... hinter Stacheldraht und Gefängnismauern ...: Zeugen Jehovas und Bibelforscher als Häftlinge in Bergen-Belsen
Von Reiner Hermann
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... hinter Stacheldraht und Gefängnismauern ... - Reiner Hermann
Die Quellen
Die Rekonstruktion der Haftstationen gleicht oft einem Puzzle, bei dem ein Großteil der Teile derzeit nicht auffindbar ist. In einigen Lagern wurden Dokumente vor der Befreiung fast vollständig vernichtet. Aber auch die vorhandenen Unterlagen haben ihre Tücken. Einige verblassten zwischenzeitlich derart, dass die vom Archiv des Internationalen Suchdienstes in Bad Arolsen (International Tracing Service, ITS; jetzt Arolsen Archives) für Recherchezwecke zur Verfügung gestellten Listen teilweise kaum noch lesbar sind.
In vielen Nachkriegsaufstellungen wurden oft nur bestimmte Teilgruppen aufgenommen, andere ignoriert. Auch mussten einige Interpretationen früher Jahre durch verbesserte Erkenntnisse berichtigt werden. Die Nummernkarteien der Lager, die sich aus den bei der Untersuchung vom ITS erstellten Karteikarten zusammensetzen, sind teilweise durch das Einscannen nicht lesbar, zu einem großen Teil aber auch nicht in der richtigen Reihenfolge sortiert. Namen wurden nicht richtig und nicht in einheitlicher Schreibweise notiert und auch Fehler in der Zuordnung des Haftgrundes kamen vor.⁶
Die Quellenlage für das Konzentrationslager Bergen-Belsen ist allgemein als schlecht zu bezeichnen. Die SS war auch in Bergen-Belsen in der Lage, vor der Übergabe des Lagers die Registratur nahezu komplett zu vernichten.⁷ Durch die grassierende Typhus-Epidemie starben viele der ehemaligen Häftlinge in den ersten Tagen nach der Befreiung. Die Beerdigung erfolgte in Massengräbern, eine Registrierung der Todesfälle war vielfach nicht möglich.
Eine ganze Anzahl Transportlisten aus anderen Lagern, die Eingänge von Häftlingen aus Bergen-Belsen oder Abgänge nach dorthin enthalten, sind jedoch vorhanden. So sind die Namen von 26 Zeuginnen Jehovas, die im März 1945 von Bergen-Belsen zum KZ Mittelbau-Dora geschickt wurden, in einer Zugangsliste enthalten.⁸
Für die Zeit vom Aufbau des Lagers bis etwa März 1945 liegen Sterbebucheintragungen vor. Diese existieren zumindest für drei Zeugen Jehovas. Allerdings wird nur einer darin als „Bibelforscher bezeichnet. Bei den anderen ist als Religionszugehörigkeit „gottgläubig
oder „ohne Religion" angegeben. Allerdings konnten unter den bekannten Sterbefällen ohne oder unbekannter Religion und unter den anderen als gottgläubig bezeichneten Personen (bisher) keine weiteren Zeugen Jehovas identifiziert werden.
Eine zumindest unterstützende Wirkung bei der Forschung haben die Listen mit Namen Überlebender. Diese Aufstellungen entstanden teilweise unmittelbar nach der Befreiung. Zwar ist aufgrund der offensichtlichen Schreibfehler die Übernahme einer Person als Häftling in Bergen-Belsen nicht ohne weitere Überprüfung möglich. Jedoch kann ein Vergleich mit diesen Listen ein Indiz dafür erbringen, dass eine namentlich bereits bekannte Person tatsächlich in Bergen-Belsen war. Auch für mehrere Zeugen Jehovas konnte so die Befreiung in Bergen-Belsen bestätigt werden. Allerdings waren Angehörige verschiedener Nationen bereits vor Erstellung dieser Verzeichnisse in ihre Heimatländer gebracht worden.
Eine in den letzten Jahrzehnten vermehrt anerkannte Quelle für die Geschichtsforschung ist die so genannte „Oral History". Berichte Überlebender oder derer Nachkommen, zumeist in Form von Videointerviews, geben wertvolle Hinweise. Naturgemäß muss auch hier mit einer gewissen Fehlerquote bei den Daten gerechnet werden. Dies sollte die Glaubwürdigkeit des erlebten Geschehens aber nicht in Frage stellen.
Bisher liegen zum Thema Bergen-Belsen nur wenige von Jehovas Zeugen veröffentlichte Berichte vor. So fand Bergen-Belsen nur kurze Erwähnung im Lebensbericht von Elsa Abt.⁹ Im Jahre 1998 berichtete Eva Josefsson (geb. Bàsz) ausführlicher über die Erlebnisse, die sie und Olga Slézinger in Bergen-Belsen hatten.¹⁰ Auch Rachel Sacksioni-Levée ging auf ihre Erlebnisse in Bergen-Belsen ein.¹¹ Fast alle als Quelle angegebene Literatur von Jehovas Zeugen ist in der Online-Bibliothek auf der Website jw.org nachzulesen.
Daneben liegen im Geschichtsarchiv von Jehovas Zeugen in Selters/Taunus (WTA) eine ganze Anzahl unveröffentlichter Manuskripte (hier als „EB" gekennzeichnet) von Personen vor, die in dieser Abhandlung beschrieben werden. Für die über viele Jahre gegebene Unterstützung möchte ich den Mitarbeitern des Geschichtsarchivs der Zeugen Jehovas einen speziellen Dank aussprechen.
Sollte sich aus dem Text zu der betreffenden Person nicht schon deutlich ergeben, worauf die Angabe, dass diese Person in Bergen-Belsen war, beruht, wird die Quelle durch eine Fußnote benannt. Nennungen ohne Quellenangaben beruhen zumeist auf den Angaben des Geschichtsarchivs der Zeugen Jehovas. Die Belege hierzu wurden — soweit dies möglich war — auf ihre Richtigkeit geprüft.
Der mehrfach zitierte Aufsatz von Dr. Rahe „Jehovas Zeugen im Konzentrationslager Bergen-Belsen wurde 1998 in der Jahresschrift „Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland
, und in dem Sammelband „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas", herausgegeben von Hans Hesse in der Edition Temmen, veröffentlicht. Für die Genehmigung, die darin über Einzelpersonen enthaltenen Fakten als Grundstock für diese Abhandlung zu verwenden, sage ich Herrn Dr. Rahe Dank.
In den letzten Jahren konnte der Bestand des ITS Bad Arolsen genutzt werden. Auch lassen viele Archive — auch die Arolsen Archives — inzwischen Recherche im Internet zu, so dass auch darüber Informationen erlangt werden konnten. Zudem haben sich über die Jahre meiner Untersuchung die Mitarbeiter der Gedenkstätten und vieler Landesarchive für die Recherche als große Unterstützung erwiesen.
Und wenn ich schon bei den Danksagungen bin: ein besonders großer Dank gebührt meiner Frau, die mich auf vielen Reisen zu Gedenkstätten und Archiven begleitete. Bei der Korrekturlesung half sie mit Vorschlägen, die den Text verständlicher machten.
⁶ So wurden eine ganze Anzahl „Wifo(Wirtschaftliche Forschungsgesellschaft)-Häftlinge aus Dora-Mittelbau bei ihrer Registrierung in Ravensbrück zu „Bifo
-Häftlingen.
⁷ Der Lagerkommandant Kramer gab an, diese Unterlagen bereits im März 1945 vernichtet zu haben. (Arolsen Archives #82118088)
⁸ ITS Archiv Doc. No. 2541549#1 (1.1.27.1/0077/0063)
⁹ Der Wachtturm vom 15.07.1980, S, 12ff
¹⁰ Der Wachtturm vom 01.06.1998, S. 28ff
¹¹ Erwachet! vom 22.12.2001 S. 19ff
Formen des Terrors
Aus den vorhandenen Unterlagen ergibt sich ein immer wiederkehrendes Muster der Verfolgung: Terrorisierung wegen Nichtteilnahme an Wahlen, Hausdurchsuchungen, Entlassung vom Arbeitsplatz, Verweigerung von Sozialleistungen, Kündigung der Wohnung, Entzug des Sorgerechts für die Kinder. Darauf folgten Verhaftungen mit anschließender unterschiedlich langer Untersuchungshaft. Sodann Verurteilung und Haft in Gefängnissen. Nach der Entlassung erfolgte die Übernahme durch die Gestapo und Schutzhaft in wechselnden Konzentrationslagern. „Schutzhaft" war die Umschreibung für eine Verhaftungsform, auf die keine Gerichtsverhandlung folgte und somit auch kein Urteil. Die Menschen wurden mithin willkürlich und für unbestimmte Zeit festgehalten.¹² Nicht bei allen in dieser Abhandlung namentlich genannten Zeugen Jehovas konnten alle erlittenen Misshandlungen und Haftstationen im Einzelnen ermittelt werden.
Für einige der in dieser Abhandlung beschriebenen Frauen lauteten die Stationen in den Konzentrationslagern: Moringen, Lichtenburg (die Verlegung erfolgte jeweils nach der Auflösung des Lagers), Ravensbrück, Auschwitz, Groß-Rosen, Buchenwald, Mauthausen (die Aufenthalte in diesen drei letzten Lagern waren teilweise sehr kurz, so dass viele sie nur als Zwischenstationen des Transports empfanden; außerdem erfolgte keine Registrierung der Häftlinge) und ab Ende Februar 1945: Bergen-Belsen¹³. Dies bedeutete für einige eine KZ-Haft von über 8 Jahren. Andere kamen im Laufe der Zeit in den genannten Lagern hinzu.
Nicht nur in Lichtenburg mussten sie zusätzlich zur Haft brutale Behandlungen über sich ergehen lassen, weil sie politisch neutral bleiben wollten. In Ravensbrück kam für alle Zeuginnen Jehovas als Verschärfung ihrer Strafe eine Dunkelhaft von drei Wochen hinzu, viele erkrankten in Auschwitz und in Bergen-Belsen an Typhus und Malaria. Andere wurden Opfer medizinischer Versuche.
Haftstationen am Beispiel von Martha Baseler
Bei den Männern sind die Stationen nicht so gleichförmig. Oft wurden sie jedoch in den Lagern Sachsenhausen, Niederhagen-Wewelsburg und Buchenwald festgehalten. Einige derjenigen, die in Wewelsburg inhaftiert waren, wurden ab Mai 1943 zum Aufbau des Lagers Bergen-Belsen eingesetzt, die meisten anderen wurden nach Ravensbrück gebracht, von wo aus einzelne später nach Bergen-Belsen kamen. Eine nicht geringe Zahl kam kurz vor der Befreiung aus Mittelbau-Dora in das bereits völlig überfüllte Lager Bergen-Belsen.
In den Lagern mussten gerade Zeugen Jehovas schon bei der Einlieferung Terror über sich ergehen lassen, der von Beschimpfung bis zu brutalstem Zusammenschlagen ging.¹⁴ Hinzu kamen Strafen für die kleinsten Vergehen, die von Essensentzug, Dunkelhaft, Schläge auf dem Bock, Pfahlhängen, stundenlanges Stehen bei Kälte, oft in unzureichender oder sogar durchnässter Kleidung, bis zur gezielten Hinrichtung reichen konnten. Als Folge erlitten viele dauerhafte körperliche Schäden oder den Tod durch Krankheit, Erschöpfung oder Ermordung auf verschiedene Arten durch die SS und ihre Handlanger.
¹² Silke Schäfer Zum Selbstverständnis von Frauen im Konzentrationslager. Das Lager Ravensbrück. S. 19 Doktorarbeit 2002
¹³ Obwohl 69 Frauen namentlich bekannt sind, die in Auschwitz waren, wird nur bei 22 von ihnen Groß-Rosen und Mauthausen als weitere Haftstationen genannt. Buchenwald, wo ein Transport ursprünglich abgeladen werden sollte, nennen sogar nur drei Zeuginnen Jehovas.
¹⁴ Antje Zeiger: Zeugen Jehovas im Konzentrationslager Sachsenhausen in „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas", S. 82
Herkunft der Zeugen Jehovas in Bergen-Belsen
Für die bisher bekannten 126 Zeugen Jehovas sind folgende Nationalitäten bzw. Herkunftsländer zu ermitteln:
Für 66 Personen deutscher Staatsangehörigkeit und die als staatenlos bezeichnete Elsa Abt ist auch der Geburts- bzw. Wohnort zu ermitteln. Bezogen auf den Wohnort zur Zeit ihrer Verhaftung stammen diese Personen aus den meisten deutschen Provinzen und der Freien Stadt Danzig:
Lager vor und nach Bergen-Belsen
Bergen-Belsen war für viele nur eine von vielen Stationen einer vielfach langjährigen Haft in deutschen Konzentrationslagern. In der nachfolgenden Tabelle sind einige der wichtigsten Lager aufgeführt, in denen diejenigen Zeugen Jehovas waren, die auch für Bergen-Belsen ermittelt wurden.
In der zweiten Spalte ist die bekannte Zahl der für dieses Lager ermittelten Zeugen Jehovas angegeben¹⁸. Die vier nachfolgenden Spalten geben die Anzahl derjenigen Männer und Frauen an, die zu irgendeinem Zeitpunkt vor oder nach ihrem Aufenthalt in Bergen-Belsen dort waren. Die Prozentzahl bezieht sich jeweils auf die für Bergen-Belsen ermittelten männlichen und weiblichen Zeugen Jehovas. Aus den beiden letzten Spalten ist zu entnehmen, wie viele aus diesen Lagern direkt nach Bergen-Belsen kamen. Dabei blieben die diversen Zwischenstationen der Evakuierungstransporte aus Auschwitz unberücksichtigt.
Auffallend ist sicherlich, dass mehr als 9 von 10 Frauen nicht nur in Auschwitz waren, sondern im Rahmen der Evakuierungstransporte mehr oder weniger direkt von dort nach Bergen-Belsen gebracht wurden. Aus Ravensbrück, in dem sich die größte Gruppe von weiblichen Zeugen Jehovas befand, kamen lediglich zwei Frauen direkt nach Bergen-Belsen. Alle anderen weiblichen Zeugen Jehovas, die in Ravensbrück und Bergen-Belsen waren, durchlitten zunächst noch das Konzentrationslager Auschwitz und das Grauen des Todesmarsches mit weiteren Stationen, wie Groß-Rosen, Buchenwald und Mauthausen.
Sachsenhausen war das Konzentrationslager, in dem die meisten männlichen Zeugen Jehovas zumindest zeitweise festgehalten waren. Fast zwei Drittel aller in Bergen-Belsen ermittelten männlichen Zeugen Jehovas waren davor oder danach in Sachsenhausen inhaftiert.
¹⁵ Letzte Spalte: Einlieferung aus Strafanstalten (2x), Strasshof und Westerbork (je 1x).
¹⁶ Detlef Garbe, Zwischen Widerstand und Martyrium, 3. Auflage, S.495.
¹⁷ Zwar kam ein Großteil der weiblichen Gefangenen aus Auschwitz über Mauthausen nach Bergen-Belsen. Lediglich von 22 Frauen wird diese Haftstation erwähnt. Auch sie sind daher als von Auschwitz direkt kommend aufgeführt.
¹⁸ Die meisten Angaben stammen aus Johannes Wrobel: Die Nationalsozialistische Verfolgung der Zeugen Jehovas in Frankfurt am Main, in: Kirchliche Zeitgeschichte (KZG), 16. Jahrgang, Heft 2 (2003), S. 372f. Teilweise aktualisierte Zahlen nannte das Geschichtsarchiv im April 2012.
Haftdauer
Immerhin jede fünfte Zeugin Jehovas in Bergen-Belsen war schon in Moringen inhaftiert und hatte somit bei ihrer Ankunft in Bergen-Belsen bereits 8 oder mehr Jahre Konzentrationslager hinter sich. Aus der nachfolgenden Grafik ist das Jahr der Verhaftung zu ersehen.
Verhaftungsjahr
Während in den Jahren ab 1936 zunächst nur reichsdeutsche Zeugen Jehovas in die Konzentrationslager eingewiesen wurden, änderte sich dies mit dem Anschluss Österreichs. Mit Beginn des Krieges wurden dann überwiegend Zeugen Jehovas aus den besetzten Ländern der Freiheit beraubt. In den Lagern trafen sie auf ihre deutschen Glaubensbrüder und –schwestern.
In einem Brief an das Londoner Büro der Zeugen Jehovas schrieben die Überlebenden, dass sie sich von „8 und 10-jähriger schwerster, brutalster und grausamster Behandlung" erholen müssten. Dies war nicht übertrieben. Nicht für alle ist der genaue Beginn oder das genaue Ende der Haft zu ermitteln. Für diese Personen wurde das zu schätzende Minimum angesetzt. Dabei ergibt sich folgende Verteilung:
Insgesamt waren diese 126 Personen mehr als 596 Jahre „hinter Stacheldraht und Gefängnismauern", das heißt im Durchschnitt fast 4 Jahre und 9 Monate. Die frühen Haftstrafen Anfang der 30er Jahre blieben hierbei oft unberücksichtigt. Den geringsten Teil dieser Zeit davon waren sie in Bergen-Belsen. Für dieses Konzentrationslager lassen sich für die untersuchte Gruppe folgende Haftdauern ermitteln (Angaben teilweise geschätzt):
Die längste Haftdauer bei den männlichen Zeugen Jehovas hatten die Männer des Baukommandos, die fast 10 Monate in Bergen-Belsen waren. Die kurze Haftdauer bei den Frauen wird wesentlich durch die 26 Zeuginnen Jehovas bestimmt, von denen die meisten kurz nach ihrer Ankunft in Bergen-Belsen nach Mittelbau-Dora überstellt wurden. Eine ebenso kurze Zeit waren die Frauen und Männer als Häftlinge in Bergen-Belsen, die von Salzgitter und Mittelbau-Dora Anfang April nach Bergen-Belsen transportiert worden waren. Allerdings schloss sich für viele vor der Heimkehr eine oft mehrere Monate dauernde Wartezeit im DP-Lager an.
Wege aus Bergen-Belsen
Die Mehrzahl der Zeugen Jehovas kam — wie der Großteil der Häftlinge in diesem Lager überhaupt — in den letzten Kriegsmonaten nach Bergen-Belsen. Dies erklärt, weshalb eine Mehrheit von ihnen in diesem Lager am 15.04.1945 befreit wurde. Zum anderen ist es eine Erklärung für die große Zahl der in diesem Lager gestorbenen Zeugen Jehovas.
Die nachfolgende Tabelle gibt an, was mit den Zeugen Jehovas nach ihrer Haftzeit in Bergen-Belsen geschah. Die Prozentwerte bei den Männern und den Frauen beziehen sich auf die jeweilige Anzahl der für Bergen-Belsen ermittelten männlichen und weiblichen Zeugen Jehovas bzw. auf die Gesamtzahl der ermittelten Zeugen Jehovas.
Von den in Bergen-Belsen befreiten Zeugen Jehovas starben mindestens weitere 4 Personen noch im Lager. Hier dürfte es jedoch eine große Dunkelziffer geben, denn allein durch den Luftangriff, dem Wilhelm Kohls zum Opfer fiel, sollen viele weitere Zeugen Jehovas umgekommen sein.¹⁹
¹⁹ Brief der Wachtturm-Gesellschaft an Peter Tiedemann vom 16.03.1947.
Die Altersstruktur
Ausgewertet wurden die Geburtsdaten aller 76 Frauen und 50 Männer. Nur in einem Fall konnte lediglich das Geburtsjahr ermittelt werden. Als Stichtag wurde der 26. Februar 1945 angenommen. Zu diesem Zeitpunkt waren durch die aus Auschwitz eintreffenden Evakuierungstransporte die meisten der namentlich bekannten Zeugen Jehovas in Bergen-Belsen.
Folgendes Ergebnis ist festzuhalten: die Altersverteilung der männlichen Häftlinge stimmt nur teilweise mit den Untersuchungen über die Altersstruktur in anderen Konzentrationslagern überein. So weist das Diagramm nur ab den über 40 jährigen einen ähnlichen Verlauf auf, wie von Antje Zeiger für Sachsenhausen ermittelt²⁰. Erhebliche Abweichungen bestehen zu den für die Wewelsburg ermittelten Zahlen. Auffällig ist der hohe Anteil der unter 30 Jahre alten Zeugen Jehovas in Bergen-Belsen. Von 9 Personen, die in diese Gruppe gehören, stammte nur eine aus Deutschland. Insoweit ist ein Vergleich mit der Wewelsburg, in der hauptsächlich reichsdeutsche Zeugen Jehovas inhaftiert waren, auch nur bedingt möglich.
Altersstruktur der männlichen Häftlinge
Altersgruppen
Vergleicht man die Altersstruktur der männlichen und der weiblichen Zeugen Jehovas in Bergen-Belsen, stellt man fest, dass die Verteilung bei den Frauen noch ganz anders geartet ist. Es erfolgt ein stetiger Anstieg bis in die Altersgruppe der über fünfzigjährigen. Die ältesten Frauen waren am Stichtag über 60 Jahre alt, die jüngste nicht einmal 18 Jahre. Der größte Unterschied zwischen der Altersverteilung bei Männern und Frauen ist die Altersgruppe der 50 bis 60-jährigen. Hier sind bei den Frauen ein weiterer Anstieg und die größte Gruppe zu finden.
Altersstruktur männlicher und weiblicher Zeugen Jehovas in Bergen-Belsen im Vergleich
Zu diesen Frauen gehören solche, die bereits 1936 oder 1937 verhaftet worden waren und somit bereits etwa 8 Jahre in verschiedenen Gefängnissen und Konzentrationslagern gewesen waren. Unter den jüngeren Gefangenen gibt es dagegen einen hohen Anteil polnischer und holländischer Zeugen Jehovas. Hier begann die nationalsozialistische Verfolgung erst mit der Besetzung der jeweiligen Länder 1939 bzw. 1940.
²⁰ Antje Zeiger: Zeugen Jehovas im Konzentrationslager Sachsenhausen in „Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas", S. 79
Die Anzahl der Zeugen Jehovas in Bergen-Belsen
In Moringen, Ravensbrück und Wewelsburg stellten Jehovas Zeugen zu verschiedenen Zeiten die stärkste Häftlingsgruppe. In anderen Lagern war — zumindest bis zum Ausbruch des Krieges — der Anteil in zweistelligen Prozentzahlen zu messen. Dagegen waren Jehovas Zeugen zu allen Zeiten ihrer Anwesenheit in Bergen-Belsen eine Gruppe, die nur einen geringen Prozentsatz an der gesamten Häftlingsstärke ausmachte. Dass sie gleichwohl als Gruppe erkannt wurden, geht aus dem hervor, was der englische Offizier, der an der Übernahme des Lagers durch die britischen Truppen beteiligt war, berichtete:
„,Was für Gefangene haben Sie hier?’ fragte ich Kramer. ,Homosexuelle und Berufsverbrecher’, antwortete er, ,ferner Bibelforscher’. Er beobachtete mich scharf, während er dies sagte." ²¹
Jehovas Zeugen gehörten zu den ersten Häftlingen im zunächst als „Zivilinterniertenlager, später „Aufenthaltslager
bezeichneten KZ Bergen-Belsen. Am 09.05.1943 wurden die ersten drei Zeugen Jehovas aus dem KZ Buchenwald nach Bergen-Belsen gebracht. Drei weitere kamen am 01.06.1943 aus dessen Außenkommando Wewelsburg, das kurz zuvor seine Eigenständigkeit verloren hatte. Durch eine weitere Überstellung aus Dachau stieg die Zahl der inhaftierten Zeugen Jehovas bis Ende Juni 1943 auf sieben Männer an. Diese Zahl blieb konstant bis zur Auflösung des Baukommandos am 23.02.1944. Für die folgenden drei Monate wurden keine Zeugen Jehovas in Bergen-Belsen ermittelt.
Am 19.05.1944 kam Rachel Sacksioni-Levée, die nicht nur die erste weibliche Angehörige der Zeugen Jehovas in Bergen-Belsen war. Sie blieb offenbar bis zu ihrer Überstellung nach Beendorf im Dezember 1944 auch die einzige. Am 03.06.1944 brachte man Hermann Alt ins Lager. Er starb am 20.06.1944. Anfang September 1944 kam Hendrik Mulder aus Sachsenhausen. Er starb zwei Wochen vor der Befreiung. Lediglich von zwei weiteren Männern, die im Herbst 1944 aus Ravensbrück kamen und wahrscheinlich 1945 in Bergen-Belsen starben, liegen Unterlagen vor.
Im Dezember 1944 setzten die Todesmärsche aus den weiter östlich gelegenen Konzentrationslagern ein. Außerdem brachte man für eine vorübergehende Zeit holländische Zeugen Jehovas im Februar 1945 nach Bergen-Belsen. Im Januar und Februar 1945 kamen mit den Evakuierungstransporten aus Auschwitz insgesamt 69 Zeuginnen Jehovas, die Mehrzahl von ihnen am 26.02.1945.
Am 03.03.1945 wurden von den weiblichen Zeugen Jehovas 26 Frauen ausgesucht und nach Mittelbau-Dora weitertransportiert. Danach blieb die Zahl der weiblichen Zeugen Jehovas in Bergen-Belsen — soweit sie namentlich bekannt sind — bis zur Befreiung weitestgehend konstant. Die Abgänge bei den Männern wurden durch Zugänge am 10./11. April aus Mittelbau-Dora ausgeglichen.
Es sind nur wenige Häftlingsnummern von Zeugen Jehovas in Bergen Belsen bekannt. Diese geben jedoch einen Hinweis über die Ankunftszeit in diesem Lager. Offensichtlich erfolgte die Registrierung von Frauen und Männern getrennt.
Die in Bergen-Belsen inhaftierte jüdische Ärztin Odette Abadi (geb. Rosenstock) erwähnt für einen Zeitpunkt etwa Mitte/Ende März „ungefähr 60" Zeuginnen Jehovas.²²
Diese Zahl passt zu der Zahlenangabe im bereits erwähnten Brief Überlebender an das Londoner Zweigbüro der Wachtturm-Gesellschaft vom 19.05.1945. In diesem Brief wird von „31 Brüdern und 52 Schwestern²³", also 83 Personen gesprochen. Bei den Schwestern, also den weiblichen Zeugen Jehovas, können die 26 nach Mittelbau-Dora deportierten nicht enthalten sein, da vor dem Abgang dieses Transports die Zahl der weiblichen Zeugen Jehovas, deren Namen uns bekannt sind, mit 68 weit höher lag.
Nachdem dieser Transport abgegangen war, befanden sich daher nur noch 42 weibliche und 14 männliche Zeugen Jehovas in Bergen-Belsen, für die eine Haftzeit dort zum fraglichen Zeitraum mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden kann. Darin sind alle Personen eingeschlossen, die in Bergen-Belsen gestorben sind, deren Sterbedatum jedoch nicht mit Sicherheit vor den April 1945 datiert werden kann. Wenn sich die im Brief genannte Anzahl auf diesen Zeitraum beziehen sollte, bedeutet dies, dass uns 10 weibliche und 17 männliche Zeugen Jehovas bisher unbekannt geblieben sind.
Für den Zeitpunkt der Befreiung sind uns dagegen 41 weibliche und 20 männliche Zeugen Jehovas bekannt²⁴. Sollte sich die Angabe im Brief also auf dieses Datum beziehen, läge die Anzahl der bisher unbekannten Personen somit entsprechend bei 11 Frauen und 11 Männern.
Die