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Solidarität
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eBook84 Seiten35 Minuten

Solidarität

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Über dieses E-Book

Wir haben nur uns.
Solidarität ist die Einsicht, dass die Ausgebeuteten, die Verdammten dieser Erde nur eine einzige Möglichkeit haben, ihre Rechte durchzusetzen: indem sie Mehrheiten bilden.
Unsere alten Gewissheiten zerbrechen aktuell an vielgestaltigen Krisen. Dem beizukommen wäre vornehmste Aufgabe der Politik. Doch die stellt sich kein gutes Zeugnis aus: Die einen klammern sich an den Glauben, dass die verlorene Normalität rückholbar ist. Die anderen wollen die Krisen mit Individualismus oder autoritären Maßnahmen meistern – und bedrohen damit den Rechtsstaat.
Natascha Strobl plädiert für einen dritten Weg: eine gemeinsame, antikapitalistische Klammer. Denn die Art, wie wir leben, produzieren und wirtschaften, muss sich grundsätzlich ändern. Das muss nichts Schlechtes bedeuten, wenn die Lösung echte Solidarität ist – ein kollektiver Wert, der individuelle Befindlichkeiten überwindet.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. März 2023
ISBN9783218013796
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    Buchvorschau

    Solidarität - Natascha Strobl

    1

    Zeitdiagnose: Was passiert hier gerade?

    Zu sagen, wir leben in Krisenzeiten, ist eine grobe Untertreibung. Energiekrise, Inflation, Pandemie, Rezession, Krieg in der Ukraine und über allem die Klimakrise. Diese verkürzt zudem drastisch die Zeit, die bleibt, um alle anderen Krisen zu lösen. Es ist also nicht eine Krise, sondern es sind viele Krisen, die sich gerade entfalten. Sie gehen ineinander über, türmen sich auf, verstärken einander und werden so zu einem großen, scheinbar undurchdringlichen Nebel, der unsere Gegenwart ist. Das Ganze ist mehr als die Summe der einzelnen Teile. Denn sehr viele dieser Krisen sind nicht neu. Im Gegenteil, für viele Menschen waren sie schon immer präsent.

    Neu ist allerdings, dass ein kollektives „Wir" ihre Auswirkungen spürt. Das bedeutet, dass die Krisen so evident geworden sind, dass sie nicht mehr zu leugnen sind, da sie sich Tag für Tag vor einer globalen Öffentlichkeit abspielen. Die Krise ist die Normalität. Die Krisen sind die Normalität. Die Auswirkungen vieler Krisen sind für sehr viele Menschen aber längst nichts Neues. Die Klimakrise ist für zahlreiche Länder des Globalen Südens seit Jahrzehnten ein Problem. Soziale Krisen und prekäre Arbeitsverhältnisse sind innerhalb unserer Gesellschaft schon seit langer Zeit für jene spürbar, die nicht zu den privilegierteren Schichten gehören. Neu ist allerdings, dass diese Krisen aus dem Dunklen ins Licht gerückt sind. Neu ist auch, dass die Krisenerfahrung nicht mehr partikular, sondern kollektiv ist. Die Krisen (be-)treffen fast alle.

    Krisen sind sehr viel Gegenwart und wenig Zukunft oder Vergangenheit. Das bedeutet, dass die (scheinbar) gute Vergangenheit kaum mehr erinnerlich ist. Wie war das vor der Pandemie? Es wirkt wie ein halbes Leben her. Dabei war das 2019. Genauso kommt uns aber auch die Zukunft abhanden. Es gibt keine auch nur halbwegs gesicherte Vorstellung davon, wie die Zukunft aussehen könnte. Vieles ist möglich, nichts ist sicher. Gleichzeitig passiert an einem Tag so viel, kommen neue Unsicherheiten hinzu, sodass sehr viel Energie schon mit der Aufrechterhaltung der eigenen Normalität verbraucht wird. Krise bedeutet eben nicht die große Heldengeschichte, sondern (Über-)Leben. Irgendwie durchkommen. Irgendwie Mittel und Wege finden. Krise bedeutet auch, dass Selbstverständlichkeiten zur Disposition stehen. Laurie Penny beschreibt dieses Gefühl wunderbar in ihrem Pandemie-Essay This is not the Apocalypse you were looking for: „It’s the end of the world as we know it, and everything feels fine – not fine, like chill, but fine like China, like glass, like thread. Everything feels so fine, and so fragile, and so shockingly worth saving."

    Wie ist es dazu gekommen, dass wir in einer stahlharten Glaswelt leben?

    Die unmittelbare Nachkriegszeit brachte für Deutschland und Österreich die Aufgabe, die (neuen) Verhältnisse zu stabilisieren und demokratische Institutionen und Strukturen (wieder) aufzubauen. Sprich: Versorgung sicherstellen, Wirtschaften aufbauen und gesellschaftlichen Zusammenhalt erschaffen. Die Übereinkunft über diese Notwendigkeiten und einen Ausgleich verschiedener und teilweise gegensätzlicher Interessen wurde vor allem jeweils von zwei Großparteien getroffen – einer sozialdemokratischen und einer konservativen. Bei allen nationalen Spezifika haben sich Parteien dieser Parteienfamilien als jene herauskristallisiert, die das Nachkriegssystem aufbauten und stabilisierten. Der Nachkriegskonsens basiert auf der Balance zwischen einem Wirtschaftssystem, das auf ökonomischer Ungleichheit aufbaut, und einem politischen System, das versucht, möglichst viel Gleichheit herzustellen. Ein kapitalistisches Wirtschaftssystem, gepaart mit starken Sozialstaaten. Dieser politische Konsens sorgte tatsächlich für Stabilität. Zumindest eine Zeitlang. Doch diese Stabilität war schon damals von Ein- und Ausschlüssen geprägt und hatte ihren Preis. So wurden Arbeitskämpfe in Verhandlungen nivelliert und wegverhandelt, statt am Arbeitsplatz ausgetragen zu werden.⁵ Der Konsens ging auch zulasten von Frauen, die in konservative Familienmodelle und finanzielle Abhängigkeiten gedrängt wurden. Der Mann geht arbeiten und die Frau bleibt daheim. Vielleicht gönnt sie sich ein, drei, fünf Gläser Schnaps, um das Leben im konservativen Nachkriegsmief zu ertragen. Diese Zeit des „Wirtschaftswunders wird auch heute noch oft gesellschaftspolitisch verklärt. Die notwendigen Arbeitskräfte für den Wirtschaftsaufschwung kamen jedoch aus anderen Ländern, das „Wunder war nur mit ihnen möglich.⁶ Gastarbeiter:innen wurden händeringend gesucht und dann ohne Integrationsmaßnahmen oder Staatsbürgerschaftsrechte in west- und mitteleuropäische Länder gebracht. Die irrige Idee war, dass diese Leute nur zu Gast waren und „danach auch wieder zurückgehen würden. Was auch immer dieses „Danach sein sollte: Es ist so nicht eingetreten. Denn es kamen Menschen an, wie es der türkische Musiker Cem Karaca 1984 in seinem gleichnamigen Lied ausdrückte.⁷

    Der wirtschaftliche Aufschwung der Länder West- und Mitteleuropas, insbesondere der Täterstaaten des Zweiten Weltkriegs, beruhte also auf klaren Rollenzuweisungen an Frauen und wurde auf den Schultern der Gastarbeiter:innen erarbeitet.

    Die politische Stabilisierung, die mit der wirtschaftlichen einherging, basierte nicht zuletzt auf Verdrängung und Vertuschung. Gab es bei den ersten, von den Alliierten durchgeführten Prozessen gegen NS-Täter:innen noch klare Urteile bis hin zu Todesstrafen, so begnügte man sich bald mit einem symbolischen „Klaps auf die Finger" und dem Wunsch nach Verzeihen, bis es in den 60er-Jahren zu den Auschwitz-Prozessen kam, für die Fritz Bauer als Chef der Anklagebehörden verantwortlich zeichnete.⁸ Dieses Verzeihen wurde

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