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Wie Freiheit schmeckt: Unternehmertum als Motor für eine selbstbestimmte Gesellschaft
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eBook493 Seiten5 Stunden

Wie Freiheit schmeckt: Unternehmertum als Motor für eine selbstbestimmte Gesellschaft

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Über dieses E-Book

Schon immer sind Familienunternehmen der Treiber für Innovationen und Veränderungen.
Unternehmen im Mittelstand als konkretes Vorbild für
einen Wertewandel. Für ein neues Denken und Handeln ohne Abhängigkeiten.
Wie kann das Prinzip der Eigenverantwortung auf Mit-
arbeiter, Organisationen und Gesellschaft übertragen
werden?
Ein Appetit-Macher für Unternehmertum!
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Mai 2021
ISBN9783347300477
Wie Freiheit schmeckt: Unternehmertum als Motor für eine selbstbestimmte Gesellschaft

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    Buchvorschau

    Wie Freiheit schmeckt - Nils Koerber

    Wenn eines zum anderen führt

    Kapitel 1

    Ein Dialog über den Geschmack der Freiheit

    Thomas Danziger tunkt den letzten Bissen seines Abendessens sorgfältig in die Soße: „Übrigens, ich hab heute dem Müller gekündigt. Das ging gar nicht mehr, echt."

    Sein Vater Werner setzt sich abrupt auf, Gabel und Messer klirren auf den Tellerrand. „Der Müller aus der Produktion? Aber der Mann ist seit 30 Jahren bei uns, das kann man noch nicht machen."

    Was man kann oder nicht kann, das lass mal ruhig meine Sorge sein, Papa. Personalentscheidungen liegen in meiner Verantwortung." Thomas kaut in gespielter Ruhe zu Ende und greift nach dem Bierglas, während Werner langsam seinen Teller von sich schiebt. Ihm ist der Appetit vergangen. „Außerdem", Thomas lehnt sich zurück und verschränkt die Arme hinter dem Kopf, „30 Jahre hin oder her. Die zwölf Monate Kündigungsfrist sind es mir wert, wenn ich dieses ewige ‚Aber Herr Danziger, das haben wir noch nie so gemacht’ nicht mehr hören muss."

    Werners Hand knallt auf den Tisch: „Es geht doch nicht um eine dämliche Kündigungsfrist. Es geht um 30 Jahre Loyalität. Der Mann gehört zur Familie, meine Güte. Du hast überhaupt keinen Sinn für Werte. Manchmal frag ich mich ehrlich, wie du die Werte erhalten willst, die ich aufgebaut habe, wenn du sie noch nicht mal verstehst."

    Elke Danziger und Sybille, Thomas jüngere Schwester, schauen sich erschrocken an. „Werner, du …"

    Thomas fällt seiner Mutter ins Wort: „Werte, Werte, ich weiß nicht, was du immer hast mit deiner Treue, deiner Loyalität. Davon kauf ich keinen Blumentopf und bezahl keinen einzigen Lieferanten. Die Zeiten haben sich geändert, Papa, begreif das mal. Ihr wolltet, dass ich den Laden schmeiße, also, bitte, dann respektiert jetzt auch, wenn ich den Müller schmeiße."

    „So sprichst du nicht mit mir, dass das mal klar ist", Werner springt auf und beginnt im Esszimmer auf und ab zu laufen. „Wer Respekt einfordert, sollte ihn selbst erst mal verdienen. Nimm dir ein Beispiel am Müller, der hat sich seine Stelle als Produktionsleiter hart erarbeitet. Der hat gerade in der Anfangszeit gemeinsam mit mir …"

    Thomas unterbricht schon wieder. „Ja, ja, die rosige Anfangszeit. Damals war alles besser, bla, bla. Aber wo wir gerade von früher und von Werten sprechen – wo warst du denn damals, wenn ich mal einen Vater brauchte? Wo warst du bei all meinen Fußballspielen, wo warst du, wenn …", Thomas winkt wütend ab. „Ach, weißt du was, ich hab echt keinen Bock mehr. Immer heißt es ‚Thomas entscheide du das, du musst lernen, unternehmerische Verantwortung zu übernehmen‘. Aber wehe ich entscheide mal, dann ist es auch irgendwie immer falsch."

    Werner bleibt vor dem Stuhl seines Sohnes stehen: „Thomas, vergleich doch nicht Äpfel mit Birnen. Ich rede von Verantwortung, von gestalten und aufbauen, nicht von feuern und kaputtmachen. Wenn ich von Werten rede, dann meine ich nicht die auf dem Konto oder auf dem Parkplatz oder …"

    Thomas zündet sich fahrig ein Zigarillo an.

    „… im Humidor." Werner verzieht das Gesicht. „Du hast dich ins gemachte Nest gesetzt, dir ist alles vorgekaut worden. Was ich vermisse, ist Dankbarkeit, nicht nur mir gegenüber. Auch den Mitarbeitern gegenüber, deiner Mutter, deiner Schwester. Wir alle gemeinsam haben hart gearbeitet und du erntest jetzt die Früchte. Du bist aber auch verpflichtet, den Samen weiterzutragen, es geht um die Zukunft der Firma, nicht nur ums Abernten."

    Thomas stößt Rauch aus und hustet: „Alles schön und gut, aber warum soll ich mich für irgendeine abstrakte Zukunft anstrengen? Ich weiß doch überhaupt nicht, wo das alles hingeht mit der Digitalisierung und dem ganzen Kram. Manchmal denk ich, ich mach das noch zehn Jahre, maximal, und mit fünfzig schmeiß ich hin. Dann kannst du ja übernehmen, Schwesterchen, du weißt doch sowieso immer alles besser."

    Werner schnaubt. „Das könnte dir so passen. Mein Lebenswerk aufs Spiel setzen, weil der Herr glaubt, er wäre was Besseres. Da kann ich nur hoffen, dass ich das nicht mehr erleben muss."

    „Na ja, auf jeden Fall will ich nicht so enden wie du, Papa. Ich mein, du bist echt kein leuchtendes Beispiel. Herzprobleme, Rückenschmerzen und der letzte Urlaub war vor … Mama, wann war der letzte gemeinsame Urlaub mit Papa? Das ist doch kein Leben."

    Elke Danziger legt ihrem Mann, der auffahren will, die Hand auf den Arm: „Nein, jetzt lass mich mal, Werner. Thomas, der letzte Urlaub ist erst zwei Monate her und er war sehr schön. Ich habe deinen Vater immer unterstützt in seinem Tun, weil ich wusste, dass er es genau so haben will. Mir hat irgendein schicker Urlaub nie so viel bedeuten können wie das Leuchten in Papas Augen, wenn er eine neue Produktlinie ankündigen konnte. Das dazu. Und jetzt, ihr beiden, ist hier Schluss mit lustig." Elke Danziger erhebt sich und öffnet einladend die Terrassentür zum Garten. „Sybille und ich räumen ausnahmsweise den Tisch ab und ihr geht raus, damit ihr weder mit dem Zigarillo noch mit eurem Krach hier weiter die Luft verpestet. Ab mit euch und besinnt euch mal darauf, dass ihr vielleicht beide ein Stück recht haben könntet."

    Wenig später stehen Thomas und sein Vater auf der Terrasse und lassen die Blicke über den parkähnlichen, gepflegten Garten bis zum angrenzenden Wald schweifen. Thomas Zigarillo glüht in der Dämmerung auf, als er einen kräftigen Zug nimmt. „Puh, Mamas Machtworte, die wird’s wohl immer geben, egal wie alt ich bin." Beide müssen lachen und atmen erleichtert auf.

    „Tja, manche Dinge ändern sich halt nie, und das ist ja auch gut so, bei all den schnellen Veränderungen um uns rum."

    „Hör mal …" – beide, Thomas und Werner, beginnen gleichzeitig zu sprechen. „Nein, bitte, fang du an", Werner lehnt sich an einen Pfeiler des Terrassendachs und schaut seinen Sohn aufmerksam an.

    „Ja, gut, danke Papa", Thomas drückt den Zigarillo am steinernen Geländer der Terrasse aus und legt ihn auf den Boden. „Also, weißt du, ich versteh schon, dass es dir wehtut, wenn ich Dinge anders mache als du, dass du dir Sorgen machst. Aber ich möchte meine eigenen Entscheidungen treffen können und ich möchte, dass du sie akzeptierst. Wenn ich mich bei allem, was ich sage und tue, immer unter Beobachtung fühlen muss, dann komme ich mir wie ein Hampelmann vor, wie deine Marionette. Und manchmal glaube ich, dass auch die Mitarbeiter mich so sehen. Speziell der Müller, der hat mich doch nie respektiert. Da muss ich auch mal klare Kante zeigen und mir Respekt erkämpfen, versteh das doch bitte."

    Werner schüttelt unwirsch den Kopf: „Ach, Thomas, wenn ich dich so höre, muss ich daran denken, was für ein Heißsporn ich früher war. Immer kämpfen, sich beweisen, immer alles alleine machen wollen. Aber was hilft es, du hast schon recht, deine Erfahrungen musst du selbst machen. Mir ist eigentlich nur wichtig, dass du diese Erfahrungen bewusst machst, dass du Entscheidungen nicht hopplahopp triffst. Ich möchte, dass du nicht nur an dich denkst, sondern an alle da draußen, die deine Entscheidungen betreffen werden." Werner wendet sich seinem Sohn zu. „Hast du mal überlegt, was es für den Müller bedeutet, wenn er jetzt mit 58 Jahren gehen muss? Den nimmt doch keiner mehr. Ich möchte, dass du die Verantwortung verstehst, die du als Unternehmer hast. Aber auch die Freiheit, die damit einhergeht."

    Beide beginnen in Richtung Waldrand zu gehen und Thomas blickt zu seinem Vater herüber. „Freiheit? Hm, so habe ich das noch nie gesehen. Vielleicht ist es einfach nicht meine Art von Freiheit, sie macht mir eher Angst. Ich meine, soll das jetzt alles gewesen sein? Ich hab den Laden übernommen und der klebt jetzt an mir, bis ich umfalle? Hilfe, da bleibt mir die Luft weg." Thomas schiebt die Hände in die Hosentaschen und zieht die Schultern hoch. „Deswegen kann ich dir nicht versprechen, dass ich das hier ewig machen werde. Ich glaube, meine Art von Freiheit ist es, öfter mal zu überprüfen, ob das, was ich tue, noch meins ist. Ob ich für mich noch auf dem richtigen Weg bin. Und momentan bin ich das sicher nicht, ich fühle mich von euch in die Enge getrieben. Ihr respektiert meine Entscheidungen nicht, also hab ich auch keine Lust zu entscheiden. So einfach ist das."

    „Na ja, so einfach ist es sicher nicht", sagt Werner und schmunzelt. „Aber ich verstehe schon, was du meinst. Weißt du noch, damals, als die Banken uns fast den Hahn zugedreht haben? Jeden Tag stand ein anderer Finanzfuzzi oder Beraterheini bei mir in der Tür und alle wussten es besser. Ich hätte die am liebsten ständig angebrüllt, sie sollen mich in Ruhe lassen. Ich wusste ja selbst ganz genau, was zu tun war. Wenn man mich nur gelassen hätte." Werner ballt die Fäuste. „Ich weiß, dass ihr das ganz gewaltig mit ausgebadet habt, deine Schwester und du. Ich war eigentlich nur noch wütend, auf Gott und die Welt, und hab das auch an euch ausgelassen. Ich fühlte mich so hilflos …"

    „… und das hat dich wütend gemacht", fällt Thomas seinem Vater begeistert ins Wort. „Siehst du, genau so geht es mir jetzt. Jemand anders bestimmt über mein Leben …"

    „… und das fühlt sich grauenhaft an", setzt Werner den Gedanken fort. „Du hast recht. Aber versteh bitte auch mich. Es ist mein Lebenswerk, über das wir hier sprechen. Als ich damals angefangen habe, die Firma aufzubauen, war ich überzeugt davon, dass ich etwas besser kann als andere, dass ich der Welt etwas geben kann. Ich hatte Freude zu gestalten und aufzubauen. Genau das wünsch ich mir bei dir auch."

    Er blickt seinen Sohn prüfend an. „Das ist nicht immer einfach und bei manchen, ach, was sag ich, bei den meisten Entscheidungen weiß man erst hinterher, ob sie klug oder mies waren. Aber das gehört dazu."

    Thomas überlegt einen Moment. „Damals, als die Banken uns kein Geld mehr geben wollten, hast du entschieden, das Mietshaus zu verkaufen und alles in eine neue Produktlinie zu stecken. Warst du dir da eigentlich sicher, dass es gelingt?"

    Werner lacht laut auf. „Ach, Thomas, natürlich nicht. Ich habe keine Nacht mehr geschlafen. Aber was sollte ich tun, ich stand mit dem Rücken zur Wand und hatte nur noch einen Gedanken: Ich wollte denen zeigen, dass ich nicht abhängig bin von ihrem blöden Geld, von ihren klugen Ratschlägen. Ich wollte die Verantwortung für mein Handeln zurückgewinnen. Und letztlich war es ja richtig, was ich getan habe. Die Linie Nouveau verkauft sich heute immer noch gut. Aber genauso viele meiner Entscheidungen waren krachend falsch, das kannst du mir glauben."

    Thomas bleibt mit großen Augen stehen. „Dass du das mal zugibst, wow, hätte ich nicht gedacht. Der große Werner Danziger ist nicht fehlerlos. Da bin ich schon fast froh, dass eben die Fetzen geflogen sind." Thomas lacht.

    „Pass bloß auf!" Werner klappst seinem Sohn liebevoll auf den Hinterkopf.

    „Weißt du, Papa", greift Thomas den Faden wieder auf, „ich glaube, ich hab eines ganz aus den Augen verloren. Als ich ins Unternehmen eingestiegen bin, habt ihr mir gesagt, ich müsse die Firma nur weiterführen, wenn ich wirklich will. Das hat mich damals sehr erleichtert. Ich weiß noch, dass ich während des Studiums ganz oft wütend war, wenn es mal wieder hieß, ‚klar, der Thomas übernimmt den Laden‘. Mich hat keiner gefragt und ich dachte immer, ich hätte keine Wahl. Sybille dagegen durfte sich ständig neu entscheiden, heute Ärztin, morgen eine Boutique in Schwabing, tralala."

    Werner zuckt mit den Achseln. „Aber letztlich haben wir dir die Wahl doch gelassen, und die hattest du eigentlich immer schon. Wir wussten nur lange nicht, dass wir es aussprechen müssen. Für uns war es selbstverständlich. Übrigens war es deine tralala-Schwester, die uns darauf aufmerksam gemacht hat."

    „Echt? Das wusste ich nicht. Na okay, so schlimm ist Sybille gar nicht." Thomas grinst. „Vielleicht will sie ja irgendwann wirklich mit einsteigen."

    Ja, warum nicht", sein Vater bleibt stehen und verschränkt die Arme. „Weißt du, Thomas, ich bin nicht von gestern, auch wenn dir das so scheint. Ich sehe schon, dass ihr jungen Leute andere Werte habt und dass ihr viel mehr hinterfragt. Die Welt ist größer geworden und ihr habt so viele Möglichkeiten. Eigentlich ist es logisch, dass die Etappen, in denen man sich neu erfindet, kürzer werden. Nur eines darf dabei nicht auf der Strecke bleiben und das sind deine Werte und deine Integrität."

    „Sagen, was ich tue, tun, was ich sage", rattert Thomas herunter und seufzt. „Ich weiß. Aber mal ganz ehrlich, sieh und hör dich doch um. Es guckt doch jeder nur noch nach sich und nach dem schnellen Geld. Je schwieriger Entscheidungen werden, desto eher werden sie ausgesessen. Und die Politik guckt weg, denk nur an den Abgasskandal oder an die Flüchtlinge."

    Werner legt seinem Sohn die Hände auf die Schultern und schaut ihn eindringlich an. „Umso wichtiger ist es, dass ihr jungen Unternehmer eure Werte klar habt und aus ganzem Herzen die Dinge angeht."

    Thomas und sein Vater beginnen, den Weg zum Haus zurückzugehen. „Ich will es gerne versuchen, Papa. Das verspreche ich dir. Aber, weißt du, manchmal frage ich mich schon, ob wir Familienunternehmer tatsächlich etwas verändern können, wie du immer behauptest. Ein Unternehmen mehr oder weniger – macht das denn wirklich einen Unterschied?"

    »Manchmal frage ich mich schon, ob wir Familienunternehmer tatsächlich etwas verändern können, wie du immer behauptest.

    Ein Unternehmen mehr oder weniger – macht das denn wirklich einen Unterschied?«

    Ja! Es macht einen Unterschied

    Kapitel 2

    Die enorme Wirkkraft des Mittelstands

    Wie viel uns etwas bedeutet, erschließt sich oft erst, wenn es plötzlich fehlt. Das stellen wir gerade fest, weil uns die Corona-Pandemie wegnimmt, was selbstverständlich erschien: Kontakte, Austausch, Begegnungen, auch Umarmungen.

    Deshalb lässt sich die Frage „Macht es wirklich einen Unterschied?" am besten mit einem Gedankenexperiment beantworten: Was würde passieren, wenn der deutsche Mittelstand und die Familienunternehmen von heute auf morgen wegfallen würden? Nicht mehr viel. Was würde uns fehlen? Alles. Was bliebe? Wenig. Noch nicht einmal ein Prozent der deutschen Unternehmenslandschaft wäre noch vorhanden, der Rest mit einem Gedankenstreich verloren gegangen. Mit unserem Experiment haben wir mehr als 99 Prozent der deutschen Wirtschaft ausradiert. Das sollte man sich bildlich vorstellen. Und dann sollte man es nie wieder vergessen, auch und gerade vor dem Hintergrund der dramatischen Veränderungen, die unsere Wirtschaft und speziell die mittelständischen Unternehmen in den nächsten Jahren treffen werden.

    Der Mittelstand hat eine enorme Wirkkraft. Die Kennzahlen des Instituts für Mittelstandsforschung (ifM Bonn)⁶ zeigen: Mittelständische Unternehmen stehen für mehr als 35 Prozent des Gesamtumsatzes und knapp 60 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland. Über 80 Prozent aller Auszubildenden werden vom Mittelstand auf ihre künftigen Berufe vorbereitet.

    Je nach Zahlen- und Faktenlage gehören fast alle deutschen Unternehmen dem Mittelstand an. Der winzige, ausgeschlossene Rest, die Großunternehmen, fühlt sich, laut ifM Bonn, trotzdem dem Mittelstand zugehörig.⁷ Obwohl Unternehmen, wie zum Beispiel BMW mit der Eigentümerfamilie Quandt, die dem Mittelstand rein zahlenmäßig längst entwachsen sind, bleiben mittelständisch strukturiert, sie denken und fühlen mittelständisch.

    Sie fühlen mittelständisch? Wie fühlt sich das an? Das führt uns zu der Frage, was den Mittelstand eigentlich ausmacht. Eine einheitliche Definition gibt es nämlich nicht. Laut KfW-Mittelstandspanel⁸ zählen zum Mittelstand sämtliche Unternehmen in Deutschland, deren Jahresumsatz 500 Millionen Euro nicht überschreitet. Das waren im Jahr 2018 3,81 Millionen Unternehmen oder 99,95 Prozent aller Unternehmen in Deutschland. Oft wird der Mittelstand auch anhand der Mitarbeiterzahl ausgewiesen. Alle Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitern gehören laut ifM Bonn⁹ zu den mittelständischen Unternehmen oder werden unter dem Begriff KMU (kleine und mittelständische Unternehmen) zusammengefasst.¹⁰

    Das Mittelstandsgefühl

    Allerdings misst sich das typische Mittelstandsgefühl, von dem auch die mittelständisch agierenden Großunternehmer sprechen, nicht in Zahlen oder Fakten. Jenseits aller quantitativen Definitionen kennzeichnet den Mittelstand die unauflösliche Verflechtung von Eigentum, Führung und Verantwortung. Der mittelständische Unternehmer managt nicht, er verantwortet seine Entscheidungen immer auch im Hinblick auf sein Eigentum, auf den Besitz seiner Familie. Trifft er Fehlentscheidungen, kann er nicht rein verbal die Verantwortung übernehmen, wie wir das heute so oft bei Managern oder Politikern hören. Er kann auch nicht zurücktreten, nach dem Motto „nach mir die Sintflut". Fehlentscheidungen treffen ihn unmittelbar, treffen seinen Besitz, sein Portemonnaie, vielleicht seine Familie. Dann muss er überlegen, wie er damit umgeht. Und weitermachen. Als Familienunternehmer in x-ter Generation ist er auf Beständigkeit ausgerichtet, hat gelernt, seinen Schwerpunkt nicht auf Quartalszahlen oder Fünfjahrespläne zu setzen. „Wir denken in Generationen, nicht in Quartalen", das ist eine typische Aussage eines mittelständischen Unternehmers.

    Auch die enge Verbundenheit von Familie und Betrieb prägt den Mittelstand ganz wesentlich. In Familienunternehmen tragen verwandtschaftlich verbundene Menschen als Eigentümer über Generationen hinweg unternehmerische Verantwortung. Hier verbinden sich Systeme, die unsere Gesellschaft normalerweise trennt: private Familie, unternehmerisches Handeln, wirtschaftliches Eigentum. Diese Verbindung betrifft alle Mitglieder der Familie: Erwachsene, Jugendliche und Kinder. Nicht nur durch die Nachfolgefrage hat das Unternehmen Einfluss auf die Kindheit und Jugend der Unternehmerkinder. Es sitzt, wie wir im Eingangsdialog prächtig sehen konnten, beim Abendessen mit am Tisch, hat eine laute Stimme, eine Sonderposition. Diese enge Verbundenheit von frühester Jugend an prägt die Sicht des mittelständischen Unternehmers auf sein Tun. Unternehmertum ist niemals ein Job, den man emotionslos macht und leichtfertig wechselt. Mag man das Unternehmen hassen, mag man es lieben – kalt lassen wird es uns Unternehmer niemals. Wir haben zu unserem „Baby" – der Firma – eine ganz besondere Beziehung. Sie lässt sich mit der Liebe von Eltern zu ihrem Kind vergleichen, wie eine Studie der Universität Helsinki¹¹ gezeigt hat: Fotos von der Firma aktivierten in Versuchen per Magnetresonanztomografie dieselben Hirnareale wie Fotos des eigenen Kindes.

    Leidenschaft und Loslassen

    Wo starke Emotionen im Spiel sind, sind Konflikte vorprogrammiert. Vor allem, wenn den Beteiligten nicht klar ist, ob gerade der Vater spricht oder der Geschäftsführer, die Tochter oder die Vertriebschefin. Typisch für den Mittelstand ist auch das Problem des Loslassens. Wir alle kennen Geschichten und Bilder von Patriarchen, die ihr Unternehmen mit ebensolcher Leidenschaft wie Unbelehrbarkeit führen. Die fest davon überzeugt sind, dass kein anderer ihren Platz einnehmen kann und die mit 70, 80 teilweise 90 Jahren noch fester Bestandteil des Firmenbilds sind. Sehr zum Leidwesen ihrer Söhne oder Töchter. „Wann übergibt er mir jetzt endgültig das Zepter? Wann bin ich endlich die Chefin, die Alleinverantwortliche und Ansprechpartnerin für die Mitarbeiter? Wir hatten doch vereinbart, dass er sich mit spätestens 72 Jahren aus dem Operativen zurückzieht und die Geschäftsführung niederlegt. Ich verstehe ihn nicht. Er ist jetzt 75 Jahre und kommt jeden Tag in den Betrieb, macht seine Rundgänge, macht Termine mit den Mitarbeitern, nimmt an allen Meetings teil. Nicht, dass das schon genug wäre. Er macht auch manchmal einfach meine Entscheidungen rückgängig, ohne es mit mir abzusprechen, entlässt neue Mitarbeiter wieder oder erhöht Gehälter entgegen meinen Vereinbarungen. Ich frage mich, ob er es mir am Ende nicht zutraut, den Betrieb allein zu führen?" Diese oder ähnliche zweifelnde Fragen höre ich oft von Nachfolgern. Sie fühlen sich manchmal sogar gezwungen, die Gretchenfrage zu stellen: „Du oder ich?", schreibt Beatrice Rodenstock, geschäftsführende Gesellschafterin der Rodenstock – Gesellschaft für Familienunternehmen mbH, im Geleitwort zu meinem Buch Unternehmensnachfolge: Die Kunst des Loslassens.¹² Eng verflochten sind Mittelständler aber nicht nur im Familiären, sondern auch mit ihren Mitarbeitern und in der Region. Der klassische Mittelstand existiert nicht auf der grünen Wiese, er ist in seiner Heimat verwurzelt, übernimmt gerne und aktiv die gesellschaftliche Verantwortung, die sich ihm dort stellt. Man sieht sich, man kennt sich, ist in Vereinen, Verbänden, Parteien engagiert, kennt die Probleme, die anstehen, kann und will schnell und unbürokratisch helfen. Dabei geht es um mehr als Spenden oder Sponsoring. Der Mittelstand verbindet seine gesellschaftliche Verantwortung eng mit dem eigenen wirtschaftlichen Handeln, mit der Wertschöpfung, die seine unternehmerische Tätigkeit für die Gesellschaft erzeugt. Arbeits- und Ausbildungsplätze, Steueraufkommen – ein erfolgreicher Unternehmer nutzt der Gemeinschaft, in der (und von der) er lebt. Im Mittelstand weiß man um den Wert dieser Gemeinschaft, fördert ebenso selbstverständlich wie zurückhaltend Kultur und Sport. Und man weiß um den Wert von Ideen, schließlich ist auch das eigene Unternehmen aus einer Idee entstanden. Forschung, Entwicklung und regionale Bildungsförderung – vieles davon entsteht aus mittelständischen Initiativen. Egal ob es ein Lehrstuhl ist, eine Schule, ein Ferienprogramm für Schulkinder oder ein „Science Lab", in dem Studenten sich ausprobieren können: Überall in Deutschland wird die Forschungs- und Bildungslandschaft wesentlich durch mittelständische Teilhabe gefördert.

    Mehr als die Summe seiner Teile

    Im Begriff Mittelstand schwingt eine Menge mit – Geschichten vom Erfinden, Gründen, vom Unternehmen, vom Risiko und vor allem von ganz viel Leidenschaft und Verantwortungsgefühl. Das ist er, der Mittelstand, für den Deutschland in aller Welt bewundert wird. Eine typisch deutsche Angelegenheit, für die es – ähnlich wie für „Kindergarten" oder „Feierabend" – keine Übersetzung gibt. Der „German Mittelstand" gilt im Ausland als Erfolgsmotor der deutschen Wirtschaft, als Innovationstreiber.

    Ob in den USA, China, Großbritannien oder Frankreich – überall versuchen Unternehmer, Manager oder Berater, die Besonderheiten und Tugenden mittelständischer Unternehmen zu studieren, zu begreifen, zu adaptieren. Oder sie per Aufkauf zu erwerben. Aber das ist nicht so einfach, denn – siehe oben – Mittelstand ist eben mehr als Zahlen und Fakten. Dahinter steckt kein Management-by-Modell, das man kopieren kann. Dahinter stecken spezielle Unternehmertypen und über mehr als 100 Jahre gewachsene Strukturen. Wir alle kennen die Geschichten, oder? Ein gesundes mittelständisches Unternehmen wird zuerst an ein ausländisches Konsortium verkauft und bekommt dann ein hervorragend ausgebildetes Management verpasst. Puff – die Luft ist raus und wir können zusehen, wie der vorab prall gefüllte Ballon langsam zu Boden sinkt. Der Evolutionsforscher würde von Emergenz sprechen: Das Ganze ist eben mehr als die Summe seiner Teile.

    Diese Sichtweise ist nicht neu. Ludwig Erhard verkündete schon vor 65 Jahren seine Einschätzung: „Wenn wir Mittelstand nur vom Materiellen her begreifen, wenn man Mittelstand sozusagen nur an der Steuertabelle ablesen kann […], dann ist dem Mittelstandsbegriff meiner Ansicht nach eine sehr gefährliche Wendung gegeben. Der Mittelstand kann materiell in seiner Bedeutung nicht voll ausgewogen werden, sondern er ist […] viel stärker ausgeprägt durch eine Gesinnung und eine Haltung im gesellschaftswirtschaftlichen und politischen Prozess."¹³

    Gesinnung und Haltung

    Der deutsche Mittelstand hat der Welt also schon seit Erhards Zeiten etwas voraus. Es ist eine besondere Gesinnung, eine Haltung, die sich nicht kopieren oder adaptieren lässt. Geht es etwas genauer? Was macht die deutschen Mittelständler so erfolgreich? Wieso hat unsere Wirtschaft die Finanzkrise 2008/2009 vergleichsweise gut überstanden und wird vielleicht auch die aktuelle Corona-Krise gut überstehen? Warum sind wir – sowohl zum Neid als auch zum Leid der europäischen Nachbarn – Exportweltmeister und können trotz vergleichsweise niedriger Einwohnerzahl mit Wirtschaftsnationen wie den USA und China mithalten?

    Zwei Begriffswelten tauchen im Zusammenhang mit erfolgreichen Mittelständlern immer wieder auf: Wir sprechen zum einen von Inspiration und zündenden Geschäftsideen. Zum anderen sprechen wir von einem intrinsischen – also durch einen Sinn motivierten – Verantwortungsgefühl, das eng mit Freiheit korreliert. „Es ist immer etwas anderes, ob man eine Haltung wirklich hat oder ob man vor anderen oder sogar vor sich selbst sie zu haben vorgibt", sagte Hugo von Hofmannsthal. Inspirierte Unternehmen zeigen offensiv, woran sie glauben und warum sie tun, was sie tun. Sie realisieren einen inneren Zweck, haben klare Werte und geben ihrem unternehmerischen Wirken einen expliziten Sinn. Das ist es, was sie motiviert, tagtäglich Großartiges zu leisten. Durch diese Schaffenskraft mit Herz und Seele werden die Gefühle der Menschen angesprochen – die der Mitarbeiter, die der Kunden. Das macht den Mittelstand so erfolgreich. Während andere Unternehmen großartige Produkte herstellen können, mit perfektem Styling und coolen Gadgets, verkaufen Mittelständler ein Lebensgefühl, weil sie eine Haltung nicht nur vermarkten, sondern sie selbst leben. Durch den inneren Zweck, den Sinn, entsteht ein „Warum", das auch die Mitarbeiter motiviert. Intrinsisch motivierte Mitarbeiter sind in den heutigen komplexen Zeiten besonders wichtig. Durch ihr eigenverantwortliches Handeln helfen sie Organisationen dabei, mit komplexen Problemen umzugehen. Haltung und Gesinnung, Sinn und Werte schaffen dem Unternehmen eine breite Handlungsbasis, von der aus jeder Mitarbeiter und Kunde verstehen kann, was der Zweck des Unternehmens ist.

    Mittelständische Unternehmer bieten ihrem gesamten Umfeld Fußstapfen an, in die jemand treten könnte – Manager, Mitarbeiter, Auszubildende. Für die meisten Mittelständler ist es nicht nur unternehmerische Aufgabe, sondern auch große Freude, Werte wie Zuverlässigkeit und Integrität vorzuleben und weiterzugeben. „Sagen, was ich tue, tun, was ich sage": Die Rollenvorbilder in unserer Gesellschaft sind geprägt von einem massiven Wertewandel. Umso wichtiger ist es, dass es noch Menschen gibt, die Werte

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