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TEMPUS INVOCATIONUM: Zeit der Anrufungen
TEMPUS INVOCATIONUM: Zeit der Anrufungen
TEMPUS INVOCATIONUM: Zeit der Anrufungen
eBook522 Seiten5 Stunden

TEMPUS INVOCATIONUM: Zeit der Anrufungen

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Über dieses E-Book

In den ersten Frühlingstagen des Jahres 1247 bricht der junge Walliser Mönch Carolus zu einer von höchster Stelle verordneten, abenteuerlichen Reise durch das damalige Reich «deutscher Zunge» auf.
Doch was der unkonventionelle und übermotivierte «Kirchen-Mann» aus dem Kloster St. Maurice d'Agaune an der unteren Rhône während des ersten Teiles dieser Schicksalsreise, in der «Zeit der Anrufungen», dem «Tempus Invocationum», erlebt, das erschüttert nicht nur sein eigenes, verträumtes Weltbild: Immer wieder und immer mehr gerät er darüber hinaus in Situationen, in denen er - zunächst ungewollt - in das Leben und die Weltsicht anderer eingreifen will, ja muss.
Als sich - zwischen Glück und Unglück - die Dinge unwiderruflich überstürzen, sieht sich der glühende Anhänger seiner Vorbilder Paulus und Franziskus in einer Verantwortung, die zu früh kommt für sein frisches Leben.
Doch genau dadurch kommt er in Berührung mit den Mächten und Mächtigen seiner Zeit, deren Eigenheiten und Interessen er recht schnell erkennt, und die er auch bald instinktiv für sich zu nutzen weiss. Und Carolus kann sich den Gesetzen der Welten, denen er da begegnet, nicht mehr entziehen. Er muss handeln…
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum15. März 2017
ISBN9783946787082
TEMPUS INVOCATIONUM: Zeit der Anrufungen

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    Buchvorschau

    TEMPUS INVOCATIONUM - Pierre Maurice

    I

    NTRODUCTIO

    Es war über lange Zeit hin schon viel geschehen, bevor alles seinen Anfang nehmen konnte.

    Und im Grunde hatte alles, wovon wir hier berichten, seinen wirklichen Anfang genommen, als alle diejenigen, von denen wir berichten, noch gar nicht geboren waren. Sehr lange sogar, bevor sie - die Hauptpersonen unserer Erzählungen - überhaupt in unsere Welt treten konnten.

    Die Anfänge reichten mindestens tausend Jahre zurück: Beginnend mit dem Jahre 293 unserer Zeitrechnung hatte der römische Kaiser Diokletian eine Reform des römischen Staates angeordnet und diese dann auch sukzessive durchgesetzt. Sie diente der dauerhaften Stabilisierung des Imperium Romanum:

    Er führte zunächst eine Provinzreform vermittels einer Neueinteilung der Gebiete und deren Flächen durch. Und erst damals wurde die eine Provinz geschaffen, die später steter „casus belli, also Kriegsgrund, zwischen den Burgundern und den Helvetiern wurde, und die in unseren Erzählungen noch oft vorkommen wird: Die kleine Provinz „Maxima Sequanorum mit den Hauptorten der Helvetier, nämlich Avenches, oder lateinisch „Aventicum, und der Rauriker, das man noch heute oft „Augusta Raurica nennt. Denn bis dahin hatte sich die alte Provinz Belgica bis nach Solothurn erstreckt. Nach den grossen Reformen dieser Jahre aber endete die Provinz Belgica irgendwo nördlich in den elsässischen Bergen und Solothurn lag seit dieser Zeit nicht mehr im „alten" Belgien.

    Auch verfügte Diokletian damals eine Finanz- und Wirtschaftsreform sowie eine Herrschaftsteilung, die eine - in römischen Tagen durchaus nicht ungewöhnliche - Tetrarchie, eine Viererherrschaft, etablierte: Zwei „Augusti und zwei „Caesares ergänzten einander und teilten sich die Herrschaftsbereiche des Imperium Romanum.

    Diokletian orientierte sich dabei stets an altrömischen Traditionen. Er setzte nicht nur politische Reformen im heutigen Sinne durch, sondern er leitete auch eine kultische Neuerweckung altrömischer Religionsformen ein. Man glaubte, dass die penible Einhaltung der kultischen Vorschriften eng mit der „Salus Publica", dem öffentlichen Heil und Wohl, verbunden sei.

    Notwendigerweise hatte diese kultische und kulturelle Rückbesinnung des Kaisers Auswirkungen auf andere religiös orientierte Gemeinschaften, die sich der römischen Staatsreligion nicht anpassen wollten oder konnten.

    Zuerst traf es die Manichäer, eine neu aufgekommene, synkretistische Gemeinschaft, die orientalische Kosmologien mit allerlei Mystizismus zu einem Konglomerat verbanden, das die Römer als staatsfeindlich, die Griechen als grenzenlos irrational und die Juden als ungehemmt gottlos empfinden mussten.

    Aber viele Christen - wie selbst der berühmte Kirchenvater Augustinus von Hippo - waren von den Manichäern sehr angezogen und hatten, wie eine „Jungendsünde, anfangs eine „manichäische Phase. Für die Römer, allemal für deren staatstragende Oberschicht, war das eine grosse Gefahr.

    Der religiös motivierte Reinigungswahn der römischen Oberschichten, oft gepaart mit einer pöbelhaften Gewalt des weitgehend verarmten Volkes, traf aber auch eine grosse Gruppe von Anhängern des so bekannten Mannes aus Galiläa, insbesondere diejenigen, die sich in der Nähe des Kaisers, also in Rom oder in den Palästen der Statthalter in den Provinzen, befanden oder dort arbeiteten.

    Ganz besonders hart traf es aber die oft ein wenig zurückgezogen lebenden Gemeinschaften dieser Christen, als ihre Oberen in den diokletianischen Verfolgungen oft grausam hingerichtet, ihre Kirchen geplündert, ihre Heime verbrannt und ihre Kinder und Frauen versklavt und missbraucht wurden.

    Ungemein schwierig war es aber auch für die Soldaten der römischen Armee, von denen viele sich zu dem zunächst aus römischer Sicht seltsam anmutenden monotheistischen Glauben der Christen bekehrt hatten. Nicht selten kam es dabei zu gegenseitigen Verleumdungen von Kameraden und Waffenbrüdern, die tags zuvor noch Seite an Seite gekämpft hatten.

    Es gab in der Armee geradezu einen Zwang zur Verleumdung und zum Verrat der „Staatsfeinde, als die Christen und Andere damals betrachtet wurden, und wenn er missachtet wurde, kam es oft zu einer drakonischen, terrorartigen Strafe, dem „Dezimieren:

    Die Legion wurde in Marschformation aufgestellt, man musste durchzählen und jeder Zehnte - egal ob schuldig oder nicht - wurde hingerichtet, bisweilen sofort und ohne Zögern. Ein Blutbad ohne Sinn und Ziel, einzig auf Terror bedacht.

    Und noch heute spricht man, wenn man ungezügeltes Ausdünnen von kämpfenden Truppen bezeichnen will, von „dezimieren", also jeden Zehnten wegnehmen.

    Und zu Zeiten der diokletianischen Verfolgung konnte das Verfahren im Extremfall mehrfach wiederholt werden: Immer wieder jeder Zehnte verlor sein Leben, und mit ihm verlor auch seine Familie ihre Existenz, ihre Vorsorge für das Alter und ihre sowieso nur bedingte Freiheit. Und so kamen auch die Tapfersten im Angesicht des sicheren Todes dazu, selbst ihre Kameraden zu verraten.

    Es muss in diesen Jahren gewesen sein, dass eine vorwiegend mit Afrikanern vom oberen Nil besetzte Legion am Oberlauf der Rhône den Befehl erhielt, die aufkommenden und nur schwer zu kontrollierenden quasi-autonomen - denn so hatte man sie empfunden - christlichen Strukturen am Lacus Lemanus und im Wallis zu zerstören. Man nannte sie die thebäische Legion, und sie war in Agaunum, dem heutigen St. Maurice d‘Agaune, stationiert.

    Als die Soldaten sich weigerten, gegen die christlichen Gruppen vorzugehen, wurden sie „dezimiert", und es traf - verkürzt gesagt - sehr bald die bis heute namentlich bekannten Anführer:

    Einen gewissen Mauritius, der - einer späteren Erzählung nach - nicht nur meinte, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen, sondern auch, er habe diesem Kaiser, der ihn nun töten wolle, sein ganzes Leben gedient mit seinem Leib. Nun weigere er sich aber, ihm mit seiner Seele zu dienen. Und er würde ihm ganz sicher nicht opfern, denn dies gebühre nur dem einen Gott im Himmel.

    Er und seine Genossen, von denen die Legende auch Namen überliefert hat, wurden ohne Zögern hingerichtet. Und wie an so vielen anderen Stellen auch, wurden in der Folge die ersten christlichen Gemeinden im heutigen Abendland auf dem Blut der Märtyrer, der „Zeugen", erbaut.

    Doch es vergingen nur wenige Jahre, und die Versprengten dieser - wie man eben sagte - aus Theben kommenden Schaar waren geflohen und hatten traditionell römische Orte erreicht wie Solothurn, das eine der schönsten Städte gerade der alten Provinz „Belgica" gewesen sein soll, wie eine dort noch heute vorhandene Inschrift bezeugt.

    Oder sie erreichten das schon von den ersten Alemannen bewohnte Zürich, wo sie eine neue Gemeinde gründeten, in der - wie man vermuten darf - keltische Helvetier und Rauriker zusammen mit gerade erst angekommenen alemannischen Familien Gottesdienst feierten. War es damals doch kaum mehr als eine Generation her, dass die Alemannen - nach jahrhundertelangen Wanderungen und Raubzügen - endgültig den oberen Rhein überschritten hatten.

    Am weitesten könnte, wenn die Legenden stimmen, aber die Gruppe der Versprengten gekommen sein, die sich dann vor den Toren der Colonia Ulpia Traiana, dem späteren Xanten am Niederrhein, fand.

    Auf jeden Fall war diese neue Religion, die Diokletian mit allen Mitteln zu bekämpfen suchte, gerade hier, nördlich der Alpen, nicht mehr aufzuhalten.

    Und spätestens als einer der Tetrarchen, der Caesar Konstantin, der das Reich rund ein Jahrzehnt von Augusta Treverorum, dem heutigen Trier aus regiert hatte, im Jahre 312 an der milvischen Brücke vor Rom im Zeichen des christlichen Gottes die wohl wichtigste Schlacht seines Lebens, und das noch auf eine sehr bemerkenswerte Weise, gewonnen hatte, gingen die Türen für die nicht-römischen Religionen im gesamten Imperium Romanum weit auf.

    Spät erst gelang es dann im Norden vor allem den fränkischen Königen, seit ungefähr 500 A.D. ein Königtum zu etablieren, das sich in so Manchem an den überbrachten römischen Vorbildern orientierte, im Kern jedoch in nordischer Weise katholisch war.

    Im Innern blieben aber die Völker des Nordens vielfach so etwas wie „rechtgläubige Heiden, die einen „arianisch wie die Goten oder Langobarden, die anderen „katholisch" wie die Franken oder schon früh die allererst in diesen Zeiten als Stamm entstehenden Baiuwaren.

    Manche aber, wie die Sachsen oder die Alemannen, waren noch viele Jahrhunderte lang „Andersgläubige: Sie praktizierten lange noch im Geheimen, im „Okkulten, ihre alten Riten und ihre oft ausgesprochen blutigen Opfer. Und sie wurden in den folgenden Jahrhunderten meist unter Zwang und dem Dahinschlachten von bisweilen Zigtausenden „missioniert". - Es war eine beidseits unselige Mischung von Motiven und Mitteln.

    Kirchliche und vor allem klösterliche Verwaltungen übernahmen in diesen ausgehenden Jahrhunderten des ersten Jahrtausends geradezu staatstragende Funktionen. Und so begann eine Durchmischung von staatlicher und kirchlicher Gewalt, die später in vielen Teilen des daraus erwachsenden Reiches eine Personalunion von geistlichen und weltlichen Würdenträgern und Mächtigen ermöglichte. Und niemand hatte ernstlich daran Anstoss genommen.

    Als dann die grossen Reiche unter den Karolingern zuerst entstanden und dann in West– Mittel– und Ost-Reich zerfielen, hatte sich in all diesen Ländern eine klösterliche Tradition etabliert, die - neben anderen Dingen - zumindest einer Minimalbildung der hauchdünnen, administrativ kompetenten Schichten ermöglichte.

    Und die „Latinitas, das Beherrschen des Lateinischen als Reichs– und Rechtssprache, wurde zu einer Grundbedingung der Möglichkeit, die so entstandenen Räume des Reiches, seine „Gaue und Grafschaften, zu verwalten.

    Es war aber, wie man sagt, „die Messe noch nicht gesungen". Die Völker waren noch lange nicht alle angekommen, das Land, wie wir es kennen, hatte sich noch nicht völlig entwickelt.

    Denn besonders seit dem Jahr 526 - es gab wahre Kältewellen, und Sommer, die nur schlechtere Winter waren, Menschen die an rätselvollen Krankheiten wie die Fliegen starben, und in Kleinasien gab es riesige Erdbeben, die Hundertausende von Toten an einem einzigen Tag forderten - hatten sich die Dinge mit einem Male geändert.

    Kalte und feuchte Zeiten waren es nämlich nach diesem Jahr 526 geworden, in den letzten Jahrhunderten des ersten Jahrtausends unserer Zeitrechnung.

    Und erst kurz vor dem Millenium, etwa zur Zeit der berühmten Schlacht auf dem Lechfeld gegen die ungarischen Reiterheere, veränderten sich die Wachstums- und Wetterbedingungen auf dem gesamten Kontinent: Alles wurde wärmer, auch etwas trockener und angenehmer. Und es war dauerhaft und berechenbar mild.

    Die Zahl der Menschen und Tieren explodierte in der Folge, und man begann nun auch die bislang völlig wilden und unbetretbaren Wälder und Gebirge zu besiedeln und bewohnen.

    Fast überall wuchs nun Wein, es gab ein riesiges Angebot an geschlagenem Holz, und am Niederrhein, und besonders in Köln, reiften die Feigen in den Gärten.

    Städte wurden gegründet, nicht nur Hunderte, sondern im Laufe der Zeit Tausende. Wälder und Berge wurden von „Waldfreien besiedelt. Und oft erhielten diese Kolonisten eine Art Rechtsstellung, wie sie Jahrhunderte zuvor ihre meist germanischen oder keltischen Vorfahren noch aus eigenem Stammesrecht gehabt hatten: Selbstverwaltung in einfachen Dingen, Erbrecht und zum Teil auch die Möglichkeit, Handel zu treiben, Geld eigener Münze zu erstellen, Märkte zu betreiben und später sogar wochenlange „Messen abzuhalten. Solche „Freiheit" war ein zentrales Thema.

    Doch wenig einheitlich waren diese Entwicklungen, und während einige Gegenden wie in einem Frühling aufkeimten, blieb in anderen einfach alles beim Alten.

    Und natürlich vergrösserten die selbständig oder sogar reichsunmittelbar Gewordenen ihre Städte und Regionen. Sie warben Fremde an, die sie berieten, und streckten ihre Fühler über Länder und Meere aus. Und so erhielt man Kunde von Mongolen und Asiaten, von Indern und Orientalen, und sogar von arabischen Gebräuchen.

    Spätestens in diesen Tagen wurde auch das obere Wallis, mitsamt seinen wilden Alpen und einsamen, abgrundtiefen Tälern besiedelt. Über die zum Teil sehr hohen Pässe waren sie nach Süden gekommen, die neuen, „alten" Siedler aus dem Stamm der Alemannen, über den Grimselpass oder den Lötschberg und die Gemmi.

    Und noch heute kann man ihre altdeutsch-alemannischen Dialekte am oberen und unteren Teil des frühen Laufs der Rhône danach unterscheiden, über welche Pässe sie damals gekommen sind.

    Doch diese neuen Siedler des übermächtig grossen Tales im Süden der Alpen sprachen noch nicht die heutige Sprache des Mittel– und Seenlandes, diesen weichen, verschliffenen, vielgestaltigen und fast verspielt-langsamen Dialekt, der zwischen der erst Ende des 12. Jahrhunderts entstandenen Stadt Bern und dem Thunersee gesprochen wird.

    Die noch heute so besonders anmutende, archaische Sprache der oberen Walliser deutscher Zunge bewahrt bis in unsere Tage Reste einer späten germanischen Ausdrucksweise, die aber alle Kundigen als „alemannisch und sogar allgemein als „deutsch einstufen. Diese Sprache ist damit Zeugin, und nicht einfach Relikt, einer prägenden Zeit der alpinen Nationen.

    Aus dieser Gruppe bäuerlicher, hoch kreativer und oft ein wenig unruhig wirkender Siedler stammt der junge Mann, der Mittelpunkt unserer Geschichte wird. Er wird hineingeboren in eine Welt kargsten Lebens aber - in bescheidenem Rahmen - höchster persönlicher Freiheiten. Er wird hineingeboren in eine sich umwälzende Welt, und nur durch scheinbaren Zufall fällt seine Geburt in das selbe Jahr, in dem in Mittelitalien ein konvertierter Kaufmannssohn in aufsehenerregender Weise seinen Tod geradezu zelebriert, während er zuvor der gesamten Christenheit in Europa und im vorderen Orient - denn man hatte Jerusalem und die Levante aus europäischer Sicht noch nicht „aufgegeben" damals - einen ungeheuren Impuls zur Erneuerung ihres Lebens und Glaubens verschafft hatte.

    Denn dieser Franziskus, wie sich dieser italienische Kaufmannssohn nannte, wird auch das Leben des jungen Mannes prägen, der 1226 A.D. als der Walliser Bergbauernsohn Marcus geboren wird und sich im Kloster von St. Maurice den Doppelnamen Carolus Paulus gibt.

    Es ist seine Geschichte, die wir hier erzählen. Das Leben des Carolus Paulus, die Vita Caroli Pauli.

    Doch tauchen wir doch einfach in die Geschichte ein...

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    Am Weihnachtsfest des Jahres 1246 beginnt Carolus Paulus in der Einsamkeit seiner Klosterzelle in der Walliser Ortschaft St. Maurice d‘Agaune mit den Aufzeichnungen seines Lebens. In aller Bescheidenheit, wie er betont, aber durchaus mit weltlichen und kirchlichen Vorbildern, die ihn beflügeln.

    „Vita Caroli Pauli, das „Leben des Carolus Paulus, nennt er seine tagebuchähnlichen Aufzeichnungen, die er seitdem betreibt. Doch grenzt er sich dabei sehr klar gegen die übermächtige Tradition der „Vita Caroli Magni", der Biografie des ebenso übermächtig-grossen Kaisers Karl ab, der schon vor vielen Jahrhunderten, aber exakt am selben Tag, am 25. Tag des Monats Dezember, damals im Jahre 800 A.D., in Rom zum Kaiser gekrönt worden war.

    Denn Carolus schreibt, wie er sagt, um sich selbst „Gewissheit über seinen Zustand zu verschaffen. Er schreibt, weil er sich „nicht vergessen will, sondern sich „seiner selbst erinnern möchte. Er spürt, dass dieses „Erinnern ihn auf seltsame Weise ausmacht, und dass er es nicht „kommenden Generationen" überlassen kann, über ihn zu schreiben: Er, Carolus, muss sich seiner selbst sicher werden. Sicher werden, indem er schreibt und mit Anderen - auch über sich selbst - spricht.

    So beginnt der junge Carolus genau die Serie autobiographischer Aufzeichnungen, die das Rückgrat all unserer Erzählungen über sein Leben abgeben wird. Daraus folgt auch:

    Er selbst hat in allen Dingen, die ihn betreffen, die weitreichendste Autorität. So oft es geht, kommt er deshalb selbst zu Wort.

    Zur gleichen Zeit, in der Carolus seine Aufzeichnungen über sich selbst beginnt, reift in dem jungen Burschen, der mit zwanzig Jahren schon Mönch und Priester ist, eine sehr weit reichende, wagemutige und grosse Idee. Eine Idee, die ihn in der Folge dann fast zwanghaft verfolgt und antreibt:

    Er will die Welt, aber besonders die Welt des Wissens und der Schulen, die es nun allenthalben im Reich gibt, er will diese ständig zu wachsen scheinende Welt selbst erkunden, sie mit eigenen Augen sehen und persönlich erleben.

    Instinktiv spürt Carolus, dass das, wofür er zunächst noch keine Worte findet, und was wir heute Bildung nennen, nicht nur nützlich ist für die Machtausübung einer „ministerialen", also administrativen oder kirchlichen Oberschicht, die er bereits in seiner näheren Umgebung im Wallis und am Lac Leman kennengelernt hat. Und die auch nicht alleine der frommen Selbsterhebung von Einsiedlern - oder eben auch Mönchen, wie er selbst einer ist - dienen sollte.

    Denn dieses Sich-Auskennen, dieses Formulieren-Können, diese gerne auch beredte Sachkenntnis, diese „Bildung eben, ist zu allererst eine notwendige Bedingung der Durchdringung der heiligen Schriften, die ihm so viel bedeuten, und ohne die es keinen „rechten Glauben gibt. Und, das scheint ihm das Wichtigste, dass diese Schriften, die sein Gott den Menschen gegeben hat, die Leitlinie ihres Lebens sein sollen.

    „Sie müssen alle das Wort hören, ja Lesen lernen, denkt Carolus sich also. In nahezu gleichem Masse ist diese „Bildung - wenn wir es nochmals mit unseren Worten sagen - aber auch Bedingung der Ausübung von Freiheiten der Menschen in „dem Reich", in dem Sacrum Imperium, wie es offiziell heisst. Das Reich, das er ebenfalls entdecken will. Und sicher ist dieses Sich-Auskennen in der Welt des Wissens auch unabdingbare Voraussetzung einer gewissen Selbstbestimmung von Bürgerschaften und von Individuen, in den stets wachsenden Städten und auf dem Land, und sei diese Selbstbestimmung durch die Verhältnisse vielleicht noch so eingeschränkt. Dies betrifft jedoch - fühlt Carolus - alle Stände, nicht nur die hohen, auch die niedrigen und damit auch die einfachen Leute.

    Und von der Theologie her denkt Carolus noch einen Schritt weiter: Der Glaube kommt aus dem Hören, darin folgt er Paulus, seinem inneren Vorbild, und besonders aus dem Hören des Wortes Gottes. Dieses Wort Gottes muss daher gelehrt werden.

    Doch zuvor muss es aber erkannt werden. Und um erkannt zu werden, muss man es lesen können. Und darin erhält er vom Kirchenvater Augustinus seine wesentlichen Anstösse, obwohl dieser bereits seit Hunderten von Jahren tot ist und Manche dessen Gedanken schon als antiquiert ansehen. Und aus einem noch ungeordneten Konvolut von Gefühlen, Gedanken, Impulsen und Abenteuerlust heraus will Carolus schliesslich das machen, was man später eine „Bildungsreise" nennt.

    Carolus glaubt sich jedoch persönlich am Ende, als - nach zähen inneren und äusseren Kämpfen - der Abt seines Klosters in St. Maurice, der ehrenwerte und schon fast greise Nantelmus, ihm seine eindringlich vorgetragene Bitte um Dispens für eine „Bildungsreise" im ausgehenden Frühjahr 1247 zunächst fast rüde verweigert.

    Doch dann wendet sich - völlig überraschend - der Lauf der Dinge. Und Carolus Paulus wird schlagartig geradezu zu einem Instrument eben jener Mächte, an denen er in gleichem Atemzug beginnt zu zweifeln, ja zu verzweifeln.

    Carolus Paulus wird Instrument der Investigation und Vorausplanung eines allerhöchsten Würdenträgers:

    Ausgerechnet er, der junge, unerfahrene aber auch unverbrauchte und widerstandsfähige Carolus, soll in einer mehrjährigen Reise „seinem" Abt die Vorlage für einen umfassenden Bericht an den Papst , an den Rechtsgelehrten Innozenz IV., liefern. Einen Bericht darüber, wie man das Schulwesen breiter ausbauen und die Universitäten - die just in diesem historischen Moment an manchen Orten entstehen - auch inhaltlich enger an die römische Kirche binden könne.

    Mehr verwirrt als vorbereitet macht sich Carolus Paulus daher am 22. April des Jahres 1247 zu Fuss auf die lange und gefährliche Reise, die ihn - nach einem von Nantelmus, dem Abt, vorbereiteten, wohlüberlegten Plan - durch den gesamten deutschsprachigen Teil des „Sacrum Imperium", des Heiligen Reiches, führen soll.

    Mühsam erinnert er sich während der einzelnen Phasen seiner Wanderung noch an die eindrücklichen Themen der Fastensonntage, die seiner Berufung zu dieser übergross erscheinenden Aufgabe unmittelbar vorausgehen. Doch diese Themen der Fastensonntage werden zu einem „Leitmotiv" seiner Wanderungen, und sie begleiten ihn - innerlich, aber erstaunlicher Weise auch äusserlich - in viel tieferer Weise als er anfänglich angenommen hatte.

    Und so werden ihm die Titel, Themen und Impulse dieser Sonntage im vierzigtägigen vorösterlichen Fasten über die kommenden Jahre stets präsent bleiben. Und diese Sonntage wurden seit alters her wie folgt bezeichnet:

    INVOCABIT

    „Er wird mich anrufen…" - Der erste Sonntag mit der grossen Verheissung, aus Bedrückung gerettet zu werden.

    REMINISCERE

    „Erinnere Dich, Herr, Deiner Güte… - Der zweite Sonntag mit dem Anruf Gottes als eines erbarmenden Helfers, der denkt, ja geradezu fühlt, und der sich in der Tat auch „erinnert.

    OCULI

    „Meine Augen sehen stets auf den Herrn… - Der dritte Sonntag, in dem ein Konflikt vorausgeahnt wird zwischen der gottgewollten Freude an allem Irdischen und einer noch mehr geahnten als bereits realen „Freude an Gott.

    LAETARE

    „Freuet Euch mit Jerusalem… - Der vierte Sonntag, an dem eine Art endzeitlicher Vision des Propheten Jesaja gelesen wurde. Und an dem es „um Jerusalem geht. Was das heissen soll, muss Carolus erst noch ergründen, aber es wird bedeutungsvoll werden...

    JUDICA

    „Richte mich, Herr, und führe meine Sache… - Der fünfte Sonntag, an dem es in tiefer Weise um Rechtfertigung geht, einem der grossen Themen des Apostels Paulus - und einem der grossen Themen der Schrift überhaupt. Es geht um „Schuld und Sühne.

    Und spätestens in diesem Teil der Reise wird klar werden, warum sich Carolus mit zweitem Namen nach dem wortgewaltigen Apostel benannt: Dieser Paulus wird ihm zu einem der wichtigsten Vorbilder überhaupt werden.

    PALMARUM

    „Der Sonntag der Palmen - Der sechste Sonntag, den Carolus für sich selbst später „HOSIANNA nennen wird. Die Herrschaft eines Königs soll hier gefeiert, dieser König soll „gelobt" werden. Und - in der Tat -Carolus wird einen König kennenlernen...

    Und schliesslich, schon nach dem Ende der Fastenzeit feiert man

    TEMPUS PASCHALIS

    die „Osterzeit", die Carolus in griechischer Sprache, nach deren Kerngeschehen benennen wird: ANASTASIS. Die Auferstehung.

    An all das erinnert sich Carolus Paulus anfangs - buchstäblich - fast „flüchtig", nicht nur als er St. Maurice am 22. April 1247 A.D. verlässt, sondern während seiner gesamten, vor ihm liegenden Reise.

    Und wir haben die Ereignisse seiner ersten Monate, die „INITIA - Zeit der Anfänge", in gebührender Genauigkeit mit vielen Details zusammengefasst bereits an anderer Stelle dargestellt.

    Doch daraus, aus all den anfänglichen Triebkräften und Themen, aus all diesen prägenden Worten und Gedanken, wird der Stoff erwachsen, der seinen frühen Jahren Form und Inhalt gibt.

    Denn der kleine, grosse Bub Marcus, der er einmal war, und der -durchaus schon ein klein wenig gereift - als Mönch jetzt Carolus Paulus heisst, weiss nicht, dass er sich ab dem Tag seiner Abreise im April 1247 auf einer Reise befindet, die sein Leben ein für allemal verändern wird. Sein Ganzes.

    Wir begleiten ihn hier anhand seiner eigenen Tagebuchaufzeichnungen, die er - so gut er konnte - an den verschiedenen Stationen, nach vielen „Miles, Mansiones et Mutationes, nach „Meilen, Herbergen und Pferdewechselstationen, gemacht hat.

    P

    ROFECTIONES

    D

    IE

    A

    UFBRÜCHE

    DER NEUE TAG

    „Oh hello, my good friend, and good morning! Did you have a good night?"

    „Sei gegrüsst, mein guter Freund, und einen guten Morgen! Hattest Du eine gute Nacht?

    Es waren seltsame Klänge, die Carolus hörte, als er sich - noch vor Tagesanbruch - zwischen die Pilger mischte, die sich zum Morgenessen im eigens für Durchreisende eingerichteten Refektorium des Klosters St. Maurice, vor dem Port du Valais, am Unterlauf der Rhône, versammelt hatten.

    Und gerade hatte wohl einer von ihnen einen Mitreisenden begrüsst, und Carolus schien, als hätte der Fremde ihm selbst einen guten Morgen gewünscht, so herzlich war der Gruss.

    „Es muss Englisch sein", dachte Carolus, und fast wäre er an den Pilgern achtlos vorübergegangen. Denn unterhalten konnte er sich mit Engländern nicht, er hatte deren Sprache ja nie gelernt. Und Carolus wollte keinesfalls einen oder mehrere Tage lang mit Menschen unterwegs sein, mit denen er - wenn überhaupt - nur erschwert Konversation betreiben konnte.

    Etwas verkrampft suchte er deshalb - als bequemere Alternative - irgendwelche Franzosen oder Italiener, die er hätte begleiten können, und halblaut rief er in die noch verschlafene morgendliche Runde:

    „Il y a quelq‘un de parler Francais?" -

    „Ce qualq‘uno di parlare Italiano?"

    Aussichtslos. Es fanden sich - ausser einigen Deutschen, die ihn wegen seiner aufgeregt zur Schau getragenen Dringlichkeit, nur verspotteten - lediglich Engländer an diesem Morgen. Und so sprach er die Engländer an… freiweg auf Deutsch. Es war ein Versuch. Er fragte sie mit einem etwas peinlich wirkenden Ausdruck auf seinem Gesicht schlicht und einfach, ob sie ihn oder er sie - das sei eigentlich egal, von welcher Richtung aus man das sehen würde - nach Martigny begleiten könnte.

    „We frankly don‘t understand much of what you are saying, but I suppose you were asking us, whether or not we would be going to Martigny today…

    … and I may confirm, we would be most delighted to welcome you in our company, should you wish to do so."

    „Wir verstehen offen gesstanden nicht viel, von dem, was Du uns gesagt hast, aber ich vermute, Du hast uns gefragt, ob wir heute nach Martigny gehen…

    … Und ich darf versichern: Wir wären sehr erfreut, Dich bei uns zu haben, auf diesem Weg, wenn Du dies möchtest".

    Carolus war verblüfft: Es war dem Ältesten von ihnen, der ihm da gerade geantwortet hatte, seinerseits nun gar nicht peinlich, dass er ihn, Carolus, nicht verstand. Im Gegenteil, er lachte und lud ihn mit einer gross angelegten Geste ein, sich neben ihn auf seine Bank zu setzen, damit sie die Unterhaltung fortsetzen könnten. Carolus welkte innerlich vor Unsicherheit.

    Er hatte es eigentlich eilig, denn er wollte, nein er musste, sich ja noch vom Abt und den Brüdern im Konvent verabschieden. Und sicher warteten die Brüder Cyrille und Thomasius schon auf ihn. Aber er setzte sich. Für einen Moment nur, dachte er.

    „We came from Canterbury, England, you must realize! Canterbury, do you know the city?"

    Und wortreich, aber ungemein freundlich fuhr ihr offensichtlicher Anführer fort, sie hätten eine zweijährige Pilgerfahrt mit dem Segen des dortigen Bischofs von Canterbury unternommen und seien nun auf dem Weg nach Rom. Sie hofften nun, dass der Pass hinter Martigny frei und begehbar sei.

    Als Carolus „Martigny" hörte, hatte er wieder einen Anknüpfungspunkt in dem Redefluss des schon ergrauten und betagten Pilgers. Kurz entschlossen versuchte er, irgendwie den Eindruck zu erwecken, er sei ein sehr erfahrener Führer für Fremde, und er verdolmetschte sich in einer deutsch-französisch-lateinischen Mischung aus Vokabeln, gängigen Phrasen und wilden Handbewegungen. Und - was auch wirklich stimmte - er kenne die Berge.

    Als ein helles Leuchten auf dem Gesicht des freundlichen Engländers aufstrahlte, bedeutete er ihm aber, auf jeden Fall zu warten - „Attendez! Attendez ici!" - , und, zu seinem Erstaunen, wurde er diesmal von den Engändern tatsächlich verstanden.

    Carolus eilte zu Nantelmus. Der Abt, der ihn zuvor wochenlang fast gedemütigt hatte, verabschiedete ihn nun fast warmherzig und mit insistierenden Worten von erheblichem Nachdruck:

    „Nicht ich, Carolus, habe Dich gesandt, sondern es war ein Höherer.

    Und Du magst denken, ja, der Heilige Vater war das. Aber es war noch ein weitaus Höherer als selbst der Papst. Und, er - der Höchste - wird Dich begleiten, der wird Dich führen, und er wird Dich - so meine Hoffnung - wiederbringen.

    Sei Gott befohlen!"

    Carolus dankte Nantelmus, eilte zum Prior und dann wenigstens noch kurz zu den älteren Brüdern, die so herzlich an seiner abschliessenden Segnung am Sonntag vor der Abreise teilgenommen hatten– Und schliesslich wechselte er noch ein paar - erneut scherzende -Worte mit Thomasius.

    Der stets Besorgte und mit tausend

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