Zwölf Vorlesungen eines gewesenen Affen für eine Akademie: Menschwerdung
Von Gerd Mielke, Juan Perednik, Erik Kinting und Carsten Niemitz
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Über dieses E-Book
Der außergewöhnliche Gastredner zieht das Auditorium schnell in seinen Bann. Er, der neue wundersame Mensch, der Homo milagrensis, spricht vor dicht gedrängter Zuhörerschaft und berichtet über sein neues Leben in der Menschenwelt, seine sonderlichen Erfahrungen mit den Mit-Menschen und scheut sich auch nicht, der Frage nachzugehen, wieviel Affentum noch in den Menschen steckt. Der inhaltliche und erzählerische Bogen spannt sich dabei von Anekdoten aus dem Alltagsleben bis zu psychologischen Reflexionen – und von kurzen naturwissenschaftlichen Einlassungen bis hin zu philosophischen Ausblicken zum Schicksal des Menschen auf unserem Planeten.
Gerd Willy Mielke, 1945 bei Wittenberg auf der Flucht geboren, studierte über den zweiten Bildungsweg Psychologie, Psychotherapie und Biologie. Mehr als drei Jahrzehnte hatte er seinen Lebensmittelpunkt in Sucre, Bolivien. Fragen zur nachhaltigen Entwicklung und zur Menschwerdung auf verschiedenen Betrachtungsebenen standen stets im Mittelpunkt seines beruflichen Wirkens. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes und mehrerer bolivianischer Auszeichnungen.
Gerd Mielke
1945 bei Wittenberg auf der Flucht geboren, studierte über den zweiten Bildungsweg Psychologie, Psychotherapie und Biologie. Mehr als drei Jahrzehnte hatte Gerd Mielke seinen Lebensmittelpunkt in Sucre, Bolivien. Fragen zur nachhaltigen Entwicklung und zur Menschwerdung auf verschiedenen Betrachtungsebenen standen stets im Mittelpunkt seines beruflichen Wirkens. Er ist Träger des Bundesverdienstkreuzes und mehrerer bolivianischer Auszeichnungen. Siehe auch: www.gerdmielke.eu
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Rezensionen für Zwölf Vorlesungen eines gewesenen Affen für eine Akademie
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Buchvorschau
Zwölf Vorlesungen eines gewesenen Affen für eine Akademie - Gerd Mielke
Erste Vorlesung
Affe, das war einmal
Guten Tag – also … Guten Tag!
Ich freue mich … Guten Tag auch!
Also, meine sehr verehrten Damen und Herren von der Akademie, ich bitte um Nachsicht …
Also, meine ersten Worte kommen oft noch etwas unbeholfen über meine schmalen Lippen. Aber das gibt sich. Das werden Sie bald merken. Also … ich betrachte es als eine große Ehre, meine Vorlesungsreihe heute vor Ihnen beginnen zu dürfen. In Pandemie-Zeiten allerdings mit reduzierter Zuhörerschaft. Damit müssen wir leben. Wie auch immer, mein aufrichtiger Dank gilt Ihnen und den zahllosen Menschen, die mir dazu verholfen haben, dass ich es so weit bringen konnte. Und lassen Sie es mich gleich zu Anfang sagen: Ich, gewesener Affe, bin endgültig in der Menschenwelt angekommen! Und ich fühle mich wohl in ihr; ja, ausgesprochen wohl, auch hier bei Ihnen und mit Ihnen. Mit meinem artübergreifenden Weitblick sage ich Ihnen dazu auch gleich noch eins: Es gibt nichts Sonderbareres in unserer Welt als den Menschen, also die Menschen, äh, ich meine, uns Menschen.
Aber viele Jahre mussten vergehen – lange und beschwerliche Jahre nach meiner Gefangennahme an der Goldküste durch die Jagdexpedition Hagenbeck – bis zu diesem denkwürdigen Augenblick. Dabei ist seit den frevelhaften Schüssen auf unsere Schimpansengruppe, meine böse Verwundung und meine Einpferchung in den Gitterkäfig gerade einmal ein Jahrzehnt vergangen. Ich habe eben seit diesen ersten, erzwungenen Menschenkontakten ungeheuer viel gelernt, und in meinem Fall so rücksichtslos, dass die Affennatur, sich geradezu „überkugelnd", aus mir hinausraste.
Beim Vortragen meines ersten Berichts hatte ich mich noch gerühmt, die „Durchschnittsbildung eines Europäers" erreicht zu haben¹; heute gehöre ich längst zum erlauchten Kreis der Gelehrten – dank eines rigorosen, einmaligen, Artgrenzen sprengenden Lernprogramms, das selbstlose Menschen allein für mich entwickelt hatten.
An ein Zurück zu meinem Affendasein ist nun nicht mehr zu denken. Selbst äußerlich bin ich ziemlich Mensch, wie ich meine. Also, mein Aussehen, meine Erscheinung, mein kaum noch äffisches Benehmen, ja sogar meine spontanen Reaktionen erscheinen mittlerweile so angepasst und vermenschlicht, dass sich meine überwundene Affennatur gleichsam untergeordnet hat. Ich hoffe doch, Sie werden mir da beipflichten!
Und das alles, obwohl ich mich nicht verstelle. Ich bin einfach auf fantastische Weise in meiner Entwicklung vorangerast, so wie das keiner, nicht einmal in seinen kühnsten Träumen, hatte erwarten können. Meine, sagen wir, individuelle Evolution war eben sprunghaft. Sie als ehrenwerte Mitglieder der Akademie werden in Ihrer Fachterminologie zu dem Schluss kommen, dass meine Entwicklung ontogenetisch und phylogenetisch zugleich gewesen war. Und sie hat zu meiner großen Befriedigung nicht vor meiner intellektuellen Entfaltung Halt gemacht.
Aber zur Sache: Niemand konnte ernsthaft damit rechnen, was mir widerfahren ist, und was ich erreicht habe – am wenigsten ich selbst. Als Affe im Käfig war es zuerst wohl auch nicht mehr als eine wahnwitzige Idee von mir, den Menschenausweg zu suchen. Keinem Affen vor mir und keinem nach mir ist Ähnliches auch nur im Traum eingefallen.
Aber, warum eigentlich nicht? Es heißt doch, dass bei Schimpansen und Menschen nahezu 99 Prozent des Erbguts übereinstimmten. Somit könnte man schlussfolgern, dass ihre Artgrenzen gleichsam verschwimmen und Schimpansen eigentlich fast Menschen sind und Menschen fast Schimpansen.
In diesem Sinne argumentierte auch mein Doktorvater, wenn er weise anmerkte: »Nein, der Mensch stammt nicht vom Affen ab – er ist einer.« Der abgeleitete Schimpansenname nach dem Bantuwort Kivili-chimpenze deutet ja auch darauf hin: Schein-Mensch heißt es da übersetzt.
Könnten sich somit im Prinzip alle meine früheren Artgenossen auf meinen Entwicklungsweg begeben? Nein, das nun doch nicht! Es hat dazu genügend, allesamt gescheiterte Versuche gegeben, verschiedenen Affenarten echt menschliche Eigenschaften anzutrainieren, wenn auch schon erstaunlich viel Menschentypisches an Affen zu erkennen ist. Aber Menschen sind eben besondere Menschen-Affen.
Beliebt sind bei Verhaltensforschern Sprachexperimente mit Schimpansen. Doch auch diese vielversprechenden Versuche erbrachten nicht den erhofften Durchbruch. Hier deutet sich also schon an: Die Artunterschiede zwischen Schimpanse und Mensch sind fundamental; die Trennung der Entwicklungslinien beider Arten liegt ja wohl auch mehr als sechs Millionen Jahre zurück. Neben den kleinen aber feinen Unterschieden in der Genstruktur muss man auch bedenken, dass verschiedene Erbgutabschnitte eine unterschiedliche Expressivität haben, wie meine Kollegen betonen, die sich mit der sogenannten Epigenetik beschäftigen. Es kommt somit nicht allein auf die Gene an, sondern auch darauf, wie stoffwechselaktiv bestimmte Genabschnitte sind. Bei allem tun sich zwischen Schimpanse, Pan troglodytes, und Mensch, Homo sapiens, jedenfalls noch Abgründe auf, wenngleich ich persönlich diese durch unendliche Mühen und Qualen auf fantastische Weise zu überbrücken vermochte.
Aber ich bin eindeutig ein Sonderfall, ein einzigartiger Mensch. Anthropologen und Taxonomen und andere schlaue Menschen haben sich kürzlich darauf geeinigt, mich gesondert zu klassifizieren. Sie untersuchten mich von oben bis unten und von allen Seiten, und nicht einmal meinem ärgsten Widersacher wünsche ich eine solch entlarvende Prozedur. Die Forscher kamen dabei einstimmig zu dem Ergebnis, von einem absolut ungewöhnlichen, ja einmaligen Entwicklungs-Zeitsprung in meinem Dasein zu sprechen und mich als Homo milagrensis, als wundersamen Menschen zu bezeichnen.
So wie andere Menschen habe auch ich meine Lieblingsbeschäftigungen. Zu denen gehört für mich natürlich der Zoobesuch. Auf Reisen allerdings nur dann, wenn ich in Orten umherziehe, wo ich nicht dazu komme, Tiere und Pflanzen in ihrer eigentlichen Umgebung zu erleben. Ich kenne mittlerweile eine beträchtliche Anzahl von Zoos, weltweit. Neben unserem Hamburger Tierpark Hagenbeck den Zoológico Municipal von Santa Cruz in Bolivien, den Accra Zoo in Ghana und viele andere mehr. Wie magisch werde ich immer wieder von den Tiergehegen angezogen und habe auf diese Weise schon manch wichtigen Termin in verschiedenen Städten verbummelt. Wenn ich unter Tieren und tierliebenden Menschen bin, sind wir sozusagen unter uns. Die Affengehege haben es mir besonders angetan. Von dort müssen mich die Aufpasser abends kurz vor Toresschluss oftmals regelrecht wegzerren. Ich kann in solchen Momenten richtig widerwillig werden. Einmal habe ich dabei in meiner Erregung einem Zoowärter nach Affenart so heftig in die Hand gebissen, dass sie blutete. Das war in Santa Cruz. Zwei Aufseher schleppten mich aufgebracht und wild gestikulierend im Polizeigriff ins Büro des Zoodirektors. Der Alte packte gerade seine Sachen, brabbelte noch etwas, was so klang wie terminar la jornada und wohl Feierabend bedeutete, und wetterte dann fürchterlich von seinem übergroßen Schreibtisch aus. Ich schlitterte haarscharf an einer Strafanzeige vorbei. Doch es ging nicht ohne lebenslanges Hausverbot. Schade, Pech gehabt, dachte ich noch bei mir. Allein durch die Fürsprache einiger guter einheimischer Cruceños, die den peinlichen Vorfall mit meiner beispiellosen Tiernähe zu erklären versuchten, und durch die Zahlung eines Schmiergeldes konnten wir die Angelegenheit schließlich doch noch menschenwürdig bereinigen.
Bei meinen Affen erkenne ich eben alle Regungen und Bewegungen und weiß ihr differenziertes Minenspiel leicht zu deuten. Sie sind zuweilen unbändig und laut. Sie schreien, bellen und kreischen; das entspricht meiner Natur. Ich versetze mich in ihre Lage, wenn sie sich balgen, um ihren Rang streiten, Futter gegen Kuscheln eintauschen und bedauere dabei insgeheim, dass sie keinen Ausweg gefunden haben, so wie ich – von Freiheit ganz zu schweigen.
Bei allem ist schwer zu übersehen, wie eng und monoton die Gehege in den meisten Zoos sind. Wie eingepfercht müssen sich die Tiere dort fühlen! Menschen, die nie Affen waren, haben keinen richtigen Blick dafür. Ich hingegen weiß gut, was den Kreaturen behagt: die unermessliche Fülle von pflanzlichem Grün und wildem Leben wohin man schaut, vom dunklen Urwaldboden bis hoch zu den lichten Baumwipfeln, die ewige Feuchtigkeit des Regenwaldes, die sich auf den Blättern und Blüten in Tropfen fängt, das einzigartige Konzert von Insekten, tropischen Vögeln und all den anderen Bewohnern des Urwalds, das blinkende Sonnenlicht, wo es seinen Weg durch die Baumkronen findet …
Auffälliges Verhalten der Zootiere in kargen Gehegen ist somit vorprogrammiert. Wie oft musste ich mitansehen, dass meine Affenfreunde in stereotype Verhaltensweisen verfielen. So liefen sie zum Beispiel an Gittern und Wänden auf und ab, wippten ihre Körper ständig hin und her und zeigten ungewöhnlich aggressives Benehmen. Ich litt mit den Tieren, besonders mit denen, die sich selbst schlugen, an ihrer Behaarung beziehungsweise an ihrem Fell rissen oder sich sogar Selbstverstümmelungen zufügten. Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass viele Leidensgefährten medikamentös eingestellt sind, wie es im medizinischen Fachjargon beschwichtigend heißt. Ihre geschwollenen roten Augen verraten es mir. Die Tierärzte behandeln so die Zoochosen, also die Psychosen bei Zootieren.
Beim stillen Beobachten meiner tierischen Gefährten kommen oft alte Erinnerungen aus meiner früheren Affenzeit im Regenwald in mir hoch. Dabei wird mir mitunter klar, dass ich mein tierisches Vorleben fast vollständig verdrängt hatte. Doch es ist nicht unwiederbringlich aus meinem Gedächtnis verschwunden. Hie und da setzen sich Erinnerungsfetzen wie Mosaiksteinchen wieder zu Bildern aus meiner Kindheit und Jugend zusammen, spannende Bilder, bewegte Szenen in guten Momenten, manchmal wie aus einem anderen Leben.
Selbstverständlich setze ich meine frühe Affennatur mit meiner neuen Menschensicht in Beziehung, und meine Gefühle reichen von Verblüffung bis Bestürzung. Ich beäuge zum Beispiel die Visage meiner Affenfreunde, ihre fliehende Stirn und ihre großen Augenwülste. Dabei befällt mich Missbehagen. Wohl deshalb, weil ich schon als junger Affe durch einen vergleichsweise hohen Kopf aufgefallen war. Dadurch war ich anders, irgendwie fremd in meiner Gruppe. Leider wurde ich deshalb auch vielfach gehänselt. Doch heute weiß ich, dass ich in vielen brenzligen Situationen einfach klug