenster, wie die Maschine durch die Wolken tauchte. Gleich würde sie auf heimischem Boden aufsetzen. Er konnte die Lichter über der Stadt erkennen, sah sie näherkommen. Eine kurze, heftige Bewegung ging durch den Flieger, jetzt hatte er Bodenberührung. Dann stand er endgültig. Fernand zog seinen Mantel an, nahm sein Handgepäck und ging zur Tür.

    War denn sein Gepäck tatsächlich das letzte oder hatte er es ein paar Mal ungesehen an sich vorbeiziehen lassen? Der Gegenwart noch immer ein bisschen entrückt, griff er seinen Koffer, stellte ihn auf einen Gepäckwagen, passierte die Sperre und ging dem Ausgang zu. Er schob das unhandliche Gefährt nach draußen, wollte ein paar Meter weiter auf ein Taxi zu warten.

    „Wollen Sie in die Innenstadt? Mein Wagen steht zu Ihrer Verfügung."

    Ruckartig hatte sich Fernand umgedreht. Diese Stimme. Tatsächlich, es war Jean.

    „Ja, äh, das ist ja eine Überraschung. Woher hast du denn gewusst, mit welcher Maschine ich komme?"

    „So schwer war das nicht. Es kommen zwei am Vormittag und eine am Abend. Ach ja, die ist für dich."

    Jean deutete eine höfische Verbeugung an und übergab Fernand wortlos eine Rose.

    „Eine Rose."

    Fernand hatte diese hilflose Bemerkung kaum ausgesprochen, da überzog auch schon eine verlegene Röte seine Wangen.

    „Ich wusste nicht, wie gut du dich in der Botanik auskennst, aber es stimmt. Komm, da drüben steht mein Auto."

    Jean fuhr Fernands Gepäck hinüber, lud es ins Auto, öffnete die Beifahrertür und deutete noch einmal die höfische Verbeugung an.

    „Bitte sehr."

    Dann ging er auf die andere Seite, stieg ein, und sie fuhren los.

    „Also, ja, das ist wirklich eine Überraschung. Wie bist du nur auf einen solchen Einfall gekommen?"

    „Si grande est la peine, le prix est plus tard - Kühn ist das Müh‘n, herrlich der Lohn!", lachte Jean.

    „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll."

    Er lächelte, schaute auf die Rose, die er immer noch in der Hand hielt.

    „Zu der Überraschung oder zu meiner Antwort?", fragte Jean und bemühte sich, ein wenig Koketterie in die Frage zu legen. Fernand sagte nichts, schaute nur hinüber zu ihm und schlug schließlich verlegen die Augen nieder.

    Lange fuhren sie schweigend. Es lag eine unnennbare Sinnlichkeit in der Luft, keiner mochte etwas sagen. Ganz verstohlen nur kreuzten sich mitunter ihre Blicke, wichen sich schnell wieder aus.

    Erst als sie in der Stadt waren, fast am Reisebüro, da fragte Jean:

    „Wo wohnst du eigentlich?"

    „Von hier aus noch zwei Querstraßen weiter, Rue Rabelais, Nr.7. „Na, dann sind wir ja gleich da.

    Im Stillen bedauerte Fernand, dass die Fahrt zu Ende war. Aber anrufen würde er gleich morgen. Diesmal würde er es gewiss nicht vergessen.

    Jean hielt direkt vor der Haustür.

    „Ich helfe dir noch mit dem Gepäck."

    Fernand kramte nach seinem Hausschlüssel. Es sah ein wenig ungeschickt aus, denn er hielt immer noch die Rose in der Hand. Dann hatte er den Schlüssel endlich gefunden, schloss die Tür auf. Er nahm sein Handgepäck und ging zum Fahrstuhl. Jean folgte ihm mit dem Koffer.

    „So, nun bin ich sicher, dass du gut gelandet bist. Und vergiss nicht anzurufen, damit wir unser Gespräch fortsetzen können. Er hatte sich schon wieder der Haustür zugewandt, als Fernand ihm zaghaft hinterher rief: „Welches denn, das vom Bistro oder das im Auto?

    Mit wenigen schnellen Schritten kam Jean zurück, nahm Fernands Kopf in seine Hände, schaute ihn zärtlich an, küsste ihn auf die Stirn und fuhr mit den Fingern durch das dichte Haar, verweilte einen Augenblick.

    „Das kannst du dir aussuchen. Auf bald, mon petit prince."

    Fernand schaute ihm lange nach, dann holte er den Aufzug.

    Die Wohnungstür ließ sich nur schwer öffnen. Es lag eine Menge Post dahinter. Er stellte sein Gepäck ab und sortierte die Briefe. Einen Brief von seiner Schwester Claire erkannte er sofort an der zarten, schönen Schrift. Auf dem Couvert stand in geschwungenen Lettern Fernand-Gustave Celadière. Jedes Mal musste er lachen, weil sie diese Anrede benutzte. Seinen zweiten Namen mochte er nicht besonders, und die Beständigkeit, mit der Claire ihn dennoch zu Papier brachte, amüsierte ihn. Er konnte sich nicht darüber ärgern, wusste er doch, dass seine Schwester ihm durchaus nichts Arges wollte. Sie liebte es einfach, ihn so zu nennen. Warum das so war, wusste sie wahrscheinlich selbst nicht. Er hatte sich daran gewöhnt und ließ ihr diese Absonderlichkeit, wobei er sich ohnedies nicht sicher war, ob er ihr gegenüber überhaupt je erwähnt hatte, dass er den Namen Gustave nicht mochte.

    Claire war zwei Jahre älter als er und lebte mit ihrem Mann, einem Winzer, und den Söhnen Gilbert und Jean in St. Ferois, auf einem Weingut in der Provence, nahe Carpentras. Wenn seine Arbeit und seine Termine ihm Zeit dazu ließen, fuhr er gern zu ihr. Die ganze Familie Mourandos freute sich jedes Mal, wenn er kam. Er verstand sich mit seiner Schwester sehr gut. Zwischen ihnen herrschte eine große Nähe, eine innige Vertrautheit. Schon als Kinder hatten sie kaum gestritten, alles hatten sie miteinander bereden können, und immer hatte Fernand das Gefühl, von Claire in allem verstanden zu werden.

    Und er mochte seinen Schwager Yves, der nie viele Worte machte. Nur wenn er vom Wein sprach, wurde er nahezu geschwätzig. Er vermochte dann geradezu tiefsinnig zu philosophieren, und seine Erkenntnisse basierten stets auf allem, was er von Trauben und Weinstöcken, vom Keltern, Lagern und Genießen wusste. Und das konnte er auf alle Gebiete des Lebens übertragen – sogar auf die Kunst, wenn er es für angemessen erachtete. Mit seiner Arbeit war er nie zufrieden. Immer wieder versuchte er, aus verschiedenen Reben ein neues, besonderes Geschmackserlebnis hervorzubringen. „Es ist wie mit deiner Musik, Fernand. Man muss eine bestimmte Mischung zuwege bringen, damit das Ergebnis stimmt und der Genuss vollkommen wird, verstehst du?"

    Natürlich. Das verstand Fernand sehr gut. Und er liebte die Abende, an denen er mit der Familie zusammen saß, Wein trinkend, plaudernd. Die beiden Söhne liebten ihren Onkel mit einer scheuen Verehrung. Sie konnten sich beide nicht vorstellen, wie man sein Tagewerk verbringt mit Musizieren und Notenaufschreiben, wie sie es heimlich benannten. Sie dachten über Fernands Arbeit jedoch nicht abfällig. Nur sie selbst waren ganz der Natur verschrieben. Ihr Tagesablauf richtete sich nach den Wetterverhältnissen und dem Reifestand der Rebstöcke. Die beiden Jungs, es waren Zwillinge, waren von praktischer Art. Es hatte sie beide nach ihrem Önologiestudium auf das Weingut zurückgezogen. Vielleicht, weil sie von den Eltern nicht dazu gedrängt worden waren.

    Jean, der Erstgeborene würde über kurz oder lang den Hof verlassen und mit seiner Frau, die er vor wenigen Wochen geheiratet hatte, im Nachbarort ein eigenes Weingut unterhalten. Er war jetzt 27, und nachdem er seinem Beinamen „Don Jean" reichlich Ehre gemacht hatte, fast schon ein bisschen zum Verdruss der Eltern, hatte er in Sylvie Grédaffe seine große Liebe gefunden. Gilbert, der Jüngere, wobei er selbst diesen Zusatz nicht mochte, kam mehr nach dem Vater. Er war oft in sich gekehrt, und man wusste nie so genau, was ihn gerade bewegte. Aber auch er taute an solchen gemeinsamen Abenden auf, gab dann erstaunliche Dinge zum Besten.

    Fernand setzte sich an sein kleines Erkerfenster, schaute auf die große Straße mit ihrem geschäftigen Treiben, dann endlich fiel ihm der Brief wieder ein, den er noch in der Hand hielt. Er öffnete ihn schnell.

    Claire erzählte von den häuslichen Ereignissen, dem Wein, den Söhnen, und dann kam sie zur Sache. Mit ihrer pedantischen Genauigkeit und ihrem unübertroffenen Weitblick bat sie Fernand, sich den Termin für das große Fest freizuhalten. Yves würde im kommenden Sommer seinen 55. Geburtstag feiern. Und es sollte ein großes Ereignis werden. Claire war jetzt im Herbst bereits dabei, Vorbereitungen zu treffen. Alles sollte wie am Schnürchen ablaufen. Yves ahnte davon nichts, zumal er seinem Geburtstag ohnehin nicht viel Bedeutung beimaß. Er wäre auch nie auf den Gedanken gekommen, ein halbes Jahr vorher schon zu überlegen, wie er sich den Tag wünschte. Nun würde er auch kaum noch Gelegenheit dazu haben, da Claire schon alles fest im Griff hatte. Doch sie kannte ihren Mann gut und würde nichts arrangieren, von dem sie wusste, dass er sich nicht darüber freuen könnte.

    Fernand erinnerte sich, wie es gewesen war, als seine Schwester Yves kennengelernt hatte. Oft und gern erzählte sie von dieser ersten Begegnung. Und das stille Schmunzeln ihres Mannes zeigte, dass die Geschichte sich wohl tatsächlich so zugetragen hatte. Claire hatte damals in einer Weinhandlung gestanden und nicht gewusst, welchen Wein sie nehmen sollte. Etwas Besonderes stellte sie sich vor, für ihren erfolgreichen Abschluss des Gesangsstudiums. Sie wollte mit ihren Kommilitonen feiern, ein kleines Essen geben, und da stand sie nun und war von der riesigen Auswahl schier überfordert. Natürlich hätte sie die Weine probieren können. Aber das wollte sie nicht. Sie stand noch unentschlossen, als vor der Tür ein Lieferwagen hielt. Ein junger Mann kam zügigen Schrittes in das Geschäft.

    „Ich bringe den „Mont Ventoux, ist wieder ein feiner Tropfen.

    Claire schaute ihn fasziniert an. „Sie verstehen wohl was von Wein?" Sie hatte das nur gesagt, um etwas zu sagen. Es klang unbeabsichtigt ein wenig schnippisch. Sie wollte diesen Mann nur noch ein paar Augenblicke ansehen können. Er gefiel ihr, er machte so einen geraden, bodenständigen Eindruck, als könne man mit ihm Berge versetzen und Welten gewinnen. Heute sagt sie gern, es war Liebe auf den ersten Blick.

    „Ja, ich denke schon", erwiderte er, sichtlich verlegen. Doch offensichtlich fand er die junge Frau auch sehr anziehend. Er hielt ihrem Blick stand, nahm mit ruhiger Geste seine Baskenmütze ab.

    „Ich bin Yves Mourandos, aus der Nähe von Carpentras. Ich habe das Weingut meiner Eltern übernommen. Wir verstehen einander, der Wein und ich."

    Claire war verdutzt über die seltsame Redeweise, lächelte ihn an. „Ich heiße Marie-Claire Celadière, aber meine Freunde nennen mich nur Claire."

    Sie ärgerte sich, dass sie keine schlagfertigere Antwort gefunden hatte. Immer noch sahen sie sich an. In der Zwischenzeit hatten die Jungs die Kisten abgeladen. Yves setzte seine Mütze wieder auf, zog einen Lieferschein aus der Tasche, legte ihn dem Händler zur Unterschrift hin, und dann nahm er allen Mut zusammen.

    „Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen das Weingut, und sie können vor Ort probieren. Es ist höchstens eine Autostunde von hier. Natürlich bringe ich Sie wieder zurück."

    Claire überlegte nicht lange.

    „Warum nicht. Ich muss unterwegs nur schnell telefonieren."

    „Ja."

    Sie war ein wenig erschrocken über ihre spontane Zusage, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Sie würde schnell ihrer Freundin für den Abend absagen und die kleine Abschlussfeier vertagen.

    „Kommen Sie, steigen Sie ein."

    Yves hatte ihr die Autotür aufgehalten, ging ruhigen Schrittes auf die andere Seite, stieg ein und fuhr los. Sie schwiegen lange, bis Yves plötzlich nach rechts deutete.

    „Dort ist eine Telefonzelle, wenn…".

    „Oh ja, es geht ganz schnell."

    Er hielt am Straßenrand an, stieg aus und wartete. Claire kam tatsächlich nach ein paar Augenblicken zurück.

    „So, alles erledigt. Wir können weiter."

    Sie stiegen wieder ein und Claire bemühte sich, ein heiteres Gesicht zu machen, um ihre Verlegenheit zu verbergen. Es war früher Vormittag, und sie hatte eine Feier verschoben, die erst um 21 Uhr beginnen sollte. Ihr Ausflug würde bis dahin längst beendet sein. Sie hätte es geschafft und hätte Wein mitbringen können, direkt von einem nahe gelegenen Weingut. Warum hatte sie den Termin also abgesagt? Jetzt wurde ihr Lächeln klarer, gab dem Ausdruck in ihrem Gesicht eine etwas spitzbübische Note. In Yves‘ Gesicht war keine Regung zu sehen. Er wirkte ruhig und gelassen, innerlich war er sehr aufgewühlt. Seine Weinstöcke liebte er, da kannte er sich aus, wusste mit ihnen umzugehen, doch im Umgang mit den Frauen war er unbeholfen. Dabei war er sich seines Aussehens wohl bewusst und hatte auch schon manche Liaison erlebt. Wenn eine der stets nur kurzen Beziehungen vorbei war – meist beendete er sie – war keine Traurigkeit in ihm. Es war einfach nicht die Richtige dabei gewesen. So eine Begegnung wie heute, das war schon ungewöhnlich. Und auch seine Einladung war ungewöhnlich. Er war kein sehr spontaner Mensch, er war bedacht, wortkarg und zögerlich.

    Aber irgendetwas an diesem Mädchen war anders. Auch dass sie jetzt, während der Fahrt, nicht versuchte, Unwichtigkeiten zu schwatzen, nahm ihn sehr für sie ein.

    Er hielt am Ende eines Olivenhains. Hügelige Flächen mit Weinstöcken – an den Außenseiten waren vereinzelt Rosen gepflanzt – breiteten sich dahinter aus. Die Sonne tauchte die Landschaft in eine träge Stimmung. Yves ging auf ein kleines Natursteinhaus zu. „Darf ich Ihnen eine Kleinigkeit zu trinken anbieten. Es ist noch nicht Mittag und schon so heiß."

    „Ach ja, gern."

    Sie folgte ihm. Er ging hinter das Haus, wo die Sonne noch nicht angekommen war. Dort stand ein Tisch mit vier Stühlen. Olivenbäume würden später Schatten spenden, wenn die Sonne um die Bergerie herum gewandert war.

    Claire setzte sich und wartete, bis Yves mit einer Karaffe Eiswasser, einer Flasche Rotwein und einem Baguette zurückkam.

    „Hier leben Sie also?"

    Sie schaute sich voller Bewunderung um.

    „Nein, nein, hier halte ich mich vorwiegend auf, wenn ich im Wein arbeite. Mein Haus liegt einen Kilometer weiter im Süden, da, er deutete die Richtung an, „am Ende der Weinfelder.

    „Es ist herrlich hier. Das war eine gute Idee."

    Yves schaute ihr offen ins Gesicht. Es lag keine Koketterie darin. Er fühlte, dass sie ein gerades, zuverlässiges Wesen hatte. Sie wirkte in keiner Weise geziert. Das gefiel ihm. Claire trank einen Schluck Wein und erwiderte seinen Blick, den sie bis ins tiefste Innere zu spüren meinte. Eine Weile saßen sie schweigend.

    „Wenn Sie wollen, gehen wir ein bisschen spazieren, und ich zeige Ihnen die Gegend, bevor es zu heiß wird, ja?" Er stand auf, nahm die Karaffe, den Rest Baguette, und Claire griff nach den beiden Gläsern und der Weinflasche. Sie brachten die Sachen ins Haus, gingen dann langsam an den großen Weinfeldern entlang. Hier wurde Yves etwas gesprächiger. Die Weinstöcke gaben ihm Sicherheit. Sie spürte das, fragte das Eine oder Andere, hörte aufmerksam zu, was er zu erzählen wusste. Wohl lief sie nicht zum ersten Mal an Rebstöcken vorbei, aber der Zauber, der sie heute dabei überkam, war neu. Der Mann neben ihr, der den Weinstöcken nahe war, war ihr nahe und diese Verbindung machte den Spaziergang zu etwas Besonderem. Sie wusste, dass ihr alles im Gedächtnis bleiben würde, was er ihr erzählte.

    Fast stand die Sonne jetzt im Zenit. Yves schlug vor, zurückzugehen und noch etwas zu trinken. Plötzlich hatte er Angst, sie könnte schon wieder weggehen wollen. Er wusste nicht, was er noch vorbringen konnte, um sie zu halten. Die Weinprobe verschob er einfach. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, sich so schnell wieder von ihr trennen zu müssen.

    Sie waren wieder an der Bergerie angelangt.

    „Noch ein Stück weiter in diese Richtung, dort ist mein Haus."

    „Es ist wie ein Urlaubstag. Oh, wer ist denn das?"

    Ein struppiger Hund von einer unnennbaren Rasse und mit einem treuherzigen Blick kam Schwanz wedelnd angelaufen, sprang an seinem Herrchen hoch und umrundete Claire.

    „Das ist Filou, ein Briard."

    Claire streichelte ihm das Fell, dann sah sie Yves an. Sollte sie jetzt nach dem Wein fragen, oder…?

    „Kommen Sie", sagte er.

    Sie folgte ihm. Alle Geräusche ringsum schienen von der flimmernden Hitze verschluckt zu sein, nur das Zirpen der Grillen war zu hören. Ohne ein Wort liefen sie nebeneinander und nach fast zwanzig Minuten waren sie an seinem Haus angelangt. Claire schaute sich um. Ein großer Gemüsegarten, offenbar mit kundiger Hand gepflegt, fiel ihr auf. Hinter dem Haus standen zwei Bänke über Eck und auf einem großen Holztisch lagen Zwiebeln und ein paar Knoblauchzehen. Claire spürte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. Da wird seine Frau wohl dabei sein, Essen zu machen, dachte sie. Yves sah ihren irritierten Blick und begriff ihn.

    „Wir sollten uns ein bisschen ausruhen, wir sind lange gelaufen. Eine kleine Stärkung kann jetzt nicht schaden. Ich werde etwas holen und Julie Bescheid sagen, dass Sie zum Essen bleiben. Sie bleiben doch?"

    Claire wusste nicht, dass sie mit ihrer Irritation sein Herz erwärmte. Sie schaute ihn nur an und zuckte unschlüssig mit den Schultern. „Ach, Yves, wer viel fragt, gibt nicht gern. Natürlich bleiben Sie zum Essen hier. Ich bin Julie, kümmere mich ein bisschen um Haus und Hof, ist ja immer viel Arbeit, und wenn Yves im Wein ist, dann hat er keine Zeit mehr für die häuslichen Arbeiten. Ich kannte seine Eltern schon und Yves, als er noch ein kleiner Junge war. Ach je, wie die Zeit vergeht. Schön, dass Sie hier sind. Wir haben nicht sehr oft Besuch, und es ist ja wirklich herrlich hier. Genießen Sie es. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Ich muss wieder in die Küche."

    Julie hatte in einem derartigen Tempo gesprochen, dass Claire der Mund vor Staunen offen geblieben war. Da stand sie nun, schüttelte lachend über sich selbst den Kopf und ging zur Eckbank. Sie lehnte sich zurück, streckte die Beine aus, schloss die Augen, seufzte tief und genüsslich. Die Sonne brannte ihr ins Gesicht, machte sie schläfrig.

    Julie hätte ihre Großmutter sein können.

    Als Yves mit Wein und Obst zurückkam, war Claire tatsächlich eingenickt. Er stellte die Gläser vorsichtig, geräuschlos auf dem Tisch ab, blieb dann vor ihr stehen und betrachtete sie lange. Am liebsten hätte er sich neben sie gesetzt, sie in den Arm genommen und ihren Schlaf behütet.

    Wie viel Zeit so vergangen war, hätte er nicht zu sagen vermocht. Plötzlich schlug Claire erschrocken die Augen auf.

    „Oh, ich bin wohl ein bisschen eingeschlafen. Die Sonne ist daran schuld."

    Yves fühlte sich ertappt. Da stand er, konnte nicht vor und nicht zurück. Claire lächelte ihn einfach an.

    „Warum haben Sie sich nicht neben mich gesetzt und auch ein bisschen gedöst?"

    „Ich wollte Sie nicht wecken."

    „Dann setzen Sie sich jetzt neben mich, nun bin ich ja wach."

    Yves tat es. Wieder war Schweigen zwischen ihnen. Er war froh, dass sie noch bleiben würde. Filou kam angerannt, legte sich vor die beiden ins Gras. Stille breitete sich aus. Nur hin und wieder hörten sie Julie in der Küche hantieren. Sonst nichts.

    Claire erzählte seither stets, sie hätten beide in dem Schweigen gespürt, dass sie sich viel zu sagen hätten, aber das war in dem Moment nicht nötig.

    „Ja, so war es wohl", pflegte Yves daraufhin zu erwidern, während er in sich hineinlächelte.

    Julie erschien im Garten, sie hatten sie schon auf dem Weg von der Küche her reden gehört.

    „So, nun müssen wir noch den Tisch decken. Auberginen und eingelegte Paprikaschoten als Vorspeise sind genau richtig, um ein bisschen Appetit zu bekommen. Oh, es wird Ihnen schmecken hier draußen. Wie lange kennen Sie Yves denn schon? Er erzählt ja nie etwas, ist immer so wortkarg. Da ist er wie sein Vater. Der hat auch nicht viele Worte machen können. Es kommt halt nur auf das richtige Wort zur richtigen Zeit an, sagte der oft. Ja, wo ist denn Yves jetzt? Ach, Du hast frisches Wasser geholt. Wissen Sie, wir haben hier einen eigenen Brunnen, direkt am Haus. Das Wasser haben wir mal prüfen lassen von so einer biologischen Behörde. Es ist ein sehr gutes Wasser. Das können Sie ganz beruhigt trinken. Wir haben Glück auf dem Grund und Boden hier. Sehen Sie dahinten, wo die vielen Eichen stehen, die kleinen sind erst zwei Jahre alt. Dort lassen sich in manchem Jahr reichlich Trüffel finden. Filou ist darauf abgerichtet. Haben Sie schon mal Trüffel gekostet? Natürlich ist es nichts zum Sattessen, aber sie schmecken wunderbar und sie bringen auch gute Preise. Yves bringt sie nach Carpentras. So, hier ist noch frisches Baguette. Langen Sie nur kräftig zu. Und probieren Sie von dem eingelegten Knoblauch. Bon appetit!"

    Während der Rede ohne Punkt und Komma, so wie es Julies Art war, wenn sie einmal in Fahrt gekommen war, hatten sich die beiden unentwegt angeschaut, und in Claires Blick lag nichts Genervtes ob der vielen Worte der alten Frau, liebevolles Verständnis war darin zu lesen. Yves wiederum hatte nichts Schamhaftes im Blick. Er mochte die alte Julie. Es hatte ihm immer wehgetan, wenn jemand sich gestört fühlte, nur weil Julie ein bisschen schnell und ein bisschen viel sprach. Er wusste, dass sie außer ihm niemanden mehr hatte, und er selbst war ja nicht gerade ein sehr geselliger Mensch. Also nahm sie jede Gelegenheit zum Reden wahr. Claire fühlte sich offenbar nicht gestört.

    Yves wollte sie so viel fragen, ihr so viel erzählen. Er schwieg. Und dass sie seine alte Julie, eine treue Freundin seiner Mutter, offenbar gut leiden mochte, das gefiel ihm umso mehr. Claire hatte eine liebenswerte Natürlichkeit an sich. So eine Frau konnte er sich an seiner Seite vorstellen, lange, vielleicht für ein ganzes Leben.

    Sie aßen ohne Hast. Julie war eine wunderbare Köchin und verstand es trefflich, aus allem, was der Garten hergab, etwas zuzubereiten. Wie sein Vater, war Yves Winzer aus Leidenschaft. Seine Weine verkauften sich gut. Er überlegte, was Claire wohl machte. Sie hatten nicht darüber gesprochen.

    „Ich weiß gar nichts von Ihnen."

    „Stimmt, ja, was soll ich sagen? Ich bin Sängerin, habe gerade mein Studium beendet und das erste Engagement bekommen, die Poussette in „Manon, noch keine sehr große Rolle. Aber ich freue mich sehr auf die Arbeit. Ich bin neugierig, ob ich dem Stress gewachsen bin.

    „Sie können immer hierher zurückkommen um zu entspannen."

    Im selben Moment war Yves zutiefst erschrocken über seine Worte. Sie waren ihm so herausgepurzelt. Claire sah seine Verlegenheit, war selbst ein bisschen verwirrt. Nach einer langen Weile – keiner hatte etwas gesagt, auch nicht Julie, die aber die Situation aufmerksam verfolgte – sagte Claire ganz ruhig: „Yves, das klang wie ein Heiratsantrag."

    „Ich weiß", sagte er nur, gab der Situation damit eine ungeheure Schwere.

    Julie spürte, dass sie eben Zeuge eines besonderen Augenblickes geworden war, und sie wusste auch, dass Claire und Yves es jetzt schwer hatten, zu ihrer anfänglichen Natürlichkeit zurückzufinden. Sie wusste nicht, wie sie den beiden helfen konnte, ohne etwas kaputt zu machen. Also blieb sie still.

    Sie aßen weiter und jeder hing seinen Gedanken nach. Yves wagte kaum, die Augen vom Teller zu heben, so sehr fürchtete er sich vor der Ablehnung in Claires Blick.

    Julie hob plötzlich ihr Glas. Der Rotwein funkelte darin wie eingefangener Sonnenschein. Da hob auch Claire das Glas und sagte: „Ja, trinken wir auf meine Wiederkehr."

    Yves trank ihr zu und sah, dass in ihren Augen eine Ruhe lag. Er schaute sie mit ernstem Blick an, und Claire spürte, dass er ihre Worte nicht genau zu deuten vermochte.

    Von irgendwoher kam Filou angerannt und legte sich unter den Tisch. Während Julie in die Küche ging, um den Hauptgang zu holen, lehnte sich Yves zurück und steckte sich eine Zigarette an. Er sah dem Rauch nach. Ja, er konnte sich Claire in seinem Leben gut vorstellen. Yves glaubte mit einem Mal, dass es sie gab, die Liebe auf den ersten Blick.

    „Ich werde gehen und Julie helfen."

    Claire verschwand im Haus. Kurze Zeit später kamen die beiden Frauen mit Schüsseln und Tellern zurück, tischten geschmorten Kaninchenbraten und Gemüse auf.

    „Wie wunderbar das duftet, da werde ich Ihnen noch viel ablauschen müssen, bevor ich für uns drei koche."

    Julie konnte nicht sofort antworten.

    „Ich glaube, Sie sind sehr geschickt, sagte sie dann nur und lächelte. Sie war voller Bewunderung und konnte kaum glauben, was Claire mit wenigen Worten ausgedrückt hatte. Yves starrte mit großen Augen von Julie zu Claire. Aber beide schienen seinen Blick nicht zu bemerken, so sehr waren sie mit dem Essen beschäftigt. „Müssen Sie sich nach dem Essen um den Wein kümmern?, fragte Claire als sie fertig waren. Julie war schon wieder ins Haus gegangen.

    Yves schüttelte den Kopf.

    „Es ist zu heiß. In den Mittagsstunden sollte man eigentlich ausruhen, die Arbeit dauert dafür bis zum Abend. Meistens ziehen Julie und ich uns in die kühleren Räume zurück, um ein bisschen zu schlafen. Sie bewohnt die beiden Zimmer nach Norden hin."

    „Ich glaube, ich würde auch auf der Stelle einschlafen, wenn Sie ein ruhiges Plätzchen für mich haben."

    „Kommen Sie, im Gästezimmer ist es auch kühl."

    Sie gingen ins Haus, und Julie rief aus der Küche: „Ich habe einen Krug mit frischem Wasser ins Gästezimmer gestellt."

    „Danke, Julie."

    Claire folgte Yves und sie betraten ein kleines Zimmer, in dem nur ein Tisch, ein Stuhl und das Bett standen. Es war frisch bezogen und duftete nach Lavendel. Claire kannte den Geruch aus ihrer Kinderzeit. So hatte es bei ihren Großeltern im Schlafzimmer gerochen. Eine wohlige Erinnerung überkam sie. Neben einem alten Waschtisch stand der Krug mit kaltem Wasser.

    „Es ist wirklich wie ein Urlaubstag. Ich mache Ihnen eine Menge Umstände."

    „Nein."

    Er sagte das ganz schlicht, und Claire glaubte ihm. Sie legte sich aufs Bett und hatte das Gefühl, die Augen nicht mehr offen halten zu können. Yves schloss leise die Tür, aber das hörte Claire schon nicht mehr. Die letzten Wochen vor der Abschlussprüfung hatten ihr nicht viel Zeit gelassen, ausreichend zu schlafen. Auf dem weichen Bett merkte sie ihre große Müdigkeit, und die Phase zwischen dem Sich-Fallen-Lassen und dem Einschlafen war kurz.

    Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sie im Garten die Stimme von Julie hörte.

    „Komm her, Filou, komm."

    Die Sonne war ein Stück weiter gewandert, stand immer noch hoch. Wie spät mochte es sein? Claire reckte sich, stand auf und goss Wasser in die Porzellanschüssel. Nachdem sie sich erfrischt hatte, fühlte sie sich wunderbar. Plötzlich wurde ihr bewusst, in welch seltsamer Lage sie sich befand. Wo war Yves? Vielleicht schlief er noch, nein sicher war er schon zu den Weinstöcken gegangen. Claire hätte sich gern an ihn gelehnt. Sie fühlte sich ausgeruht und war voller Tatendrang. Aber es gab hier nichts zu tun für sie.

    Sie ging in den Garten. Sofort kam Filou auf sie zu, wedelte mit dem Schwanz und tapste um sie herum.

    „Sie müssen ja völlig übermüdet gewesen sein."

    Julie brachte eine Kanne Kaffee.

    „Yves ist zur Bergerie gefahren. Aber er wird gleich zurück sein. Trinken wir erstmal einen Kaffee."

    Claire setzte sich zu Julie und trank den heißen Kaffee, der ihr trotz der Hitze guttat. Lange saßen sie ohne ein Wort. Julie betrachtete Claire, machte sich ihre Gedanken, sagte nichts. Aus der Ferne drangen Motorengeräusche zu ihnen. „Das wird Yves sein. Ich hole noch eine Tasse. Bin gleich wieder da."

    Julie ging ins Haus.

    Ein alter Peugeot hielt etwas abseits. Yves stieg aus und kam zum Tisch.

    „Ich wollte Sie nicht wecken. Ich hoffe, Sie sind mir deshalb nicht böse."

    „Nein, nein, gar nicht. Es hat mir gut getan, ein bisschen zu schlafen, hier in dieser herrlichen Ruhe."

    „Ich habe verschiedene Weine mitgebracht. Dann können wir später, wenn es etwas kühler geworden ist, probieren. Ich werde Julie dazu bitten, wenn Sie nichts dagegen haben."

    „Nein, ich habe überhaupt nichts dagegen. Ich mag sie."

    „Wenn Sie wollen, können wir noch ein bisschen durch die Gegend bummeln."

    „Ja, das machen wir. Es ist ein herrlicher Tag."

    Claire strahlte Yves liebevoll an, legte ihm ihren Arm um die Hüften, und sie gingen los. Yves hatte seinen Arm um Claires Schultern gelegt. Sie gingen, als wären sie immer so gegangen, sie waren sich vertraut und fühlten eine Nähe, die sie nicht in Worte fassen wollten. „Ich möchte nicht aufhören, so zu gehen", sagte Yves plötzlich in die Stille.

    „Wenn wir über einen Graben springen, müssen wir uns loslassen", erwiderte Claire keck.

    „Ja, aber wir können uns an den Händen halten."

    „Auch wenn ich weit weg bin?"

    „Auch wenn du weit weg bist."

    Sie hielten sich eng umschlungen und sprachen weiter nichts, bis sie wieder auf den Hof zurückkamen.

    Julie hatte inzwischen Wäsche auf die Leine gehängt und war gerade dabei, den leeren Korb ins Haus zu tragen.

    „Julie, setz‘ dich zu uns. Claire will noch ein paar Weine probieren, zum Mitnehmen."

    „Ja, gern. Ich komme gleich."

    Yves holte einen Korkenzieher aus der Hosentasche und sortierte die Flaschen nach Jahrgängen.

    „Das sind ja so viele, da weiß ich beim letzten nicht mehr, wie der erste geschmeckt hat."

    Julie hatte sich umgezogen, das Haar geglättet. Sie stellte drei Gläser auf den Tisch und setzte sich zu Claire auf die Bank.

    „So, das ist ein besonders feiner Jahrgang, ein vollmundiger fruchtiger Wein."

    Yves goss eine kleine Menge in jedes Glas. Sie prosteten sich zu. „Oh, der hat es aber in sich. Aber er schmeckt wunderbar. Wie, wie – wie ein Sonnenuntergang."

    „Wenn du die Weine alle neu benennst, wirst du sie auch auseinanderhalten können."

    Julie schmunzelte.

    Sie probierten etliche Rotweine.

    Die Bäume warfen inzwischen lange Schatten. Es war fast acht Uhr. „Yves, du hast die letzten drei gar nicht mitprobiert."

    „Das geht schlecht, wenn ich nachher noch Auto fahren soll."

    Claire wurde plötzlich ernst. Es fiel ihr schwer, daran zu denken, dass sie heute noch zurück in die Stadt sollte. Sie dachte an die Einsamkeit ihres möblierten Zimmers. Ein tiefer Seufzer entrang sich ihrer Brust.

    „Ach, eins kannst du doch noch mittrinken, oder?", fragte Claire noch einmal mit Nachdruck.

    „Wenn ich das tue, dann fahre ich nicht mehr."

    „Und wenn ich dich darum bitte?"

    „Dann bittest du darum, hier zu bleiben", sagte Yves mit einem unmerklichen Lächeln.

    „Ich bin weinselig. Trink."

    Yves füllte sein Glas und sie tranken sich zu.

    Als die Sonne untergegangen war, saßen sie immer noch zu dritt beim Wein, lachten, und Claire hatte sich hinreißen lassen zu singen.

    Anfangs war Yves erschrocken über ihre wunderschöne Stimme, und ihm wurde klar, dass der Gesang in Claires Leben einen wichtigen und großen Raum einnahm. Darüber würde er nachdenken müssen. Er schob die Gedanken auf den nächsten Morgen und genoss ihre Lieder.

    Claire blieb eine ganze Woche. Sie hatte Ferien.

    Ein Vierteljahr später heirateten sie.

    Fernand musste lächeln, als er an diese Geschichte dachte. Er hatte Claire dafür bewundert, wie sie vorbehaltlos ihren Gefühlen nachgegeben hatte und eine Entscheidung ohne Wenn und Aber zu treffen in der Lage gewesen war.

    Das lag nun fast dreißig Jahre zurück. Natürlich würde er zu Yves‘ Geburtstag fahren. Morgen würde er Claire anrufen und ihr Bescheid sagen.

    Ja, und Jean, ihn würde er auch anrufen. Fernand konnte sich nicht erinnern, wann ihn ein Mann jemals so irritiert hatte. Seine Zuwendung tat ihm gut. Er strahlte Geborgenheit aus, und zum ersten Mal spürte Fernand sie deutlich, seine Einsamkeit. Plötzlich fiel ihm sein Neffe ein. Er hieß ja auch Jean und lange Zeit hatte er den Beinamen „Don Jean hinnehmen müssen. Ob das bei „seinem Jean auch so war? Egal. Fernand beschloss, erst einmal alles ohne Vorbehalte auf sich zukommen zu lassen. Er griff in die Manteltasche. Ja, die Karte war noch da. Vor ihm, auf dem Fußboden stand das Telefon. Er beugte sich hinunter, griff nach dem Hörer und wählte die Nummer. Zweimal hörte er das Freizeichen, dann nahm Jean ab.

    „Jean Bertisse, hallo."

    „Ich bin’s, Fernand."

    „Ja, hallo. Schön, dass du anrufst. Was ist denn passiert?"

    „Passiert? Wieso? Äh, nichts. Ich wollte mich nur noch mal bei dir bedanken, dass du mich abgeholt hast."

    „Na, dann scheint die Überraschung ja wirklich gelungen zu sein. Aber ehrlich gesagt, ein bisschen Eigennutz war schon dabei. Ich hatte Sehnsucht nach dir."

    „Hm. Ich habe übrigens einen Neffen, der heißt auch Jean."

    „Das ist ja eine praktische Eselsbrücke, falls du die Karte doch mal verlierst."

    Fernand sah das schöne Lächeln vor sich – das unwiderstehliche Schmunzeln – das ihm im Bistro schon aufgefallen war.

    „Bevor mein Neffe geheiratet hat, haben ihn seine Freunde immer „Don Jean genannt.

    „Ah ja, und nun beschäftigt es dich wohl, ob ich auch so bin, was?"

    „Nein, nein, es ist mir nur eben eingefallen, weil ein Brief von meiner Schwester in der Diele lag. Bitte, warte mal einen Moment. Irgendwer ruft im Hausflur nach mir."

    „Monsieur Celadière, hallo!"

    Fernand stieg im Flur über seinen Koffer. Draußen stand seine Nachbarin im Bademantel und sah ganz erschrocken drein.

    „Was gibt es denn, Madame Pillot? Kann ich Ihnen helfen?"

    „Ach woher, ich war nur in Sorge, weil Ihre Tür seit Stunden offensteht, und dann Ihr Gepäck hier, da dachte ich, Ihnen sei was passiert."

    „Ach so, ja die Tür, die habe ich wohl vergessen. Ich bin gerade vom Flugplatz gekommen. Vielen Dank."

    „Ja, ja, ich habe Sie ja kommen gehört. Aber das ist mehr als vier Stunden her. Deshalb dachte ich, na ja. Nun ist ja alles in Ordnung. Gute Nacht."

    „Gute Nacht."

    Fernand schloss die Tür und ging zurück zum Telefon.

    „Bist du noch da?"

    „Na klar. Was war denn?"

    „Ach, ich hatte die Wohnungstür vergessen zuzumachen. Meine Nachbarin hat sich Sorgen gemacht."

    „Das steht ihr ja um halb drei Uhr morgens zu. Ich würde es auch nicht sehr witzig finden, wenn du gestohlen wirst."

    „Waaas? Ist es schon so spät? Um Himmels willen, das tut mir leid. Ich habe gar nicht auf die Uhr gesehen. Da habe ich dich ja aus dem Bett geholt."

    „Das hast du nicht. Ich liege noch drin. Das Telefon steht direkt daneben."

    „Jean, entschuldige. Das wollte ich nicht. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es ist."

    „Ach, Fernand, das ist halb so schlimm. Geh‘ einfach davon aus, dass ich mich freue. Hast du denn deinen Mantel noch an?"

    „Den Mantel? Ja, du meine Güte, ja, den habe ich noch an. Ich weiß gar nicht, wo die Zeit geblieben ist. Ich saß im Sessel, habe den Brief von meiner Schwester gelesen und daran gedacht, wie sie ihren Mann kennengelernt hat. Und da bin ich wohl so in Gedanken versunken, dass ich… Wieso fragst du nach dem Mantel?"

    „Wegen der Karte. Du hast meine Telefonnummer doch sicher nicht im Kopf gehabt."

    „Nein."

    Fernand war betreten.

    „Hör‘ mal, sagte Jean. „Du musst dir keine Vorwürfe machen. Ich freue mich, dich zu hören. Außerdem habe ich noch gar nicht geschlafen.

    „Nein? Da bin ich wirklich froh."

    „Ich kann kaum noch schlafen, seit du mir ins Fahrrad gelaufen bist. „Hast du dich doch verletzt?

    Jean lachte schallend. Fernand nahm den Hörer ein Stück vom Ohr. „Ja. Du hast mir das Herz gebrochen. Jetzt sag‘ bitte nicht, dass es dir leid tut."

    „Eigentlich weiß ich gar nicht, was ich sagen soll. Also, ja, die Autofahrt vom Flughafen in die Stadt war schön."

    „Ja, das war sie."

    „Ich glaube, ich bin ein wenig schwierig."

    „Ach, Fernand, sei wie Du bist. Und ruf‘ an, wann du willst. Mach dir keine Gedanken. Wir haben so viel Zeit."

    „Ja, viel Zeit. Jetzt werde ich erstmal meinen Mantel ausziehen."

    „Oh bitte, keine Details. Solchen Vorstellungen bin ich nicht gewachsen."

    „Ich wollte sagen, mich überkommt…"

    „Ja, mich auch."

    Jetzt musste Fernand lachen.

    „…eine angenehme Müdigkeit, wollte ich sagen. Ich rufe dich morgen Vormittag noch mal an, damit wir uns verabreden können."

    „Ja gut und denk darüber nach, welches Gespräch wir fortsetzen wollen. Schlaf gut, mon petit Prince."

    „Du auch, gute Nacht, Jean."

    Fernand schaute noch einen Moment vor sich hin, dann legte er den Hörer vorsichtig auf den Apparat, als wolle er das Gehörte nicht kaputtmachen. Er zog endlich seinen Mantel aus, räumte seinen Koffer im Flur zur Seite und beschloss, schlafen zu gehen.

    Die Reise, der Rückflug, Jean am Flugplatz, das Telefonat und dazwischen Noten und Melodien in seinem Kopf – all das hielt ihn wach, obwohl er sich völlig erschöpft fühlte.

    War es sonst gewöhnlich die Musik, so begannen auf einmal die Gedanken an Jean immer mehr Raum in seinem Kopf einzunehmen. Fernand versuchte sich darüber Klarheit zu verschaffen, was in ihm vorging. Er war kein junger Mann mehr und sicher auch nicht verliebt. Was aber war es dann? Ein zärtliches Gefühl beschlich ihn, und er lächelte. Jean war offenbar ein Mensch, der sich nicht so schnell abschrecken ließ, wenn etwas nicht auf Anhieb klappte. Fernand wusste nichts von ihm, nur dass er Chorsänger war und seine Liebe zur Musik teilte. Seine Stimme, ja seine Stimme kannte er. Und er glaubte, er würde sie unter Tausenden wiedererkennen, so wie er ein Musikstück wiedererkannte. Wie er „mon petit Prince" gesagt hatte, da schwang so ein Hauch Erotik mit, den Fernand jetzt, da er im Bett lag, noch einmal wahrnahm. Er ließ die Ereignisse Revue passieren und hätte am liebsten wieder zum Hörer gegriffen, um Jean zu sagen – ja, was wollte er ihm sagen? Dass er an ihn dachte, sich nach seiner Nähe sehnte, er sich diese Nähe so genau vorstellte, als seien sie sehr vertraut miteinander. Oder dass er einfach seine Stimme hören wollte, die ihn so bezauberte. Nein, das ging nicht. Oder doch? Fernand warf sich von einer Seite auf die andere. Dann schlief er endlich ein.

    Als um acht Uhr der Wecker klingelte, schien es Fernand, als sei er eben erst eingeschlafen. Er trottete ins Bad und duschte lange. Seine Gedanken waren bei Jean. Nur ganz allmählich fand er in den Tag. Der würde anstrengend werden. Eine erste Konzertprobe stand an, und seine Musiker kannten ihn als konzentrierten Maestro, der nichts durchgehen ließ.

    Am Abend hatte Fernand frei. Seine Sonate, deren Voranschreiten ihm immer noch Probleme bereitete, würde wie immer die restliche Zeit des Tages in Anspruch nehmen.

    Fernand saß vor einer großen Tasse Milchkaffee und dachte nach. Er könnte natürlich auch den Abend mit Jean verbringen. Die Erinnerung an das Telefonat und an sein zärtliches Gefühl, das ihm so neu war, wollte er noch ein bisschen genießen. Er beschloss, alles Schöne, das sich ihm auftat, anzunehmen, seine Sonate einen Abend lang warten zu lassen.

    Als er die Nummer wählen wollte, fiel ihm ein, dass er die Karte immer noch in der Manteltasche hatte. Er holte sie, speicherte die Nummer in sein Telefon. Dann steckte er sie wieder in den Mantel zurück und drückte die Taste, die nun Jeans Telefonnummer barg.

    Wenn der wieder zur Probe musste, dann würde er ihn wahrscheinlich noch erreichen, denn es war ja noch früh am Tag. Wieder überlegte er, was er ihm überhaupt sagen wollte. Es gab so vieles. Aber das meiste schien ihm unaussprechlich.

    „Jean Bertisse."

    „Guten Morgen."

    „Oh, Fernand, mon petit prince, bist du aus dem Bett gefallen?"

    „Nein, natürlich nicht. Ich wollte nur, ja also…ich wollte…"

    „Vielleicht einen Vorschlag machen, wann wir unser Gespräch fortsetzen?"

    „Ja, stimmt, das wollte ich."

    „Na, dann schieß‘ mal los. Wann hast du denn Zeit?"

    „Ja, wann hättest du denn Lust?"

    Er hörte Jean lachen und war irritiert, weil er nicht wusste, was den anderen so amüsierte.

    „Heute ist keine Probe, und Lust habe ich bereits."

    Fernand spürte, dass er rot wurde. Er lächelte und versuchte, mit einem Anflug von gespielter Süffisanz und etwas Frechheit der Lage Herr zu werden.

    „So, dann komm doch vorbei. Ich muss erst in zwei Stunden weg."

    Es kam keine Antwort. Fernand war verunsichert.

    „Hallo, bist du noch dran?"

    Mit ernster Stimme hörte er Jean sagen: „Ja, ich bin noch dran."

    „Entschuldige, das habe ich nicht so gemeint. Das war nur ein Scherz. Ich dachte, ich wollte…"

    „Ich bin in zehn Minuten da."

    Klick. Fernand starrte auf den Hörer und eine große Unruhe überkam ihn. Was hatte er denn da um Gottes Willen für eine Lawine ins Rollen gebracht?

    Natürlich war es nur ein Scherz gewesen. Allerdings hätte er in der Nacht alles darum gegeben, wenn Jean aus dem Nichts heraus aufgetaucht wäre. Und nun?

    Er schlürfte hilflos seinen Kaffee. In wenigen Minuten würde es läuten. Und dann? Fernand saß immer noch im Bademantel am Tisch. Ich sollte mich anziehen, dachte er erschrocken. Was würde Jean denken, wenn ich ihn im Bademantel empfange? Nein, das ging nicht.

    Aber was soll ich anziehen? Ich benehme mich ja wie ein Teenager, sagte er sich, schritt entschlossen zum Schrank, nahm eine Jeanshose heraus, ein Hemd, passende Socken und stöberte in den Unterhosen. Eben wollte er eine seiner Lieblingsunterhosen herausnehmen, da klingelte es.

    Er stürzte zur Tür, öffnete sie und stand – immer noch im Bademantel – hilflos vor Jean. Er konnte nichts sagen. Jean trat in den Korridor, schloss die Tür hinter sich, ohne Fernand auch nur einen Moment dabei aus den Augen zu lassen.

    „Du musst entschuldigen. Ich wollte mich eben anziehen", stammelte Fernand, dessen völlig konfusen Zustand Jean gerührt zur Kenntnis nahm.

    „Das war kein schlechter Scherz vorhin, mein Lieber. Hm, die Geister, die du riefst…, da bin ich."

    Jean hielt den anderen immer noch mit den Augen fest. Der lächelte ihn unbeholfen an, errötete, ärgerte sich darüber, schlug die Augen nieder und holte tief Luft. Der anhaltende Blick seines morgendlichen Besuchers verursachte ihm indes einen wohligen Schauer. Behutsam legte Jean beide Arme um Fernand und berührte ganz zart mit seinen Lippen dessen Stirn, die Augen, die Wimpern, die Wangen und den Mund, den Fernand ihm entgegenhielt.

    Sie genossen ihn

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