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Ich wollte doch bloß nicht Bärchen heißen: Band 1: Kopfsprung
Ich wollte doch bloß nicht Bärchen heißen: Band 1: Kopfsprung
Ich wollte doch bloß nicht Bärchen heißen: Band 1: Kopfsprung
eBook560 Seiten7 Stunden

Ich wollte doch bloß nicht Bärchen heißen: Band 1: Kopfsprung

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Über dieses E-Book

Marc Schlesinger, erfolgreicher internationaler Dolmetscher, trifft auf die junge Anna Becker. Während er die Zeichen der Zeit in seiner langjährigen Ehe verdrängt, kommen sich die beiden näher. Marc lernt Annas bisherige Welt aus Enttäuschungen, Sehnsucht und Zwängen kennen und will ihr zeigen, dass es auch anders geht. Sie verlieben sich ineinander. Doch nach wenigen Monaten bemerkt Marc Differenzen zwischen den beiden, die über das normale Maß hinausgehen. Er stellt sich der Aufgabe und spürt fast zu spät, welch übermächtigem Feind er da entgegentritt. Eine Liebe in Zeiten des Web 2.0, Messenger und Beziehungsproblemen der modernen Zeit. Der Narzissmus hat längst Einzug gehalten. Erfahren Sie anhand eines Romans, wie soziale Netzwerke und Chatprogramme die Kultur der Kommunikation sowie die Beziehungswelt verändern.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum29. Juli 2013
ISBN9783849551803
Ich wollte doch bloß nicht Bärchen heißen: Band 1: Kopfsprung

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    Buchvorschau

    Ich wollte doch bloß nicht Bärchen heißen - Ralf Ahmann

    „I wish i knew then, what i know now,

    wouldn’t dive in, wouldn’t bow down,

    gravity hurts, you made it so sweet

    until I woke up on the concrete."

    (Katy Perry, Wide Awake)

    Kapitel 1

    Ficken

    Im Juli 2012, Gewicht 82 kg

    D

    ies ist eine Warnung. An Sie alle. Nehmen Sie es nicht als Scherz, denn das ist es weiß Gott nicht. Sie sind da draußen. Sie leben. Sie atmen. Sie saugen anderen Menschen die Energie aus. Ich habe es gesehen, und ich habe es erlebt. Wen ich meine?

    Narzissten. Jene unvergleichlichen Zeitgenossen, die, marodierenden Horden gleich, plündernd und mordend durch die Beziehungslandschaft ziehen. Sozusagen die „Freibeuter der Beziehungskiste", und das erbeutete Gut sind die Zuneigung und die Selbstachtung des ausgebeuteten Partners. Wenn die Horde dann irgendwann weiterzieht, bleibt der zerstörte, selbstzweifelnde und ausgenutzte Partner zurück wie Treibgut nach einer Enterung.

    Mein Name ist Marc Schlesinger. Ich bin achtunddreißig Jahre alt. Und ich bin krank.

    Woran ich leide? Nun ja, um das zu erklären, benötige ich ein wenig von Ihrer Zeit. Fürs Erste reicht es, wenn Sie wissen, dass ich verliebt bin. Und das ist auch schon, wie man so sagt, des Pudels Kern. Denn ich musste erkennen, dass diese Liebe nicht gesund ist. Mehr noch, sie ist falsch, fehlgeleitet und über die Maßen destruktiv. Diese Liebe brachte mich dazu, mich selbst fast bis auf die Grundmauern zu zerstören. Denn ich habe die Realität aus den Augen verloren, mich selbst verloren in dieser Spirale aus Sehnsucht, Verlangen und Verlust. Und bis ich das erkannt hatte, war es schon fast zu spät.

    Nun werden Sie vielleicht sagen: Mein Gott, dann ist er halt verliebt. Es hat nicht funktioniert, Schwamm drüber. Man hat nicht zusammengepasst, so ist das Leben. Aber so einfach ist es nicht, und ich werde mich bis zum letzten Atemzug mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen wehren, wenn irgendjemand das so einfach abtun will. Denn dies ist die Geschichte von perfiden Zusammenhängen mit fast schon taktisch anmutenden Schachzügen, von gestörten Persönlichkeiten und absoluter Orientierungslosigkeit. Sie erzählt vom Rausch einer schon perversen magnetischen Anziehung zwischen zwei Menschen. So wunderschön und gleichzeitig so hässlich wie die Fratze des Teufels, und gerade diese Dualität ist es, die mich auch heute noch bis ins Mark erschüttert. Denn wenn sie, das Objekt meiner Begierde, mich heute noch kontaktiert oder ich auch nur annähernd Gefahr laufe, ihr zu begegnen, dann fangen meine Hände an zu zittern, und in mir beginnt sich der Strudel aus Schmerz, Sehnsucht und Hoffnungslosigkeit aufs Neue zu drehen.

    „Hinfallen ist keine Schande, Junge. Aber Liegenbleiben." Das gab mir mein Vater, Gott hab ihn selig, mit auf den Weg, als ich mit vierzehn Jahren eine Ehrenrunde in der Schule drehen musste. Doch hätte ich damals gewusst, wie wichtig diese Erkenntnis einmal in meinem Leben sein würde, ich wäre trotzdem das Wagnis eingegangen, welches die vergangenen zwei Jahre meines Lebens bestimmt hat. Denn es begann, wie große Romane beginnen. Mit dem zarten Kennenlernen, mit unzähligen Nachrichten und Liebesschwüren. Es verdichtete sich zu unfassbarer Leidenschaft, grenzte an Verschmelzung und explodierte in brutalster Ablehnung. Doch als sei das nicht genug, wiederholte sich dieser Kreislauf von Annäherung, Fusion und Trennung wieder und wieder, bis eben jene Schönheit und Unschuld der Liebe sich in eine ekelhafte Fratze verwandelte, und die Geschichte an sich zur völligen Parodie ihrer Selbst verkam. Wenn Er so unfassbar verliebt ist und Sie ihn nur will, wenn sie ihn nicht haben kann, dann wird es nicht nur kompliziert, sondern irgendwann richtig schmerzhaft. Wie kann ich es noch erklären?

    Nehmen wir an, ein Paar ist frisch verliebt. Sie ist einfach zauberhaft, liebens- und schützenswert und vermittelt ihm den Eindruck, dass sie bisher in Beziehungen stets nur schlecht behandelt wurde. Ein scheues, junges Reh, bei dessen Anblick allein schon sein Herz in Flammen steht. Und was tut er? Mit der rosaroten Brille auf der Nase wird er natürlich alles tun, um diesem vom Leben gepeinigten Wesen in Zukunft zu zeigen, wie schön es sein kann. Er macht ihr den Hof, verwöhnt sie, ist gut zu ihr. Weil er nicht anders kann. Weil er so ist, wie er ist. Der Ritter auf dem weißen Pferd.

    Wenn sie dann urplötzlich aus unerklärlichen Gründen aggressiv und eiskalt wird, macht er einen Rückzieher, bevor es zu sehr schmerzt. Und jetzt beginnt das Gefährliche: kaum ist er weg, setzt sie Himmel und Hölle in Bewegung, um ihn zurück zu gewinnen. Sie tut alles, verspricht alles, schwört alles. Sie ist wieder das verletzte kleine Mädchen, und sie braucht ihn als weißen Ritter, fleht ihn an wiederzukommen. Bis er zurückkehrt, weil er ihr glaubt. Weil er denkt und hofft, dass es wirklich nur ein Fehler war. Wenige Wochen bleibt er in dem Glauben. Bis sie das gleiche Verhalten wieder an den Tag legt. Sie behandelt ihn mit einer Eiseskälte, die ihm völlig unfassbar erscheint, mehr noch, sie flirtet mit anderen, beleidigt und beschimpft ihn auf das Übelste. Bis er wieder Reißaus nimmt, weil er es nicht mehr aushält und erst recht nicht versteht. Er will sie doch nur lieben. Und wieder beginnt der Reigen von vorne: Verlockung, Flehen, Rückkehr, relative Ruhe, bis es nach kurzer Zeit wieder knallt. Doch er ist so grenzenlos verliebt, dass er ihr immer wieder glaubt. Immer und immer wieder. Bis er keinen Ausweg mehr findet aus dieser Spirale. Weil er auf Teufel komm raus schaffen will, was doch nicht zu schaffen ist. Er erniedrigt sich selbst, um ihre Zuneigung zu erlangen. Und als ob das noch nicht genug sei, setzt sie dem Ganzen noch die Krone auf, indem sie ihn Glauben macht, es sei alles sein Fehler. Es interessiert sie nur, DASS er weggegangen ist. Kein Wort davon, WARUM er ging. Denn das würde ihr Verhalten spiegeln, und das ist das Letzte, was sie will. Und sie ist so überzeugend, dass er nach kürzester Zeit wirklich glaubt, dass es sein Fehler sei.

    Mein Name ist Marc Schlesinger. So erging es mir.

    Und das auf Kosten von all dem, was mir ein Leben lang lieb und heilig gewesen war. Die Gründe hierfür sind mannigfaltig, finden jedoch ausnahmslos ihren Ursprung in zwei Begebenheiten: in der alles verzehrenden Zuneigung zu einer Frau sowie meiner Unfähigkeit, in dieser ganzen Geschichte die Realität zu akzeptieren. Und wenn ich „alles verzehrend" sage, meine ich es so, wie es ist.

    Ich habe die Frau verlassen. Zum Glück, wie ich mittlerweile weiß, doch das macht es nicht besser. Denn wenn man trotz aller Bemühungen und Opfer hilflos mitansehen muss, wie ein geliebter Mensch an seinem eigenen Wesen zerbricht, dann ist das das Verstörendste, was es gibt. Ich habe Freunde belogen und betrogen, um mein Ziel verfolgen zu können. Ich habe meine Selbstachtung verloren, bis auf einen kümmerlichen Rest. Und der reicht gerade noch aus, um den Selbsterhaltungstrieb aufrechtzuerhalten, zumindest für die meiste Zeit des Tages. Alles verloren.

    Aber ich habe mich selbst wiedergefunden. Und auch wenn ich beim Blick in den Spiegel nur noch kümmerliche Reste meines alten Ich entdecke, so ist doch Eines noch da: dieses Leuchten, dieses Glühen in meinem Innersten, welches mich schon mein ganzes Leben lang dazu veranlasst hat, Dinge zu schaffen, von denen ich selbst nicht glaubte, dass ich dazu fähig sei.

    Und darum ist dies meine Geschichte. Schon komisch, wie ich das Wort „meine" in Gedanken groß schreibe, fett und unterstrichen. Und es hat seine Richtigkeit, drehten sich doch die meisten Dinge, die ich in den vergangenen Monaten unternahm, beinahe ausnahmslos nur um eine andere Person. Doch jetzt ist die Zeit gekommen, sich wieder um mich zu kümmern, und ich glaube ich habe es mir verdient.

    Meine Geschichte handelt, wie so viele andere, von Liebe, Schmerz, Sex und Hoffnung. Dies ist ebenfalls eine Geschichte der „neuen Medien". Jenen vermeintlich so vorteilhaften technischen Errungenschaften des Web 2.0 in Form von sozialen Netzwerken und Messengerprogrammen. Sie versprechen uns eine Revolution der Kommunikation. Gleichzeitig sorgen sie dafür, dass eben jene Kommunikation sich durch die ständige Erreichbarkeit nur noch in Worthülsen und Selbstpräsentation verliert. Reden beziehungsweise Schreiben wird zum Selbstzweck. Liebesschwüre, Digitalgekuschel, Partnerersatz. Gleichzeitig paranoides Kontrollwerkzeug des Onlinestatus, Fremdgeh-Hilfe, Fluchthelfer aus der Realität. Man erhofft sich im sozialen Netzwerk die Bestätigung, die man im realen Leben nicht ausreichend bekommt. Soviel bis hierhin.

    Es ist gegen Mittag, und ich passiere gerade auf der Autobahn die Frankfurter Skyline. Der Wagen kullert vor sich hin, ich rauche und sinniere über die vergangenen Wochen und Monate. Ich bin auf dem Weg zu einem Kunden im Süden Deutschlands. Wenn man mich fragt, was ich beruflich tue, antworte ich meist mit einem Scherz: Ich kann in sieben Sprachen bestellen. In Wahrheit konnte ich fünf Sprachen fließend sprechen und schreiben und verdingte mich als freiberuflicher Dolmetscher und Übersetzer. Ich war seit vierzehn Jahren darin tätig und hatte mittlerweile eine bundesweite Klientel, die mich rief, wenn es um besondere Schriftstücke, literaturgetreue Übersetzung oder Simultandolmetschen ging.

    Meine Vorfahren waren vor langer Zeit aus Frankreich in den französischen Teil Belgiens übergesiedelt, und so ergab es sich, dass wir, mein Bruder und ich, dreisprachig aufwuchsen. Französisch durch die Mutter, Deutsch durch den Vater, und Flämisch schnappte man durch die Nähe zum anderssprachigen Teil Belgiens auf. Somit hatte ich diese drei Sprachen schon mal per se auf der Pfanne. Der Rest ergab sich durch Studien und Kurse.

    Der größte Teil der französischen Seite unserer Familie war schon länger ausgestorben, lediglich ein oder zwei Onkels x-ten Grades existierten noch irgendwo, jedoch ohne Kontakt.

    Vom deutschen Part gab es auch nur noch meinen Bruder und mich. Unsere Eltern waren vor Jahren bei einem Unfall verstorben, und zu Onkels und Tanten hatte man lockeren Kontakt.

    Als ich im Rückspiegel einen Blick auf mein Antlitz erhasche, lässt allein schon mein momentaner äusserlicher Zustand für jeden Betrachter die Vermutung zu, dass die letzte Zeit nicht sonderlich entzückend gewesen sein kann.

    Eingefallene Wangen, müde Augen, unrasiert. Der Grund: Ich esse kaum, rauche zu viel und finde so gut wie keinen Schlaf. Meine Klamotten schlabbern am Körper, denn ich habe seit Beginn dieser Geschichte vor lauter Kummer mittlerweile mehr als zwanzig Kilo verloren. Leute haben mich bereits gefragt, ob ich Krebs hätte. Frau Dr. Ladwig, meine burschikose aber sympathische Hausärztin, hat es zum Glück bereits ausgeschlossen. Mein „Krebs" ist anderer Natur. Er hat rote Haare, graue Augen, die Figur eines Topmodels und ist in der Lage, einem sämtliche Energie auszusaugen. Doch ich will nicht vorweggreifen. Mir bleibt der Appetit weg, wenn es mir nicht gut geht. Zu sehr belastet mich das Vergangene, zu sehr bin ich momentan noch in meiner Gefühlswelt gefangen. Wie die aussieht?

    Lassen Sie uns ein kleines Experiment wagen, das ist effektiv. Schenken Sie mir Ihr Vertrauen und stellen Sie sich bitte intensiv die folgenden Dinge vor:

    Denken Sie bitte an Ihren Lebensgefährten/Ihre Lebensgefährtin. Konzentrieren Sie sich bitte auf das warme, angenehme Gefühl der Zuneigung, welches sich dabei hoffentlich einstellt.

    Sind Sie soweit?

    Erinnern Sie sich bitte, wie Sie sich kennen gelernt haben. Welchen Aufwand Sie betrieben haben, um das Herz des Anderen zu gewinnen. Das erste Date, der erste Spaziergang, ein gemeinsames Abendessen. Denken Sie an die berauschende Faszination des ersten Kusses. Spüren Sie die Erlebnisse der ersten gemeinsamen Nacht, wenn man sich geliebt hat und danach Arm in Arm aneinandergekuschelt im Bett liegt, losgelöst, befriedigt und wunschlos glücklich…

    Befinden Sie sich gerade in der Situation?

    Dann stellen Sie sich bitte jetzt vor, dass sich Ihr Lebensgefährte/Ihre Lebensgefährtin den größten Teil der vergangenen achtundvierzig Stunden mit einem anderen Menschen durch die Laken gewälzt hat. Haut an Haut, verschwitzt und ineinander steckend, „Oh mein Gott!" stöhnend und völlig versunken in das gemeinsame Treiben. Stellen Sie sich vor, wie der vormals eigene Partner kommt, vielleicht sogar mehrmals, durch Hände, Zunge oder Geschlechtsteil eines anderen Menschen. Beschmutzt und entweiht durch Handlungen, die vormals Ihnen beiden vorbehalten waren.

    Ist das immer noch schön? Nein?

    Herzlich Willkommen im Club.

    Sie fragen sich, woher ich das weiß? Exakt wissen tue ich es nicht. Gleichzeitig kenne ich meine Freundin (oder besser gesagt, Ex-Freundin) Anna und ihre Anwandlungen sehr gut, und gewisse Anzeichen der letzten Tage nach der Trennung lassen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit darauf schließen, dass sie innerhalb der letzten zwei Tage mit einem anderen Sex hatte. Denn Anna kann nicht alleine sein, das ist das Schlimmste für sie. Und deshalb muss so schnell wie möglich ein neuer Spielball her, der ihr die Bestätigung gibt, die sie braucht wie die Luft zum Atmen. Denn was ihr im Innersten an Selbstgefühl und Selbstwert fehlt, das holt sie sich von außen. Ich habe es selbst lange genug erlebt, denn ich war lange Zeit ihr Spielzeug. Und deshalb weiß ich mich Sicherheit, dass sie mit jemandem im Bett war. Oder sagen wir eher, gefickt hat.

    Denn das war immer ihr Wort dafür, egal in welcher Situation. Nicht miteinander schlafen, nicht das dem Englischen entlehnte, romantische „Liebe machen oder eventuell mal „Vögeln. Nein, Ficken, das ist Annas Wort dafür, und es ist bezeichnend für die Art und Weise, wie sie sich im Bett verhält. Oder eher noch „gefickt werden", denn was sie für sonstige Dinge im Alltag an Energie aufbietet, das fehlt ihr grundsätzlich im Bett. Passiver kann es nicht sein.

    Verstehen Sie mich nicht falsch: Lust auf Sex hat sie. Allerdings muss man da sehr stark unterscheiden. Sex mit anderen findet in ihrem Kopf mit schöner Regelmäßigkeit statt. Sie flirtet dauernd und dauerhaft mit etlichen Vertretern des männlichen Geschlechts, vermittelt Hinz und Kunz den Eindruck, ihn sexuell attraktiv zu finden. Was jedoch die eigentliche Ausführung innerhalb der Beziehung anbelangt, findet es selten bis gar nicht statt, obwohl sie häufig darüber redet und gerne Anzüglichkeiten von sich gibt. Gerne geilt sie den Partner auch tagsüber grenzenlos auf, doch wenn er dann des Abends den Worten Taten folgen lassen will, ist es Essig mit der körperlichen Zweisamkeit. Sie wechselt ihre Ansichten zu diesem Thema schneller als die Unterwäsche, oft mehrfach am Tag. Und wenn der angeheizte Partner (in dem Falle ich), angeheizt durch ihr Verhalten, abends dann emotional und aktiv auf ein erotisches Stelldichein zusteuert, dann will er auf einmal „ständig Sex oder sie „immer nur ins Bett kriegen… Kennen Sie den Unterschied zwischen „immer und „nie? Das hat schon Bandbreite. Doch kehren wir zurück zu ihrem Lieblingswort.

    „Miteinander schlafen, das ist Zärtlichkeit, das ist Hingabe und grenzenlose Zweisamkeit im Augenblick des Aktes. „Vögeln bezeichnet landläufig ziemlich genau den gemütlichen Sonntagnachmittags-Geschlechtsverkehr, wenn man sich Zeit für geile Schweinereien nehmen kann. Kein Stress, keine Hektik, Vögeln eben.

    Aber „Ficken?"

    Ficken ist pure Bedürfnisbefriedigung, pornomäßiges Rumgestochere ohne zwischenmenschliche Emotionen. Kann auch mal sehr befriedigend und wünschenswert sein. Hat aber auf Dauer in einer Zweierbeziehung mit Liebe und gegenseitiger Achtung eher einen geringeren Anteil am Sexualleben. Zudem empfinde ich es so, dass das Bezeichnen der Summe aller erotischen Erlebnisse zwischen zwei Menschen mit dem Wort „Ficken" alles in einen Topf wirft und meines Erachtens abwertet.

    Und Anna benutzt es gerne, dieses Wort. Oh ja, manchmal mit einer solchen Hingabe, dass es einem die Sprache verschlägt. Nicht, weil es so geil ist, wenn sie es sagt, sondern weil es in Situationen ausgesprochen wird, bei denen sie als ein Mensch, der sich sonst selbst als extrem verschämt und zurückhaltend bezeichnet, eigentlich die Klappe halten müsste. Besteigt ihre Jack-Russel-Hündin „Gina vor lauter überschwänglicher Freude oder tiersozialen Beweggründen den Hofkater, so wird dieser dann nicht lustigerweise „gerammelt, wie es jeder nennen würde, sondern „gefickt. Auch in Anwesenheit ihrer Mutter oder ihres Vaters, beide recht religiös und gesittet, ist es immer nur „gefickt. Nicht „Poppen, nicht „Rammeln, nicht „Knödeln oder „Vernaschen, nein, „Ficken muss es sein. Ich glaube, selbst wenn Ernie und Bert in der Sesamstrasse einen Ringkampf austragen würden, würde sie begeistert rufen: „Schau, der Ernie fickt den Bert!

    Warum mich das so ärgert? Weil sie damit ein Bild von sich zur Schau stellt, dem sie ansonsten nicht im Geringsten gerecht wird. Zumindest nicht innerhalb einer Beziehung. Und weil sie mich, neben anderen Winkelzügen, eben auch mit jener scheinbaren sexuellen Offenheit anfänglich gefangen genommen hat. Was Sex (oder eben Ficken) angeht, so hat sie eine Riesenklappe. Wenn Sie jetzt noch dazu erfahren, dass sie mit Hilfe des Sex und anderer Verhaltensweisen gerade in unseren ersten Wochen mein Ego so dermaßen gepusht hat, um mich danach in den kommenden Monaten der Beziehung nur umso tiefer fallen zu lassen, dann wissen Sie, wieso ich so viel Aufhebens darum mache. Aber halt.

    Es rutscht zu sehr ins Sexuelle ab, und es dabei zu belassen wäre zu einfach. Denn die körperliche Ebene war nur eine der Varianten, mit denen Anna mich in den vergangenen Monaten manipuliert hat. Denn Anna ist krank.

    Nach einigen Monaten dieser „Komm-her-Geh-weg"-Beziehung begann sich bei Anna ein Verhaltensmuster herauszukristallisieren. Sie eroberte mich, hielt es ein paar Tage durch und liess mich dann wieder fallen. Wurde eiskalt, schob mich weg, beleidigte mich. Wenn ich dann aus Schmerz, Verzweiflung und Unverständnis das Weite suchte, kannte ihre Mobilmachung keine Grenzen. Sie nutzte grenzenlose Liebesschwüre, Eifersucht, Schuldgefühle und schlussendlich Sex, um mich wieder heranzuholen. War ich wieder da, voller Hoffnung und Glücksgefühle, begann der Reigen nach kurzer Zeit wieder von vorne. Und ich machte mit.

    Weil ich Anna ehrlich und aufrichtig liebe. Weil ich mittlerweile erkannt hatte, woran sie litt, und bis zuletzt versuchte, sie zur Erkenntnis und zum Kampf gegen die vermutete Störung zu bewegen. Aber bis ich erkannt hatte, warum sie sich so verhielt, waren bereits Monate vergangen, und ich war so dermaßen verstrickt in dieses ganze Geflecht, dass ich keinen Ausweg mehr fand.

    Diese vermutete Störung heißt Narzissmus. Ob Anna nun grundlegend narzisstische Wesenszüge trägt oder aber an einer kompletten Störung leidet, kann ich mangels psychologischer Ausbildung nicht sagen. Aber dass sie darunter leidet, ist meines Erachtens leicht zu beweisen.

    Stellen Sie sich vor, Ihre Partnerin himmelt Sie in den ersten Wochen einer Beziehung täglich so dermaßen intensiv und nachhaltig wegen ihrer charmanten Art, ihrer Ritterlichkeit und Männlichkeit an, dass Sie sich schon nach kürzester Zeit gottgleich vorkommen müssen. Die Partnerin macht Ihnen diesbezüglich die wildesten Komplimente in Wort- und Schriftform, nutzt häufig und ausgiebig Ihre Fähigkeiten und schwärmt sogar vor anderen davon. Alles im Superlativ. Wenn ihre Partnerin dann auch noch über die Maßen attraktiv und höchst begehrt ist beim anderen Geschlecht, dann können Sie mir glauben, dann wird Ihr Ego dadurch so dermaßen aufgeblasen, dass Sie kurz vor der Allmachtsphantasie stehen. Sie fühlen sich über die Maßen bestätigt in Ihrem Tun und gehen davon aus, dass die neue Partnerin auch in Zukunft weidlich davon schwärmen und Gebrauch machen wird. Kein Wunder, bei ihrer Begeisterung, die wirklich grenzenlos ist! Eigentlich hervorragende Aussichten für eine gemeinsame Zukunft.

    Nun bin ich auch der Typ Mann, der beim weiblichen Geschlecht lieber durch Ritterlichkeit, Zuvorkommen und Respekt punktet als durch lahme Pseudo-Machosprüche. Titulierungen wie „Traummann oder „bester Sex ihres Lebens waren bei ihr an der Tagesordnung, sobald es auch nur annähernd um mich ging. Ich ermahnte sie vorsichtig, mich nicht gleich zu Beginn der Beziehung so in den Himmel zu heben. Wusste ich doch, dass man schon bei ersten Unstimmigkeiten aus allen Wolken fallen konnte. Gleichzeitig war ich unsagbar verliebt, fühlte mich angekommen und mehr als in der Lage, diese Themen, welche auch ihr extrem wichtig erschienen, dauerhaft erfüllen zu können.

    Aber bereits nach kurzer Zeit schwand ihre Begeisterung so schnell, wie sie erschienen war. Stattdessen erwähnte sie immer häufiger, dass sie des Öfteren mit Kunden oder Kollegen flirten würde. Alles rein oberflächlich natürlich, sie sei ja schließlich eine Lady… Und ich ging darauf ein und bemühte mich nur noch umso mehr um sie. Anna hatte mit traumwandlerischer Sicherheit meinen wunden Punkt gefunden und streichelte ihn ausgiebigst, um sich dadurch Ihre dringend benötigte Bestätigung zu besorgen. Sie hatte den erfolgreichen, beliebten Enddreißiger erobert, der sie in den Himmel hob, und mich dazu gebracht, aus einer fünfzehnjährigen Ehe auszubrechen. Sie hatte es geschafft, und das war der innere Festzug für ihren narzisstischen Charakter. Aber als ich dann ihr gehörte, da wurde ich völlig uninteressant, denn der Reiz der Eroberung war weg. Und ich demontierte, ja kastrierte mich selbst, indem ich ihr hinterherrannte. Alles, wirklich alles tat, um sie wieder für mich zu gewinnen. Bis an den Rand der völligen Selbstaufgabe.

    Ich übernahm unmerklich Tag für Tag, Woche für Woche mehr und mehr Arbeiten im Haushalt, nahm meine eigenen Bedürfnisse und meine Meinungen zugunsten des Friedens zurück, veranstaltete einen gigantischen Mummenschanz um sie und verlor dabei die komplette Würde. Nur um ihre Zuneigung zu behalten oder wieder zu erlangen. Normalerweise tut man Dinge, WEIL man geliebt wird. Doch in der Beziehung, in der ich steckte, tat ich alles, DAMIT sie mich liebte. Völlig falscher Ansatz, sagen Sie? Das weiß ich mittlerweile auch.

    Aber kommen wir darauf zurück, wieso ich sicher bin dass Anna was mit einem anderen hat.

    Dazu müssen Sie wissen, dass ich sie vor zwei Wochen, an einem Samstag Ende Juni, verlassen habe. Sie hatte mal wieder einen ihrer typischen Ausraster, bei denen sie mich in aller Öffentlichkeit heruntermachte, und da war bei mir das Maß voll. Ich packte, diesmal zum allerletzten Mal, meine Sachen und fuhr nach Hause. Bereits sonntags hatte ich schon wieder solche Sehnsucht nach ihr, dass ich zumindest noch ein paar Worte loswurde. Ich schrieb ihr eine Mail, in der ich meine Beweggründe darlegte, zudem brachte ich zum Ausdruck dass wir einfach zu grundverschieden seien und es daher niemals mit uns klappen werde. Schrieb, dass ich sie trotz allem liebe und ihr alles Glück der Welt wünsche. Ich musste das einfach noch loswerden, damit sie wusste dass ich sie nicht hasse.

    Anna meldete sich überhaupt nicht mehr. Ich verbrachte den Rest des Abends mit Fernsehen und legte mich dann schlafen, sollte es mich doch eigentlich sowieso nichts mehr angehen. Zwei Tage später, an einem Dienstag gegen Viertel vor Fünf, wachte ich auf und ging zur Toilette. Ich warf einen flüchtigen Blick auf das Handy und sah, dass sie um halb drei nachts das letzte Mal online gewesen war. Mitten in der Woche! Mir schlug das Herz bis in den Hals! Was ging da vor sich? Ich weiß, es ging mich nichts mehr an, aber wenn man einen Menschen so sehr liebte, ihn dann verließ weil es einfach nur schädlich war, dann war es so unsagbar Scheiße, ihn nach vier Tagen so chatten zu sehen, wie wir es damals zu unserer Anfangszeit taten. Als sei nie etwas gewesen. Ich trauerte, obwohl ich den Schlussstrich gezogen hatte. Ich lag nachts wach, weil ich an nichts anderes denken konnte als an sie. Und sie war bis weit nach Mitternacht online. Vier Tage, so viel brauchte es wohl bei ihr, um alles zu vergessen oder besser, zu verdrängen.

    Irgendwann hatte sie mir einmal in einem Streit gesagt, dass es doch so einfach sei, sich jemanden zur Ablenkung zu holen. Als ob man Gefühle ablegen konnte, indem man mit einem anderen ins Bett stieg. Und nun war es soweit. Ich hatte sie ja nicht verlassen, weil ich sie nicht liebte. Doch mittlerweile verstand ich, warum sie sich so verhielt. Weil sie nicht anders konnte. Weil es ihrem gestörten Verhältnis zu sich selbst entsprang. Ich hatte sie verlassen, weil sie mich sonst mit ihrem Verhalten irgendwann vernichtet hätte. Doch es war klar, dass sie das niemals verstehen würde. Mir brach das Herz, und die wildesten Phantasien schossen durch meinen Kopf.

    Hatte man nicht ein moralisches Recht darauf, dass die andere Seite auch litt? Allein schon aus Gründen des Selbstwertgefühls? Oder nennen wir es ausgleichende Gerechtigkeit. Nein, ich wusste was ich in Wirklichkeit wollte: wenn sie gelitten hätte, mich vermisst hätte, dann würde das bedeuten, dass sie etwas für mich empfand. Dass sie jetzt schon wieder so aktiv chattete, zeigte mir, dass es ihr scheißegal war.

    Es waren gerade vier Tage seit der Trennung vergangen, und die Vermutung lag nahe, dass sie bereits mit einem anderen schrieb, wahrscheinlich sogar mehr. Um diese Uhrzeit würde sie sonst niemals freiwillig aufbleiben, wenn sie am nächsten Tag arbeiten musste. Dafür kannte ich sie lang genug, da war sie pflichtbesessen und geradeaus wie ein Uhrwerk. Und Anna schaltete ihr Handy jede Nacht beim Zubettgehen aus, so dass auch kein technischer Grund für das Erscheinen online möglich war. Als wir uns kennen lernten, da blieb sie auch so lange auf. Dann nicht mehr. Ich litt wie ein Hund, und sie brauchte vier Tage… Was sollte mir das über die Gefühle sagen, die sie für mich hatte? Schien, dass es alles nichts mehr wert war, noch nie gewesen war.

    Weitere zwei Tage später sah ich ihre neue Statusmeldung im Messenger. Sie bestand aus vier Icons: einem Pumps, einem Lippenstift, einer Schleife und einem Kussmund. Bekommen Sie auch ohne meine Hilfe heraus, was das bedeutet?

    Sie machte sich schick und dann gab es Leidenschaft, für wen auch immer. Da ich vermutete dass sie ausging, würde sie mit Sicherheit Alkohol trinken. Zu dessen Wirkung auf sie werde ich später noch mehr erzählen, lassen sie mich nur so viel sagen: Anna wird absolut hemmungslos. Was sie im nüchternen Zustand an Nonnenhaftigkeit aufweist, wird nur durch ihre zügellose Geilheit übertroffen, wenn sie etwas getrunken hat. Dann gab es kein Halten mehr, ich kannte es aus ihren eigenen Schilderungen und hatte es selbst erlebt bei diversen Anlässen. Es ist dann so, als würden all ihre geheimsten Vorstellungen nach außen gekehrt und jegliche Schamhaftigkeit vollends ausgeschaltet. Nicht schön. Nicht, wenn man den geliebten Menschen lieber nüchtern und im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte vorzieht, und man Wert legt auf einen hohen Wahrheitsgehalt seiner Aussagen. Und absolut nicht schön, wenn sich ihr Verhalten dann so grundlegend ändert. Sie war sonst stets ein Typ für zarte Küsschen, Zungenküsse kamen kaum vor. Aber sobald sie auch nur Alkohol gerochen hatte, konnte sie es kaum erwarten, mir ihre Zunge in den Hals zu stecken.

    Erschreckend, wenn man einen Menschen liebt und nach einiger Zeit das Gefühl hat, ihn doch nicht zu kennen. Wenn man erkennt, dass man die ganze Zeit über nur benutzt und belogen wurde. Vor allem jedoch nicht schön, wenn Annas Verhalten dann so unberechenbar war, dass man als Lebensgefährte Angst haben musste, wenn es um Betriebsfeiern oder Ähnliches ging…

    Dann noch ihre Neugier, irgendwann mal Koks auszuprobieren. Mir wurde schlecht, als sie das sagte. Weil es passte wie die Faust aufs Auge. Kokain, der tausendfache Vorschuss aufs Selbstbewusstseinskonto. Sex- und Partydroge. Irgendjemand musste ihr mal diesen Floh ins Ohr gesetzt haben, denn von allein kam man nicht auf so etwas. Und gerade diese Empfänglichkeit für Drogen und Alkohol, verbunden mit ihrer narzisstischen Persönlichkeit, war es, die im Nachhinein wie ein weiteres Puzzleteilchen passte. Aber warten Sie ab.

    Seit dem Samstag meiner Abfahrt hatte ich nichts mehr von ihr gehört noch gelesen. Und ich wollte es auch nicht. Nie wieder. Denn was ich in all den Monaten auf mich genommen hatte, um es irgendwie recht zu machen…

    Doch die Zukunft ist, wie es so schön heißt, in ständiger Bewegung. Und sie hielt noch ein paar Überraschungen für mich bereit.

    „In my heart

    a deep and dark

    and lonely part

    wants her and

    waits for After Dark"

    (Tito & Tarantula, After Dark)

    Kapitel 2: Augenweide

    September 2011

    Gewicht: 105 kg

    I

    ch war in einer Reha-Klinik bei Husum, als ich das erste Mal auf Anna traf. Beim Basketballspielen hatte ich mir eine Fraktur des Sprunggelenks zugezogen. Um die volle Bewegungsfähigkeit zu gewährleisten, musste ich nach der OP für vier Wochen dorthin. Bei Anna hatte ein Surfunfall dazu geführt, dass sie sich wegen Problemen mit dem Hüftgelenk behandeln lassen musste. Wie der Zufall es wollte, hatten wir den gleichen Physiotherapeuten, und so begegneten wir uns häufig, wenn ich zum Termin kam und sie gerade ging.

    An den Abenden saßen meist mehrere Patienten in Grüppchen zusammen im Garten des Klinikums. Man unterhielt sich über dies und das, alberte herum und versuchte, irgendwie die Zeit totzuschlagen. Anna war auch des Öfteren dabei, und schon da fiel mir der süße norddeutsche Dialekt auf. Sie war selbständige Maklerin in Pinneberg bei Hamburg, und trotz ihres jungen Alters von gerade mal dreiundzwanzig Jahren schien sie sehr erfolgsbewusst und zielstrebig zu sein. Sie hatte eine glockenklare Stimme mit einer schönen Melodie, und sie fiel dadurch auf, dass sie häufig und gerne kicherte und sich oft durch zweideutige Anmerkungen hervortat. Und wenn ich ehrlich bin, klang es auch echt sexy, aber dafür war ich momentan nicht zu haben, war ich doch seit fünfzehn Jahren glücklich mit Marlene verheiratet. Es war nicht mehr das lodernde Inferno wie zu Beginn, doch es war wertvoller. Hätte ich die Beziehung zu Marlene beschreiben müssen, hätte ich gesagt:

    „Viele Beziehungen beginnen mit einem Strohfeuer. Das brennt lichterloh, geht aber schnell aus. Mit Marlene ist das anders, es brannte von Anfang an langsam und gleichmäßig, und wenn man jetzt die Hand darüber hält, ist die Erde immer noch warm." Dafür hatte ich bereits Komplimente und auch Neidbekundungen erhalten, zum einen für den schönen Ausdruck und zum anderen für die langfristige Verbindung. Wir waren glücklich miteinander, waren ein tolles Team und taten uns nicht weh. Sie hatte Verständnis für meinen Job und dass ich so häufig unterwegs war, und wir vertrauten uns blind. Sie hatte sich vor drei Jahren ein eigenes Standbein aufgebaut mit Bauzeichnungen, die sie von zuhause aus anfertigte. Home Office war schon etwas Feines. Gut, in den letzten Monaten war es vielleicht noch etwas ruhiger zwischen uns geworden, aber ich maß dem keine Bedeutung bei. Vielleicht sollte man in der nächsten Zeit mal wieder mehr unternehmen?

    Das zweite Aufeinandertreffen ereignete sich wenige Wochen später. Ich hatte durch meinen beruflichen Kontakt im Norden, Felix Dellmann, erneut einen Auftrag als Übersetzer bei Kaufverhandlungen an Land ziehen können. In Kassel sollte ein weiterer Bürokomplex gebaut werden, es würden etliche Termine auf mich zukommen, und dank meines Stundensatzes würde ich ein erkleckliches Sümmchen einnehmen. Käufer sowie Vertreter der Bauunternehmen würde ich bei einem ersten Termin kennenlernen. Und so kam es, dass ich wie so viele Male zuvor, längere Zeit in Kassel verbringen würde.

    Ich erreichte Kassel, nahm die Ausfahrt und war in wenigen Minuten am Hotel. Kurz einchecken, und dann rüber in den Rohbau, der in einigen Monaten als modernes Bürogebäude die Innenstadt zieren sollte. Es war Oktober, und wie man so sagte „für die Jahreszeit zu warm", denn es herrschten satte 24 Grad. Das Hemd begann langsam an meinem Rücken zu kleben, als ich den Bauaufzug betrat, hatte ich mich doch etwas mehr beeilt als notwendig. Ich stand vor dem Aufzug, und als sich die Tür öffnete, stand mir Felix mit seinem üblichen Grinsen gegenüber.

    „Komm, steig ein, gleich geht’s los!" sagte er, ohne dass sich seine Miene verzog.

    „Na mein Großer, wo kommst du denn her? Aus dem Keller?"

    „Ja, die Toiletten im Erdgeschoß sind defekt, und da hatte ich den falschen Knopf im Aufzug gedrückt. Nur gut dass da unten auch Klos sind, sonst hätte ich mir in die Hose geschissen", sagte er und fing brüllend an zu lachen. Ich grinste. Felix halt, seine offene rheinische Art inklusive dazugehörigem Dialekt war schon immer unkompliziert und sympathisch. Man kannte ihn nicht anders, immer gutgelaunt und stets einen flockigen Spruch auf den Lippen.

    Es machte Ping, und die Türen öffneten sich. Mittelschweres Geraune drang aus dem Vorraum, denn etliche Menschen waren bereits da, taten sich gütlich an Kaffee und reichten Plätzchenteller herum. Ingenieure, Bauzeichner, Handwerker, das ganze Sammelsurium. Fast wie ein Kaffeekränzchen, wenn es nicht um Millionen gegangen wäre. „Hey Marc, auch schon da? Mensch, was für eine Scheißwoche, aber dafür hab ich die Vorzimmerdame von Giesenberg endlich flachgelegt!" Dirk Petersen, ein mir bekannter Journalist, hatte mir seine Hand auf die Schulter gelegt und redete auf mich ein. Er war bei einer regionalen Zeitung beschäftigt und hatte den Auftrag, über die Fortschritte des Baus und die positiven Einflüsse des Unternehmens als neuer Arbeitgeber der Region zu berichten.

    „Die Breuer? entgegnete ich, „wie lange hast du denn an der rumgegraben? Und was sagt Tina dazu? Tina war Dirks Frau, und so gern ich sie hatte, so sehr schmerzte es mich, dass Dirk sie in unregelmäßigen Abständen betrog. Er zuckte mit den Achseln. „Was sie nicht weiß und so weiter…" antwortete er nur, nahm meinen missbilligenden Blick zur Kenntnis und trollte sich. Ich mochte es nicht, unfreiwilliger Geheimnisträger zu sein, zumal wir vier uns ab und zu trafen. Und in solchen Situationen war es dermaßen unangenehm, ihr gegenüber zu sitzen, mit ihr zu reden und gleichzeitig zu wissen, dass Dirk gerne mal sein Teil in anderen Frauen vergrub. Ich hasste Untreue, denn sie stellte für mich den höchsten Verrat an einem vertrauten Menschen dar. Für mich gab es in Beziehungsdingen stets ein paar Regeln, und eine davon lautete: Wenn ich mich jemandem verschrieb, dann ganz und gar. Keine Ausnahme. Und sollte es der Fall sein, dass einer von beiden plötzlich das Verlangen nach fremder Haut verspürte, dann konnte man das offen sagen, sich trennen und gut! Aber ich fand dass es nichts Schlimmeres gab, als sich mit einem anderen Menschen zu vergnügen, während der Partner zuhause saß und womöglich noch voller Vorfreude auf einen wartete.

    Die Glocke zum Beginn der Veranstaltung riss mich aus meinen Gedanken, und die Menschenmenge schob sich Richtung Eingang des Konferenzraums. Felix stupste mich plötzlich mit dem Ellbogen und flüsterte: „Guck da, die Anna! Alter Schwede, die macht mich so wuschig, wenn ich sie nur sehe. Er nickte zum gegenüberliegenden Ende des Foyers, und ich folgte seinem Blick. Da erkannte ich sie. Anna aus Pinneberg, Anna die Maklerin, die noch vor einigen Wochen in einem bordeauxroten Bademantel im Garten des Klinikums gesessen und gekichert hatte. Ich ließ mir jedoch nichts anmerken. „Beine hat die… begann Felix wieder zu phantasieren und stieß sich dabei heftigst den Ellbogen an der Klinke der Eingangstür. Ich musste lachen, und wir betraten endlich den Saal.

    Die Veranstaltung nahm ihren Lauf, es war trocken wie erwartet, aber ich nahm es hin. In Gedanken war ich bereits beim Abendessen. Wie immer, so würden wir auch heute Abend ins „El Pintano" gehen, einen kleinen gemütlichen Spanier ganz in der Nähe. Eine liebgewonnene Tradition, denn dort gab es ausgezeichneten Rotwein und exzellent zubereitete Fischgerichte bei schummrigem Licht, an abgeschrubbten Holztischen. Ich liebte Essen und Wein, und das hatte sich im Laufe der letzten zwei Jahre auch äußerlich bemerkbar gemacht.

    Nicht dass ich dick war, beileibe nicht. Ich war mein Leben lang ein sehr schlanker Mensch, mittlerweile aber zu einem, wie man so sagte, „Brocken" herangewachsen, stattliche 108 Kilo bei 1,95 Metern. Kein Bauchansatz, kein Gürtellapp-Syndrom. Alles gut verteilt, ich war massig ohne fett zu wirken. Gut, mein Sixpack, auf welches ich seit jeher stolz gewesen war, lag mittlerweile etwas versteckt unter dem Panzer, aber ich mochte mich und offensichtlich gefiel es auch anderen. Allerdings regte sich seit einiger Zeit der Wunsch, doch noch mal an alte Zeiten anzuknüpfen und regelmäßig ein Fitnessstudio aufzusuchen. Mit achtunddreißig Jahren sollte man langsam mal an später denken. Aber solange ich immer noch jünger geschätzt wurde, war der innere Schweinehund noch recht erfolgreich. Wie mir Marlene dann und wann mitteilte, fiel ich ob meines Äußeren auch der Damenwelt auf, aber ich gab nicht allzu viel darum. Es schmeichelte mir zwar, wenn ich denn mal mitbekam, wie mich eine Frau ansah oder sich nach mir umdrehte. Aber wie ich bereits sagte, mehr würde bei so etwas nie herauskommen.

    Es klingelte zur Pause, erwartungsgemäß setzte der Menschenstrom ein und ich lavierte mich durch die Gruppe der Anwesenden, als ich dahinter Felix an seiner kahlen Stelle auf dem Hinterkopf erkannte. Er wartete bereits mit einer Tasse Kaffee auf mich, hatte er doch schon zehn Minuten vor allen anderen den Saal verlassen. „Ich krieg die Krise, wenn ich dieses staubige Gesülze höre! schalt er und kratzte sich seine kahle Stelle. „Kann man sowas nicht mal ansprechender präsentieren? Wenn die in der Bäckerei so arbeiten würden, bekämen die ja nie etwas verkauft! Da muss mehr Leben rein, mehr Energie. Wenn das so weitergeht, schlaf ich im zweiten Teil ein, das kann ich dir aber garantieren!

    Ich lachte, gab es doch bereits mindestens zwei Vorfälle bei denen Felix eingeschlafen und ich anwesend gewesen war. Bei einem Meeting hatten wir es am Vorabend an der Hotelbar „etwas" übertrieben, neben B52’s auch noch Long Island Ice Tea weggezogen und waren so erst gegen drei Uhr im Bett gewesen. Felix hatte zu allem Überfluss auch noch versucht, die Zweigstellenleiterin aus Münster abzuschleppen, was sich jedoch im Nachhinein als Rohrkrepierer herausstellte. Also Felix’ Rohr krepierte. Soll heißen, sie ging zwar mit ihm, aber es lief nichts. Wie dem auch sei, am folgenden Morgen waren wir ziemlich tot und ich folgte dem Vortrag mit einem Auge, als ich rechts neben mir eine nickende Kopfbewegung sah. Ich drehte mich zur Seite, bereute es sofort wegen des Stechens in meinem Nacken und sah gerade noch, wie Felix’ Kopf auf seine Brust sank. Ein leichtes Heben und Senken der Schultern verriet, dass er gerade nicht angestrengt nachdachte… Ich stupste ihn an, brachte ihm einen Kaffee und wir hielten den Rest des Tages gemeinsam durch.

    Ich nahm ihren Duft wahr, noch bevor ich mich umdrehte. „Sensual Code", ein angehender Klassiker, und seit Langem unter den Top Ten der beliebtesten Frauendüfte. Ich liebte die sanfte Gewalt, mit der dieser Duft die Sinne eroberte. Und da ich optischolfaktorisch ausgerichtet war, also den Großteil der Sinnesreize über Augen und Nase wahrnahm, war dieser Duft ein gefundenes Fressen für mich. Felix’ Augen weiteten und fokussierten sich auf etwas hinter mir, so dass ich mich umdrehte. Anna und eine weitere Kollegin standen neben mir und schauten uns an. Und meine optischen Sinnesorgane klingelten. Reizüberflutung pur.

    „Ist hier noch ein Plätzchen frei? Alle anderen Tische sind belegt sagte sie mit einem unverbindlichen Lächeln, das schneeweiße, perfekte Zahnreihen aufblitzen liess. „Sehr gerne sagte ich und schob meine Tasse etwas weiter nach rechts, um die Lücke für beide etwas größer zu machen. Felix richtete sich umgehend zur vollen Grösse auf und beschallte den halben Saal: „Mensch Anna, ich bin jedes Mal erstaunt, was du doch für ein Zuckerhäschen bist! Liebelein, wie geht’s dir denn? Anna grinste, was mir zeigte dass sie nicht zum ersten Mal von Felix so angesprochen wurde. „Och, ganz gut, ist nur ein wenig trocken, das Ganze. Aber mal zwei Tage aus dem Büro rauskommen, das ist auch schon viel wert erwiderte sie.

    „Seid ihr auch im Vivanto untergebracht?, sprach ich sie an. „Ja, ist das nicht ein schönes Hotel? Ich steh’ total auf die gläsernen Duschen! Und alles ist so gross und modern eingerichtet, wirklich toll. gab sie begeistert zurück. Ich antwortete: „Jaja, die gläsernen Duschen, da war schon so mancher drüber begeistert. Das lässt sich der Kunde wirklich was kosten. Wo esst ihr heute Abend? Keine Ahnung, darüber hatten wir noch nicht gesprochen, erwiderte sie und schaute ihre Kollegin an, die bis jetzt noch keinen Mucks von sich gegeben hatte. Die zuckte nur mit den Schultern und gab ein knurriges „Muss eh abnehmen von sich. Felix und ich grinsten, und noch bevor ich selbst den Schritt tun konnte, begann er, uns einander vorzustellen.

    „Das ist Marc, einer unserer Dolmetscher, begann er, „und das sind Anna und… wie war deine Name noch gleich? Die knurrige Kollegin schaute etwas freundlicher und gab zurück: „Amina. Ich hatte da was von einem Kollegen gehört, dass hier um die Ecke ein Italiener sein soll, stimmt das? Ich gab beiden die Hand und erklärte: „Freut mich! Ja das ist richtig, das El Pintano, fünf Minuten zu Fuß. Viele Kollegen gehen da heute Abend hin, wollt ihr mit? Die beiden schauten sich kurz an und nickten dann. „Ausgezeichnet, dann lasst uns doch später vom Hotel zusammen dahin gehen, dann müsst ihr nicht suchen. Anna schaute mich an. „Und was macht das Sprunggelenk? sagte sie, griff Amina am Arm und drehte sich zum Saaleingang, nicht ohne ein „Bis später! in unsere Richtung zu rufen. Ich ertappte mich dabei, wie ich ihr auf den Po schaute. „Ihr kennt euch schon? zischte Felix mir ins Ohr, legte seine Hände wie bei einer Polonäse auf meine Schultern und bugsierte mich so in Richtung Saal. „Ja, entgegnete ich, „wir waren gleichzeitig in Husum, als ich nach der OP zur Reha musste. Irgendwas wegen Surfunfall… Ich sah ihr hinterher. In der Tat war sie überaus hübsch, das musste ich zugeben, während wir uns mit etlichen anderen wieder durch die Tür quetschten und unseren Plätzen zusteuerten.

    Ihre glatten dunkelroten Haare; die grauen Augen, die ein wenig klein geraten, aber mandelförmig geschnitten waren; und was mir sofort aufgefallen war: das perfekte Make-Up. Man sah zwar dass

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