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Der Tod kam zur blauen Stunde: Nora Nieberg ermittelt
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Der Tod kam zur blauen Stunde: Nora Nieberg ermittelt
eBook304 Seiten4 Stunden

Der Tod kam zur blauen Stunde: Nora Nieberg ermittelt

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Über dieses E-Book

In ihrem kleinen Wohnort Bergental im hessischen Mittelgebirge hat Nora Nieberg inzwischen viele Freunde und auch die große Liebe gefunden. Eines Tages taucht ihre liebenswürdige und vielseitig begabte Tante Ulla bei ihr auf, die den Großteil ihres Lebens im Ausland verbracht hat und nun wieder mehr Kontakt zur Familie sucht. Der plötzliche Tod eines im Ort nicht besonders beliebten Mannes lässt Nora und ihre Tante daran zweifeln, dass es sich bei dem Todesfall um einen Unfall gehandelt hat. Gleichzeitig taucht eine Akte in den Unterlagen von Noras Mutter auf und Nora macht sich auf die Suche nach einem verschollenen Vater. Verdächtige Personen finden sich bei den Recherchen so einige, denn die Idylle in Bergental trügt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum25. Okt. 2021
ISBN9783347424739
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    Buchvorschau

    Der Tod kam zur blauen Stunde - Cynthia Lotz

    Prolog

    Vor dem örtlichen Supermarkt, der gleichzeitig der Platz war, wo sich die Dorfbevölkerung auf ein Schwätzchen traf, bildeten sich zwei Menschentrauben. Diese blickten sich zunehmend unfreundlicher an.

    Nora wusste nicht, wie früher der Zusammenhalt im Ort gewesen war. Vermutlich war es nie anders als heute. Wenn sich Außenstehende gegen den Ort wandten, hielten alle zusammen, aber innerhalb des Ortes ließ man seine Meinung zur Ideologie anwachsen und bekämpfte sich. Wobei das Thema nicht entscheidend war. Jedes Thema war dafür geeignet. Manchmal ging es um den Bau von Windkraftanlagen, manchmal um den Bau einer Autobahn. Selbst als es keine Einkaufsmöglichkeiten im Ort gab und der örtliche Supermarkt gebaut werden sollte, entzweite das die Menschen.

    Generell zu sagen, dass die einen alles so belassen wollten wie bisher und die anderen genau dies ändern wollten, wäre zu einfach gewesen. Wer gegen den Bau von Windkraftanlagen war, konnte gleichzeitig für den Bau einer Autobahn sein oder umgekehrt. Man konnte es weder in Verbindung mit Parteizugehörigkeit bringen noch in Verbindung mit dem Unterschied zwischen Alteingesessenen und Zugereisten. Nora vermutete, dass Gefühle und finanzielle Eigeninteressen dabei meist eine größere Rolle spielten als vernünftige Argumente. Und Emotionen waren bei dem heutigen Thema im Übermaß vorhanden.

    Montag, 14. September

    Nora hatte die Morgenrunde mit ihrem Hundewelpen Woody hinter sich gebracht. Dieser war noch nicht stubenrein, aber er bemühte sich immer mehr darum, es zu werden. Zu Hause angekommen, erwarteten sie die Kater Robin und Satchmo. Zu sagen, dass deren Begeisterung über den Familienzuwachs in Form eines quirligen Welpen sich in Grenzen gehalten hätte, würde nicht der Wahrheit entsprechen. Sie hassten ihn regelrecht. Sie verprügelten ihn, wenn er versuchte zu spielen oder freundlich zu sein. Manchmal reichte es, dass er sich nur bewegte. Aber die Natur forderte ihren Tribut. Irgendwann überkam die Kater die Müdigkeit. Wenn sie danach aufwachten, hatte sich ein kleines Wollknäuel an sie geschmiegt. Bis der Zustand von hellwach erreicht war, empfanden sie dies als ausgesprochen angenehm und im Laufe der letzten Woche hatten sich alle drei aneinander gewöhnt und Frieden miteinander geschlossen. Nora hatte Satchmo inzwischen mehrfach dabei beobachtet, wie er sich, nachdem er das Haus betrat, an dem Welpen zur Begrüßung rieb. Woody war das zwar noch immer nicht geheuer, aber Nora vermutete, dass er schon glücklich war, nicht von ihm geschlagen zu werden. Robin versuchte, ihn zu ignorieren.

    Nora verteilte Futter. Sie stellte die Schüsseln mit respektvollem Abstand voneinander auf. Sie nahm die Position des Aufsehers ein und achtete penibel darauf, dass jeder seine Portion bekam.

    Danach ging sie in ihren Garten, gefolgt von Woody, um am Ende ihres Grundstückes nach den Pferden zu sehen. Kurz bevor sie bei den Pferden ankam, nahm sie Woody auf den Arm, um zu verhindern, dass er unter die Pferdehufe geriet. Nurabi, Noras Fohlen, kam neugierig auf beide zu. Sein warmer Atem gefiel Woody gut und er leckte Nurabi über dessen Maul. Das war ein guter Start für eine Freundschaft zwischen Pferd und Hund. Die Stuten Taiga und Habibi kamen an den Zaun. Auch sie interessierten sich für den Welpen. Habibi, eine Rappstute, war die Mutter von Nurabi. Taiga, eine Schimmelstute, hatte auch ein Fohlen. Fahd war ein paar Tage jünger als Nurabi und hielt sich noch verschüchtert zurück. Die Pferde Habibi, Taiga und Fahd gehörten Franka und Dirk. Diese beiden waren gute Freunde von Nora. Sie betrieben den örtlichen Biohofladen und eine kleine, hobbymäßige Vollblutaraberzucht.

    Es wurde Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Sie wandte sich dem Haus zu und setzte nach ein paar Metern Woody auf den Boden, in der Hoffnung, er würde ihr folgen. Was er auch tat.

    Im Haus angekommen ging sie in ihr Büro und Woody legte sich zum Schlafen in sein Körbchen. Nora arbeitete von zu Hause aus als selbstständige Hausverwalterin und empfand das als Luxus, da sie sich die Zeit einteilen konnte.

    Nachdem sie eine Stunde konzentriert gearbeitet hatte, klingelte es an der Haustür. Das machten üblicherweise nur Lieferanten und Kunden. Wobei Letztere meistens vorher einen Termin ausmachten. Alle anderen kamen durch Vorgarten, Garten und Wintergarten, meist laut nach ihr rufend, direkt ins Haus. Heute hatte sie aber weder einen Kundentermin, noch erwartete sie eine Lieferung. Sie ging zur Haustür und öffnete sie.

    Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit ihr.

    Vor ihr stand eine kleine, übergewichtige Frau in sehr farbenprächtiger Kleidung mit einem bunten Hut auf dem Kopf. Auf dem Woodstock Festival wäre sie vermutlich nicht aufgefallen, aber in der heutigen Zeit hier in Bergental wirkte sie so exotisch wie ein Papagei am Nordpol.

    „Tante Ulla", begrüßte Nora sie erstaunt.

    „Kind, du siehst ja großartig aus. Lass dich drücken", erwiderte Tante Ulla strahlend. Sie schnappte sich Nora und zog sie an ihre riesigen Brüste. Nora fragte sich, ob man jemanden zwischen seinen Brüsten ersticken konnte und ob das dann Mord oder fahrlässige Tötung war. Tante Ulla plante offensichtlich nichts davon und ließ Nora wieder frei. Nicht ohne sie mehrfach auf die Wangen geküsst zu haben.

    Links und rechts von Tante Ulla standen mehrere große Koffer. Nora strahlte ihre Tante an.

    „Komm erst einmal herein."

    Sie half ihrer Tante, die Koffer im Flur abzustellen, und beide gingen in die Küche. Nora schenkte zwei Tassen Kaffee ein und stellte sie auf den Tisch.

    „Dich zu sehen ist ja wirklich eine unerwartete, aber wunderschöne Überraschung. Ich freue mich sehr. Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?"

    Tante Ulla setzte sich aufrecht hin, trank einen Schluck Kaffee und begann zu erzählen:

    „Ich war das letzte Mal zur Beerdigung deines Vaters in Deutschland. So viele Jahre war ich in Neuseeland und der restlichen Welt unterwegs, aber jetzt werde ich alt und hatte Sehnsucht nach meiner Familie. Da du fast die einzige Familie bist, dachte ich mir, dass ich mit einem Besuch bei dir beginne."

    Tante Ulla war die Schwester von Noras verstorbenem Vater. Außer Nora und ihrer Schwester Simone, die als Journalistin in Berlin lebte, hatte sie keine weiteren Verwandten mehr. Sie war inzwischen 70 Jahre alt, noch immer quirlig und lustig, aber aufgrund ihres starken Übergewichtes wohl gesundheitlich nicht mehr auf dem Höhepunkt ihrer Leistungsfähigkeit. Nora hatte sie immer sehr gemocht. Ihre Tante war weltoffen, aufgeschlossen für die verrücktesten Ideen, kein bisschen berechnend und der warmherzigste Mensch, den Nora kannte. Sie freute sich sehr, ihre Tante wiederzusehen.

    „Wie geht es dir, meine liebe Nora? Du wirst immer hübscher. Wie ich sehe, hast du dir hier ein richtig gemütliches Zuhause geschaffen. Du wolltest schon als Kind gern viele Tiere um dich haben. Wie ist es dir so ergangen? Wie geht es deinem Mann Carlos? Habt ihr inzwischen Kinder? Und wieso lebt ihr nicht mehr in Frankfurt?"

    Nora schenkte Kaffee nach.

    „Carlos und ich sind seit vier Jahren geschieden. Zunächst hatte ich den Eindruck, dass wir beide vor sieben Jahren aufs Land ziehen wollten, aber zum Schluss stellte sich heraus, dass nur ich es wollte. Er lebt jetzt in einer Vorstadt von Frankfurt, ist inzwischen wieder verheiratet und Vater einer kleinen Tochter. Wir hatten keine Kinder. Ich bin hier sehr glücklich. Bergental ist ein herrlicher Ort zum Leben. Wenn mir der Sinn nach Stadt steht, habe ich Marburg, Gießen, Fulda, Kassel und Frankfurt zur Auswahl. Tatsächlich brauche ich die Städte aber von Jahr zu Jahr immer weniger. Ich genieße die Mittelgebirgslandschaft mit ihren sanften Hügeln und grünen Tälern. Ich habe hier sehr nette Nachbarn, wunderbare Freunde und einen Partner, den ich sehr liebe. Oliver ist Tierarzt. Ich hoffe, du kannst lange genug bleiben, dass ich dir alle vorstellen kann. Das einzig Schlimme ist, dass Mama tot ist. Das ist aber eine längere und leider sehr traurige Geschichte, die ich dir einmal in Ruhe erzählen muss."

    „Ich weiß. Da ich nicht wusste, wo du wohnst und Simone übers Internet in ihrer Redaktion leicht ausfindig zu machen war, habe ich bereits mit ihr telefoniert und sie hat mir das Wichtigste erzählt. Sie gab mir auch deine Adresse. Ich habe in einem Frankfurter Hotel zwei Tage meinen Jetlag ausgeschlafen und bin dann direkt hierhergefahren. Ich wollte dich überraschen."

    Nora dachte, dass Simone ihr unmöglich das Wichtigste hat erzählen können, da sie dies nicht wusste. Aber das war kein Thema für jetzt.

    „Du hattest Glück, mich hier anzutreffen. Im Augenblick verbringe ich viel Zeit in Mamas Haus. Ich muss es ausräumen und entscheiden, was damit geschehen soll. Aber das kann ich wegen meiner Arbeit als Hausverwalterin und der Tiere immer nur stundenweise erledigen. Wie sehen denn deine weiteren Pläne aus?"

    Tante Ulla blickte sich suchend um.

    „Hättest du vielleicht irgendeine Kleinigkeit zum Knabbern für mich? Mein Blutzuckerspiegel sinkt gerade etwas ab."

    Nora sprang auf, entschuldigte sich für ihre Unhöflichkeit und kramte aus einer Schublade eine Packung Kekse heraus, die sie auf einem Teller ausbreitete. Während sie mit dem Rücken zu Ulla stand, antwortete diese:

    „Ach, so richtig konkrete Pläne habe ich noch nicht. Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gerne ein paar Tage bei dir bleiben. Wie es dann weitergeht, werde ich dann sehen."

    Nora spürte am Tonfall, dass die Kekse ein Ablenkungsmanöver gewesen waren, damit ihre Tante ihr bei dieser Erklärung nicht ins Gesicht sehen musste. Tante Ulla hatte immer irgendwelche Pläne. Meistens reichten diese nicht über ein paar Tage hinaus, aber trotzdem spürte Nora, dass irgendetwas nicht stimmte.

    „Du kannst so lange bei mir wohnen bleiben, wie du möchtest. Mein Gästezimmer steht dir immer zur Verfügung. Ich weiß nicht, wo inzwischen deine Prioritäten liegen, du hast in Megacitys, in Kleinstädten und auf Dörfern gelebt. Keine Ahnung, was du auf Dauer planst. Falls du dir vorstellen könntest, auch langfristig in meiner Nähe zu wohnen, aber lieber selbstständig und allein, dann würde ich dir gerne Mamas Haus in Alsfeld anbieten. Dann könnte ich fast alles drin lassen. Allerdings habe ich als Hausverwalterin auch Zugriff auf Wohnungen, die zur Vermietung anstehen, wenn dir ein Haus zu groß ist. Aber all das hat Zeit, jetzt bist du erst einmal bei mir und bleibst bei mir, solange du willst."

    Tante Ulla blickte unter sich und schluckte. Nora vermutete, die Tante hatte Tränen in den Augen. Sie stand auf und nahm sie in ihre Arme:

    „Herzlich willkommen in Bergental und bei mir."

    ***

    Nachdem beide das Gepäck der Tante ins Gästezimmer gebracht hatten und Ulla sich eingerichtet hatte, kam sie die Treppe herunter und betrat die Küche. Dort stand ein sehr gutaussehender Mann mit lockigen schwarzen Haaren, tief dunkelbraunen Augen, einem Dreitagebart und blickte sie erstaunt an.

    „Sie müssen Oliver sein. Ich bin die Tante von Nora. Ulla Esch. Freut mich, Sie kennenzulernen. Sie können mich Ulla nennen."

    „Freut mich auch. Sehr gerne. Nora hat mir gar nichts von deinem Besuch erzählt."

    „Ich wollte sie überraschen."

    „Wo ist Nora denn?"

    In diesem Augenblick betrat Nora die Küche. Sie hatte einen großen Stapel Umzugskartons aus dem Keller geholt und in ihr Auto geladen.

    „Wie ich sehe, habt ihr euch schon miteinander bekannt gemacht. Hallo Schatz."

    Sie ging auf Oliver zu und küsste ihn zur Begrüßung.

    „Wir können auch gleich essen. Ich habe frisches Brot gekauft."

    Sie wandte sich an Tante Ulla:

    „Mittags gibt es bei mir einen Brunch. Gekocht wird immer erst abends. Aber jetzt, wo du hier bist, können wir das auch ändern."

    „Nein, das ist schon in Ordnung. Mir ist alles recht", antwortete Ulla.

    Sie setzten sich an den Tisch und Nora stellte das frische Brot, Butter, Käse, gekochte Eier, Marmelade, Honig und Gelee auf den Tisch. Sie setzten sich und Oliver wollte wissen, wo Ulla überall auf der Welt gewesen war.

    „Ich bin viel rumgekommen. Ich war an so vielen Orten auf der Welt, dass ich sie kaum aufzählen kann. Aber die meisten davon waren nur Visafluchten, wie ich es nenne. Mein Herz gehörte immer Neuseeland. Ich hatte aber leider weder genug Geld, um mich dort einzukaufen, noch hatte ich einen gesuchten Job und heiraten ging auch nicht. Das bedeutete, wenn meine Visa abgelaufen waren, musste ich immer erst einmal eine Zeitlang Neuseeland verlassen. Weshalb ich in den letzten Jahren zu sehr vielen Länderstempeln in meinem Reisepass kam. Ich liebe Neuseeland. Es tat mir immer gut. Aber nun war es Zeit heimzukehren."

    Sie blickte wehmütig in den Garten und fügte, in Gedanken an Neuseeland, hinzu: „Aotearoa, mein ‚Land der langen weißen Wolke‘."

    Nora und Oliver schwiegen. Sie wussten, sie würden noch viele Geschichten von ihr erfahren. Nora stand auf und räumte den Tisch ab. Oliver half ihr. Tante Ulla wollte aufstehen, aber Nora forderte sie auf, sitzen zu bleiben.

    Nora wollte über Mittag ins Haus ihrer Mutter fahren und fragte Ulla, ob sie mitwollte oder lieber ausruhen wollte. Ulla entschied sich mitzukommen.

    Sie fuhren nach Alsfeld zum Haus der Mutter. Während der Fahrt sagte Ulla:

    „Oliver passt gut zu dir. Carlos hat nie zu dir gepasst."

    „Das weiß ich jetzt auch", lachte Nora.

    Nora lud die Umzugskartons aus und gemeinsam betraten sie das Haus. Alles im Haus erinnerte Nora an ihre Mutter.

    Nora begann, die Kartons aufzubauen und die Unterlagen auf dem Schreibtisch ihrer Mutter zu sortieren. Was weggeworfen werden konnte, kam in den Aktenvernichter, der Rest in den Karton. Ulla lief durch das Haus, kam zurück und fragte erstaunt:

    „Hatte Gisela keine Pflanzen?"

    „Die habe ich als Allererstes zu mir geholt. Ich wollte nicht jedes Mal zum Pflanzen gießen hierherfahren."

    „Ich könnte so nicht leben. Alles so elegant und Ton in Ton."

    Nora lachte. Das glaubte sie Ulla sofort. Jedes Hippiezelt hätte besser zu Ulla gepasst als diese Umgebung, die Stil und Geld ausstrahlte. Die Hoffnung, ihre Tante dazu zu bewegen, das Haus zu beziehen und sich die Arbeit zu ersparen, es komplett ausräumen zu müssen, zerplatzte wie eine Seifenblase.

    Nora merkte, dass ihre Tante sich überflüssig fühlte, und schlug ihr vor, zum historischen Marktplatz zu gehen und sich dort in eines der Straßencafés zu setzen. Sie würde sie später dort abholen. Diese Idee gefiel Ulla gut.

    ***

    Ulla steuerte die, direkt auf dem Marktplatz gelegene, Eisdiele an. Das Wetter war spätsommerlich warm, die Sonne schien und die Welt zeigte sich von ihrer schönsten Seite. Die Eisdiele war gut besucht, was bedeutete, dass kein Tisch mehr frei war. Ulla ging zielgerichtet auf einen Tisch zu, an dem eine einzelne Dame saß. Sie strahlte die Frau an und fragte, ob sie sich dazu setzen dürfte. Die Dame nickte. Ulla setzte sich und begann sofort ein Gespräch. Die Frau hatte nur die Wahl, zwischen flüchten oder sich auf das Gespräch einzulassen. Sie entschied sich für das Gespräch. Ulla gelang es fast immer, innerhalb kürzester Zeit die Menschen dazu zu bewegen, ihr alles über sich zu erzählen. Die Frau stellte sich als Elfriede Schneider vor. Sie lebte in Hannover und verbrachte seit Jahren jeden Urlaub in Alsfeld. Alsfeld ist ein sehr schönes Fachwerkstädtchen mit einem weltberühmten Rathaus. Tausende Japaner kommen allein deswegen jedes Jahr auf ihrer Europareise hierher. Aber Ulla konnte sich keinen vernünftigen Grund vorstellen, warum man jahrelang seinen Urlaub in Alsfeld verbringen sollte. Tante Ulla wäre nicht Tante Ulla gewesen, wenn sie dieses Geheimnis nicht lüften würde. Kurz zögerte Elfriede Schneider, aber dann begann sie zu erzählen:

    „Vor fünf Jahren kam ich das allererste Mal nach Alsfeld. Es war Anfang Juni. Das Wetter war herrlich warm. Meine Freundinnen hatten mir in einem Alsfelder Hotel ein Wellnesswochenende geschenkt. Mein Mann war damals seit zwei Jahren tot und ich, damals 60 Jahre alt, kam damit noch immer nicht klar. Am ersten Abend meines Aufenthaltes hier lernte ich Hermann kennen. Er bezauberte mich vom allerersten Augenblick an. Ich hatte das Gefühl, er sei seelenverwandt mit mir. Er war nett, zurückhaltend und charmant. Er erzählte mir, dass er bei Bekannten zu Besuch sei und ansonsten in Frankfurt wohne. Wir verbrachten fast eine ganze Woche zusammen. Ich hatte im Hotel nachgebucht, nur damit ich länger mit ihm zusammen sein konnte. Es war wie im Märchen. Plötzlich war meine Traurigkeit wie weggeblasen, ich konnte wieder Lachen und wir liebten uns wie Teenager. Er zeigte mir die ganze Umgebung. Wir hatten einen Leihwagen, da wir beide mit dem Zug angereist waren. Leider hatte ich nicht auf das Kennzeichen geachtet. Nach einer Woche musste er wegen nicht aufschiebbarer Termine wieder nach Frankfurt und ich fuhr wieder heim. Wir tauschten Adressen und Telefonnummern und versprachen uns, uns so bald wie möglich wiederzusehen."

    Elfriede Schneider atmete tief ein und trank einen Schluck ihres Eiskaffees.

    Ulla betrachtete die schlanke Frau mit den brünetten Haaren und den braunen Augen. Sie ahnte, dass die Geschichte kein glückliches Ende nehmen würde. Sie ließ Frau Schneider Zeit, sich zu sammeln, nickte nur bestätigend in deren Richtung und nahm zwei weitere Löffel Eis zu sich. Elfriede Schneider fuhr fort:

    „Kaum zu Hause angekommen, wollte ich ihn sofort anrufen, aber ich wartete erst noch einmal ab. Vielleicht würde er anrufen. An dem Abend kam kein Anruf mehr. Ich machte mir Sorgen, ob er gut zu Hause angekommen sei, und rief am nächsten Morgen die angegebene Nummer an. Die Stimme am Telefon teilte mir mit: Diese Nummer ist nicht vergeben. Zunächst dachte ich, er hätte vielleicht einen Zahlendreher in der Nummer. Dann recherchierte ich seinen Namen und fand diesen mehrfach in Frankfurt. Und nicht nur dort. Hermann Schmidt ist nicht unbedingt ein sehr seltener Name in Deutschland. Es ist mir peinlich zuzugeben, aber ich rief sie alle in ganz Frankfurt an. Keiner davon war mein Hermann. Ich habe nie wieder etwas von ihm gehört. So verbringe ich nun jeden Urlaub hier, in der Hoffnung, ihn irgendwann einmal wiederzusehen und eine Erklärung für sein Verhalten zu bekommen. Diese Funkstille fühlt sich an, als hätte jemand Selbstmord begangen und man weiß nicht, warum. Es gibt keinen Endpunkt. Ich dachte, der Tod meines Mannes sei schlimm gewesen, aber dieses wortlose Verschwinden ist viel, viel schlimmer."

    Erschöpft lehnte sie sich zurück.

    Ulla legte ihre Hand auf die Hand von Frau Schneider und sagte mitfühlend:

    „Es gibt nicht viel, was schlimmer ist. Haben Sie ein Foto von ihm und sich? Schicken Sie es mir via WhatsApp. Ich werde mich umhören und umsehen. Vielleicht kennt ihn irgendjemand oder weiß, bei wem er damals zu Besuch war. In welchem Hotel wohnen Sie denn? Ist es dasselbe wie damals?"

    Ulla war klar, dass es dasselbe Hotel war. Frau Schneider bestätigte es. Sie tauschten ihre Telefonnummern aus und Frau Schneider schickte ihr ein Foto von sich und Hermann und eines von Hermann allein. Man sah ihm auf beiden Fotos an, dass es ihm nicht gefiel, fotografiert zu werden.

    Ulla sah Nora auf sich zukommen, sie verabschiedeten sich und versprachen, sich gegenseitig zu informieren, sollte eine etwas in Erfahrung bringen. Frau Schneider teilte Ulla mit, dass sie erst heute angekommen sei und für eine Woche gebucht hätte. Sie würde sich freuen, Ulla noch einmal zu treffen, sollte diese Lust und Zeit dafür aufbringen. Ulla meinte, dass sich bestimmt noch einmal eine Gelegenheit dazu ergeben würde. Dann ging Ulla Nora entgegen und beide gingen gemeinsam zum Auto. Ulla erzählte von dem Gespräch. Nora konnte zwar nicht nachvollziehen, dass man über fünf Jahre einer einwöchigen Urlaubsbekanntschaft hinterhertrauern konnte, aber trotzdem tat ihr die Frau leid. Sie hatte nie einen solchen Kontaktabbruch erlebt. Dass ein solcher einen sehr lange beschäftigen konnte, konnte sie sich trotzdem vorstellen.

    An diesem Abend hatte Oliver etwas anderes vor und Nora und Ulla verbrachten den Abend zu zweit. Nachdem sie gegessen hatten, gingen sie früh schlafen. Ulla hatte den Jetlag immer noch nicht überwunden.

    Dienstag, 15. September

    Vormittags hatte Nora im Büro viel zu erledigen. Es gab, in einer, von ihr verwalteten Wohnung, einen Wasserrohrbruch. Sie musste einen Installateur finden, der sofort kommen konnte. Sie hatte zwar einen Pool von festen Handwerkern, mit denen sie seit Jahren zu ihrer vollsten Zufriedenheit zusammenarbeitete, aber gerade jetzt war der Installateur, der sonst immer sofort zur Verfügung stand, in Urlaub. Nach einiger Anstrengung gelang es ihr, einen anderen zu finden. Zunächst besprach sie die Konditionen mit ihm, denn diese musste sie dem Wohnungseigentümer gegenüber vertreten können. Weiterhin kam sie nicht umhin, direkt in die Wohnung zu fahren, um sich den Schaden vor Ort anzusehen, und durch Fotos zu belegen. Normalerweise verließ sie sich dabei auf ihren Hausinstallateur, der die Fotos machte und ihr zusandte. Dieses Mal musste sie selbst vor Ort erscheinen.

    Nachdem Ulla einen Kaffee getrunken hatte, die Katzen näher kennenlernen durfte und mit Woody gespielt hatte, fragte sie Nora, ob sie den Welpen mit auf einen Spaziergang durch den Ort nehmen durfte. Nora fand, das sei eine gute Idee. Sie zog ihm sein Geschirr an und drückte Ulla die Leine in die Hand. Beide zogen los und Nora blickte ihnen lächelnd hinterher. Dann machte sie sich auf den Weg zu der Wohnung mit dem Wasserrohrbruch.

    ***

    Ulla fand, dass Nora sich eine sehr hübsche Gegend in Deutschland zum Leben ausgesucht hatte. Die sanften Hügel, das intensive Grün, die alten Fachwerkstädtchen und die dichten Wälder stellten gleichzeitig einen Kontrast dar und strahlten trotzdem Harmonie aus. Das Einzige, was fehlte, war Wasser. Ein schöner breiter Fluss würde das

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